EU: Mehr demokratische Beteiligung durch die Europäische Bürgerinitiative?

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die in Art. 11 Abs. 4 des  Vertrags über die Europäische Union als neues Unionsbürgerrecht verankert ist, verleiht den Unionsbürger/innen eine Agendasetzungsmacht auf EU-Ebene. Ab einer Million Unterschriften können sie die Kommission auffordern, einen Rechtsakt zu einem Thema vorzuschlagen, das ihrer Meinung nach einer EU-Regelung bedarf. Damit ist nicht nur das erste transnationale Instrument direkter Bürgerbeteiligung geschaffen, sondern die EU auch fortschrittlicher als viele ihrer Mitgliedstaaten geworden, die zum Teil keine direkte Bürgerbeteiligung kennen. Allerdings bleibt das Monopol der Kommission zur Gesetzesinitiative unberührt und die EBI hat rein auffordernden Charakter.

Die EBI: eine Brücke zwischen Bürger/innen und Politiker/innen?

Auch wenn Expertenkreise derzeit mit Begeisterung über die Probleme der EBI diskutieren, sollten die Errungenschaften nicht vergessen werden: nämlich die Stärkung der EU-Demokratie. Dass sie als Kompromiss zwischen Befürworter/innen und Gegner/innen direkter Demokratie in den Vertrag über eine Verfassung für Europa aufgenommen wurde, unterstreicht dies ebenso wie die im Rahmen des Konsultationsverfahrens geäußerten Erwartungen. Sie lassen sich mit dem Bild der „Brücke zwischen Bürgern und Politikern“ zusammenfassen. Doch kann sie diese Erwartungen erfüllen?

Stärkt die EBI die europäische Öffentlichkeit?

Um genügend Unterstützer/innen zu finden und politischen Druck auszuüben, muss eine EBI Öffentlichkeit erzeugen: Die Debatte muß transnational, in mindestens sieben Mitgliedstaaten, geführt werden und damit zwangsläufig einen Beitrag zu einer europäischen Öffentlichkeit leisten. Versteht man Öffentlichkeit allerdings als einheitliche Gemeinschaft, in der alle Aktivbürger/innen an einer Debatte teilnehmen, so wird die EBI an zu hohen Erwartungen scheitern. Zu erwarten ist jedoch, dass Interessierte Teil einer transnationalen Debatte zum Gegenstand einer EBI werden, und sich somit entlang der Themen „transnationale Diskursräume“ (1) bilden. Dies ist ein Schritt zur Stärkung der EU-Demokratie.

Kann die EBI neue Akteure und Akteurinnen für EU Politik gewinnen?

Auch wenn juristische Personen nicht Mitglied im Bürgerausschuss sein können, sind doch Ressourcen und Strukturen von Organisationen nötig, um eine EBI zum Erfolg zu führen. Deshalb wurde die EBI kritisiert, kein wahres Unionsbürgerrecht und keine Demokratie „von unten“ zu sein. Wenn Graswurzelorganisationen sich zwingend im Park treffen müssen, dann ist diese Kritik berechtigt. Aber auch bei einem weniger strikten Maßstab wäre die Kritik im Kern angemessen, wenn das Instrument der EBI nur von auf EU-Ebene etablierten Akteuren genutzt würde. Die Praxis der 16 registrierten Initiativen zeigt jedoch, dass sie meist von Akteurskoalitionen aus auf EU-Ebene etablierten aber auch lokal aktiven Organisationen unterstützt werden. Bei Letzteren ist ein Europäisierungseffekt zu erwarten: im Sinne, dass sie sich stärker europaweit vernetzen sowie ihre Wahrnehmung für EU-Politik zunimmt. Auch diese Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft ist ein Beitrag zur weiteren Demokratisierung der EU.

Stärkt eine EBI bei ihren Unterstützern den Bezug zu Europa?

Das Unionsbürgerrecht beinhaltet nicht nur das Recht eine EBI zu organisieren, sondern auch eine laufende EBI zu unterstützen. Macht ein/e Bürger/in davon Gebrauch, ist zu erwarten, dass er/sie das unterstützte Thema in den Medien weiter verfolgt und ihr persönlicher Bezug zur Europapolitik wächst. Hiergegen ist eingewendet worden, dass dies hauptsächlich für bereits politisch aktive Bürger/innen gilt. Instrumente partizipativer Demokratie seien wenig geeignet, politisch Desinteressierte zur Beteiligung anzuregen. Dies ist in der Tat ein ernstzunehmendes Problem, das aber nicht die EBI im Besonderen auszeichnet, sondern für alle Formen demokratischer Beteiligung gilt. Hinzu kommt, dass angesichts zunehmender Europaskepsis bereits ein größeres Europabewusstsein in Teilen der Gesellschaft eine Stärkung der europäischen Demokratie bedeutet.

