Notizen aus der europäischen Provinz

Ist es Europas Schicksal, in einer Welt, in der sich seine vormaligen Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika zu bedeutenden regionalen Mächten entwickelt haben, nurmehr Provinz zu sein? Wenn sich das wirtschaftliche Gleichgewicht Richtung Osten verschiebt und kulturelle wie gesellschaftliche Entwicklungen sich weitgehend außerhalb Europas ereignen, welche Zukunft kann dann unser Kontinent noch haben? Von außen gesehen scheint Europa ein altes, starres Gebilde zu sein, gelähmt von Sparpolitik und erschüttert durch populistische und nationalistische Bewegungen. Wird Europa unvermeidlich zur Provinz? Und, so nicht, wie lässt sich eine derartige Entwicklung verhindern?

Europa im Abseits

Gegenwärtig hat die EU mit zwei Herausforderungen zu kämpfen, die miteinander im Zusammenhang stehen – die eine ist wirtschaftlicher, die andere politischer Natur. Der moderne europäische Nationalstaat entstand als Kompromiss zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Wesentlich gestaltet wurde er von einerseits liberalen Kräften, die für die Freiheit des Einzelnen von jeder übergeordneten Autorität – sei es die Kirche, sei es der Staat – kämpften, und andererseits waren es sozialistische Kräfte, für die soziale Gerechtigkeit im Vordergrund stand. Ihren Ausdruck fanden diese Kräfte in christlichen und linken Bewegungen. Entsprechend historisch bedingt ist der Nationalstaat – und neue historische Verhältnisse bedeuten, dass heute wesentliche Bestandteile, seien es Identität, Demokratie oder soziale Gerechtigkeit, neu bestimmt werden. Auf eben diese Neubestimmung von wesentlichen Bestandteilen des modernen Nationalstaats geht die EU zurück, und wichtige Ereignisse, die dies zum Ausdruck brachten, waren der Zweite Weltkrieg und die Dekolonisation. Später dann, ab 1989, führten der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion zu einer vertieften europäischen Einigung, was sich in der deutschen Wiedervereinigung und der EU-Osterweiterung ausdrückte. Zur gleichen Zeit stellte die Globalisierung die Einigung Europas vor neue Herausforderungen, da der weltweite Handel wuchs und Völkerrecht sowie zwischenstaatliche Regelungen immer wichtiger wurden. Die größte Aufgabe, die sich der EU seither stellt, ist es, ein neues Gleichgewicht herzustellen zwischen Freiheit einerseits und andererseits europaweiter sozialer Gerechtigkeit. Protektionismus auf nationaler Ebene, wie er, vor dem Hintergrund der Eurokrise, vermehrt von Parteien und politischen Bewegungen gefordert wird, hat große Schwächen, worauf nicht zuletzt der globalisierte Charakter der Wirtschafts- und Rechtssysteme hinweist. Inwieweit können sich heute die Nationen Europas überhaupt noch vor Standortverlagerung und Börsenspekulation schützen? Und: Ist es möglich, die europäische Einigung den EU-Bürgern gegenüber zu legitimieren, wenn gleichzeitig die EU nicht dazu in der Lage ist, für Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu sorgen? Die beiden konkreten Herausforderungen, mit denen die EU hier zu kämpfen hat, sind Populismus und Arbeitslosigkeit. Ich werde im Folgenden auf die Arbeitslosigkeit eingehen.

Protektionismus als Sackgasse

Eurostat zufolge hatten die Euro-Länder im August 2013 eine Arbeitslosenquote von 12 Prozent, die EU-28 von 10,9 Prozent. Zum selben Stichtag erreichte die Jugendarbeitslosigkeit 23,3 Prozent innerhalb der EU-28 und 23,7 Prozent in den Euro-Ländern. Von Land zu Land unterscheiden sich die Arbeitslosenquoten dabei teils erheblich. In Spanien beispielsweise war 26,2 Prozent der Bevölkerung ohne Arbeit, in Deutschland waren es nur 5,2 Prozent. Zwei Fragen stellen sich heute. Die erste ist, ob die europäische Einigung und der Euro noch als legitim wahrgenommen werden können, wenn sie nicht dazu beitragen, die Arbeitsmarktkrise in den Mitgliedsstaaten zu lösen. Wie lassen sich Opfer rechtfertigen, die allein darauf zielen, Haushaltsdefizite abzubauen? Oder anders gesagt: Die EU wird ihren Bürgerinnen und Bürgern auch konkrete soziale Rechte geben müssen, denn andernfalls wird sich Unterstützung für die EU-Einigung, sei sie nun aktiv oder passiv, nicht gewinnen lassen. Wie groß die Distanz zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern bereits ist, zeigt sich am Erfolg anti-europäischer, rechter, fremdenfeinlicher und populistischer Parteien wie beispielsweise der Goldenen Morgenröte in Griechenland oder der Front National in Frankreich. Wenn Bürgerinnen und Bürger, Arbeiterinnen und Arbeiter erfahren müssen, dass sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern, ihre sozialen Rechte ausgehöhlt werden, wie sollen sie dann dazu beitragen, die Demokratie auf einzelstaatlicher oder auf EU-Ebene auf festere Beine zu stellen? Kann das europäische Projekt nachhaltig sein, wenn ihm jede Aussicht fehlt, dass die Jugend einmal in besseren, gerechteren Verhältnissen leben wird?

Die zweite Frage, die sich unausweichlich stellt, ist die des wachsenden Ungleichgewichts zwischen Europas Norden und Süden. Gibt es, was die Ungleichheiten in den Bereichen Innovation, Forschung und Wachstum angeht, eine Schwelle die, wird sie überschritten, den Zerfall der EU oder zumindest des Eurogebiets auslöst? Und, sollte es dazu kommen, was wird dann bleiben? Ist es realistisch, die Rückkehr zu einem Europa von Einzelstaaten zu fordern?

Modell für ein sozialeres Europa

Ein Ansatz, um innerhalb der EU für mehr soziale Gerechtigkeit und Legitimität sowie für nachhaltiges Wachstum zu sorgen, ist der Ansatz einer europaweiten Arbeitslosenversicherung. Am 2. Oktober 2013 gab die Europäische Kommission eine Erklärung heraus, in der es um die sozialen Aspekte der Europäischen Währungsunion ging (COM(2013) 690 provisoire). Es ist ein entscheidender Bestandteil der Währungsunion – und auch des EU-Wirtschaftraums als Ganzem – Missverhältnisse zwischen den Mitgliedsstaaten der Währungsunion durch einheitliche Instrumente auszugleichen. Entsprechend fordert die Kommission, dass „die Union aktiv und mit finanziellen Mitteln gegen Arbeitslosigkeit (einschließlich Jugendarbeitslosigkeit) und soziale Notlagen vorgeht – und zwar auf wirksame und nachhaltige Weise.“ Eine Möglichkeit, dies zu tun, wäre eine europaweite Arbeitslosenversicherung, so wie es Sebastian Dullien der EU-Kommission vorgeschlagen hat. Ein solcher Ansatz würde bedeuten, dass „empfangsberechtigte Einzelpersonen in den Mitgliedsstaaten Leistungen aus einer europäischen Arbeitslosenversicherung beziehen könnten und dies durch Beitragszahlungen aus den Löhnen versicherter Beschäftigter finanziert würde. Für die Höhe der Leistungen gäbe es eine einheitliche Mindestgrenze (entsprechend des Lohnniveaus des jeweiligen Mitgliedsstaats), und dies könnte durch einzelstaatliche Versicherungslösungen aufgestockt werden“ (Dullien: Papier für die EU-Kommission, 2012). Verschiedene Aspekte dieses Papiers kann man erörtern, beispielsweise die Frage der Mindestgrenze. Zudem würde ein solcher Ansatz dazu beitragen, Instrumente für größere soziale Gerechtigkeit innerhalb des Eurogebiets neuerlich zu thematisieren und die gesellschaftliche und demokratische Legitimität des europäischen Projekts zu stärken. Ein anderer entscheidender Punkt, auf den die EU-Kommission eingeht, ist die Frage der Mobilität innerhalb der EU. Der Anteil der EU-Bürgerinnen und -Bürger, die in einem anderen EU-Staat arbeitet, ist aktuell immer noch sehr gering. Den Angaben der EU-Kommission zufolge arbeiten innerhalb des Eurogebiets derzeit weniger als 4 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in einem anderen Mitgliedsstaat. Was die Jugendarbeitslosigkeit angeht, hat die EU 2013 eine Jugendbeschäftungs-Initiative mit einem Budget von sechs Milliarden Euro aufgelegt – und eines der Ziele dieser Maßnahme ist es, die grenzüberschreitende berufliche Mobilität zu fördern.

Kein Mensch ist eine Insel

Maßnahmen, die darauf zielen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb der EU und des Eurogebiets zu stärken, sind von entscheidender Bedeutung, will man den Zusammenbruch des Euros und eine Inflation anti-europäischer und populistischer Bewegungen in Europa verhindern. Tatsächlich sind die einzelstaatliche und die europäische Ebene derart eng miteinander verzahnt, dass sich die Vorstellung, soziale Rechte ließen sich allein auf nationaler Ebene verteidigen, rasch als Illusion erweist. Die Vorstellung, berufstätige Bürgerinnen und Bürger bildeten eine einheitliche Gruppe, ist das Produkt einzelner sozialstaatlicher Systeme und etwas, das sich heute nicht nur in Europa sondern weltweit grundlegend verändert. Migration spielt hierbei sicher eine entscheidende Rolle. Ein ähnliches Bündnis wird sich heute nurmehr auf regionaler oder kontinentaler Ebene von Neuem wieder herstellen lassen, wozu andere miteinbezogen werden müssen, das heißt, Angehörige anderer EU-Staaten aber auch Menschen von außerhalb der Union. Allein so lässt sich vermeiden, dass Europa in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Provinzialität versinkt.

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Der Beitrag wurde von Bernd Herrmann aus dem Englischen übersetzt.