Die laufenden Initiativen und ihre (potenziellen) Effekte auf die EU-Politik

Die genannten Potenziale werden sich nur entfalten können, wenn die EU-Organe die Anliegen der Initiativen erstnehmen. Trotz der Befürchtung, die Kommission werde aus Angst, ihr Initiativmonopol zu gefährden, nicht auf Bürgerinitiativen eingehen, scheint sich anderes anzudeuten. Angesichts der geringen Fallzahl von 16 registrierten Initiativen sowie der Tatsachen, dass bislang nur die EBI „right2water“ alle Quoren erfüllt hat und dass der Kommission noch keine EBI abschließend vorgelegt wurde, sind Verallgemeinerungen mit höchster Vorsicht zu diskutieren. Derzeit scheinen sich zwei Muster abzuzeichnen:

Das erste Muster zeigt sich bei Initiativen, die keinen Konflikt zwischen der Kommission und den Organisator/innen der EBI bergen. Hier scheint sich die Kommission im vorauseilenden Gehorsam Initiativen zu eigen zu machen. Dies zeigt das Beispiel der Initiative „Single Communication Tariff Act“, deren wichtigste Ziele die „Abschaffung der Roaming-Gebühren in der Europäischen Union“ und die „Vollendung des Binnenmarktes für alle Mobilfunkkunden in der EU“ sind. Genau diese Anliegen verkündete Neelie Kroes, Kommissarin für die Digitale Agenda, am 30. Mai 2013 in ihrer Rede im Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments als Ziele der Kommission.

Das zweite Muster zeigt sich bei der ersten erfolgreichen EBI „right2water“, die sich u.a. gegen die Anwendung der Binnenmarktregeln auf die „Bewirtschaftung der Wasserressourcen“ richtet und damit den Zielen des Kommissionsvorschlags für eine Richtline über die Konzessionsvergabe entgegen steht.

Nach einem Bericht des politischen Magazins „Monitor“ (Dezember 2012) und einem Sketch des Kabarettisten Erwin Pelzig in der Sendung „Neues aus der Anstalt“ (Januar 2013) wurden die EBI und der Richtlinienentwurf in der öffentlichen deutschen Debatte auf die Frage verkürzt: „Privatisierung des Wassers: ja oder nein?“ Dies wird weder der EBI, die mehr Ziele verfolgt, noch dem Richtlinienentwurf gerecht, der keinen Zwang zur Privatisierung, sondern für den Fall einer geschehenen Privatisierung EU-weite Ausschreibung von Konzessionen vorsieht. Für Kommunen, die keine Konzessionen an private Akteure vergeben, kommt die Richtlinie nicht zur Anwendung.

Zwar geht die Zuspitzung an der Sachfrage vorbei, sie bringt aber grundlegende Befürchtungen der Unionsbürger/innen zum Ausdruck, die über die Konzessionsvergabe und Wasserbewirtschaftung hinausgehen. Dadurch wurde eine breitenwirksame öffentliche Debatte in einigen Ländern Europas angestoßen, die in der Europapolitik selten stattfindet und Bürgerinitiativen den notwendigen politischen Druck verleihen. Auf den öffentlichen Druck hin kündigte EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier schließlich am 21. Juni 2013 in einer Pressemitteilung an, die Wasserwirtschaft aus dem Anwendungsbereich der Richtlinien nehmen zu wollen.

Betrachtet man die EU als ein System des Mehrebenenregierens, das seine Legitimität aus der deliberativen Qualität seiner Entscheidungsprozesse zieht, stellt diese Politisierung von Sachfragen ein Problem dar, weil die Zuspitzung der Themen zu einer Verkürzung und Pauschalisierung der Debatte führt. Sieht man die EU jedoch auf dem Weg zum parlamentarischen Regierungssystem, so hat die Initiative „right2water“ gezeigt, dass die EBI als Instrument der Bürgerbeteiligung diese Entwicklung unterstützen kann. Nun liegt es jedoch an den Akteuren in den EU-Organen mit der Politisierung und legitimen Zuspitzung europapolitischer Fragen umzugehen.


(1) Knaut, Annette/Keller, Reiner 2012: Die Entstehung transnationaler Diskursräume durch die Europäische Bürgerinitiative, in: Forschungsjournal Soziale Beziehungen: Die Europäische Bürgerinitiative. Beschäftigungstherapie für das Volk?, Jg. 25, Nr. 4, S. 37-47