Schiefergas in der Ukraine

Die Nutzung von heimischen Schiefergasvorkommen erscheint für die Ukraine zunächst aus mehreren Gründen vorteilhaft. Die Energieversorgung des Landes beruht in hohem Maße auf Atomkraft, Kohle und Gas. Aufgrund der vielfach analysierten Vertragslage und der spezifischen Marktsituation ist die Ukraine derzeit gezwungen, in erheblichem Maße Gas aus Russland einzukaufen und dafür einen Preis zu zahlen, der erheblich über den Preisen liegt, den andere europäische Gaskunden an Russland zahlen. Wäre die Ukraine in der Lage, mittels preiswert nutzbarer eigener Schiefergasvorkommen die heimische Gasförderung zu erhöhen, so gewänne die ukrainische Volkswirtschaft dank niedriger Energiekosten an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen und somit auch das politische Erpressungspotenzial des großen östlichen Nachbarn würden reduziert. Ganz große Optimisten sehen die Ukraine mittelfristig sogar zum Gasexporteur aufsteigen.

Die zweifellos bestehenden Umwelt- und Gesundheitsrisiken aus der Schiefergasförderung mittels der umstrittenen Fracking-Technologie nehmen Befürworter – so sie sie überhaupt als Risiken bewerten – mit Verweis auf andere Energieträger in Kauf. Sowohl im Vergleich zur landschaftszerstörerischen Kohleförderung und der damit einhergehenden Luft- und sonstigen Umweltverschmutzung als auch im Vergleich mit der aus vielerlei anderen Gründen problematischen Atomenergie, seien die Belastungen durch das Fracking bei Anwendung moderner Technologien relativ gering und müssten akzeptiert werden. Auch für Strategien der mittel- bis langfristigen Umstellung der Energieversorgung auf Erneuerbare sei für eine Übergangszeit die Entwicklung von Gasressourcen erforderlich, sowohl um möglichst schnell auf Kohle und Atom verzichten als auch bei erheblich schwankender Stromerzeugung aus Wind und Photovoltaik mit flexiblen Gaskraftwerken die Versorgungssicherheit gewährleisten zu können. 

Umweltbelastende Technologie

Die Förderung von Schiefergas erfolgt mit der Technologie des so genannten Hydraulic Fracturing oder auch nur „Fracking“. Das Schiefergas ist in tief liegenden Gesteinsschichten eingeschlossen, in die, von einer vertikalen Bohrung ausgehend, horizontal hineingebohrt wird. Unter hohem Druck löst ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien das Gas aus dem Gestein und presst es durch das Bohrloch nach oben. Schon seit den 1960er Jahren wurde u.a. in der Sowjetunion zur Optimierung der konventionellen Öl- und Gasförderung teilweise Wasser mit hohem Druck in die Bohrlöcher gepumpt. Fachleute streiten sich, inwiefern das Fracking zur Schiefergasförderung in den horizontalen Bohrungen und mit komplexeren Chemikaliencocktails und höherem Druck nun fundamental anders zu bewerten ist als die jahrzehntelange Praxis.

Unumstritten ist aber, dass die Schiefergasförderung tausende Bohrungen in einer großen Dichte erforderlich macht. Entsprechend multiplizieren sich Umweltbelastungen, die Mengen des benötigten Wassers und der eingesetzten Chemikalien. Da die Förderraten einer Bohrung geologisch und technologisch bedingt sehr schnell sinken, wird aus jedem Loch in der Regel nur 12 bis 18 Monate Gas gefördert. Sowohl im Gestein in der Tiefe als auch am Bohrloch an der Erdoberfläche bleiben erhebliche Mengen verseuchten, teilweise radioaktiv belasteten Wassers zurück. Die Belastung der unmittelbaren Umwelt durch die Schiefergasförderung ist somit sehr groß.

Andererseits gilt Gas im Vergleich zu Kohle und Öl als klimaschonende Energiequelle, da bei der gasbasierten Strom- oder Wärmeerzeugung weniger Kohlendioxid entsteht. Dieser Klimaschutzvorteil relativiert sich jedoch sehr stark oder verkehrt sich sogar ins Gegenteil, wenn sowohl der hohe Ressourceneinsatz für das Fracking als auch die flüchtigen Methangasemissionen aus den Bohrungen mit einkalkuliert werden. Da Methan um ein Vielfaches klimawirksamer ist als Kohlendioxid, ist z.B. nach Berechnungen der Cornell University, New York, von 2011 von einer mindestens um 20% schlechteren Klimabilanz des Schiefergases im Vergleich zu Kohle auszugehen, wenngleich flüchtige Emissionen naturgemäß schwer messbar und die Zahlen somit umstritten sind. Industrienahe Quellen geben Verluste von bis zu 3% der gesamten Förderung aus einem Bohrloch an, Friends of the Earth Europe spricht von bis zu 12%.

Erkundung und politischer Prozess in der Ukraine

Nutzbare Schiefergasvorkommen werden im Westen der Ukraine im Oleska-Feld in der Region Ivano-Frankivsk-Lemberg, im Osten im Yusifska-Feld zwischen Kharkiv und Donetsk sowie unter dem Schwarzen Meer vermutet. US-amerikanische Voruntersuchungen gehen insgesamt von etwa 1200 Mrd. Kubikmetern förderbarer Reserven in der Ukraine aus. In Polen, Ungarn und den Niederlanden haben sich vergleichbare Schätzungen aber als vollkommen überhöht herausgestellt: in Polen mussten sie etwa auf ein Zehntel korrigiert werden. Internationale Konzerne haben sich von der Ausbeutung dieser Vorkommen mangels Wirtschaftlichkeit zurückgezogen. Übertragen auf die Ukraine würde dies bedeuten, dass die Schiefergasreserven lediglich etwa zwei Jahresverbräuchen des Landes entsprechen würden. Solange Probebohrungen nicht konkretere Daten liefern, sind diese Zahlenspiele jedoch spekulativ. 

Das erste Product Sharing Agreement (PSA) zur Schiefergasförderung im Yusifska-Feld wurde im Januar 2013 zwischen der ukrainischen Regierung, dem Konzern Shell und dem ukrainischen Partner Nadra geschlossen. Einbezogen ist eine Fläche in etwa von der Größe des Saarlandes, gelegen in den Gebieten Kharkiv und Donetsk. Probebohrungen stehen kurz bevor. Der zweite Vertragsabschluss mit Chevron über die Förderung im Oleska-Feld steht noch aus. Das Vorhaben im Schwarzen Meer steht unter der Regie von Exxon Mobil, Shell ist hier lediglich finanziell beteiligt. Shell und Chevron planen zunächst Investitionen von 150 Mio bzw. 260 Mio Euro für die Erkundungsbohrungen und stellen im Erfolgsfall Milliarden-Investitionen und Arbeitsplätze in Aussicht. 

Geheimverträge

Die Details der Abkommen mit einer Laufzeit von 50 Jahren sind geheim, offenbar vor allem auf Betreiben der ukrainischen Regierung. Eine durchgesickerte Entwurfsversion des PSA mit Chevron lässt allerdings bei damit befassten zivilgesellschaftlichen Gruppen die Alarmglocken läuten. Demnach dürfen die Investoren unbegrenzt Wasser, Sand und Gestein für ihre Aktivitäten nutzen und sind von der Zahlung von Steuern und Abgaben an die Kommunen weitgehend befreit. Nicht einmal zur Offenlegung von Emissionsdaten wären sie verpflichtet. Das Gebietsparlament von Ivano-Frankivsk verweigerte bei seiner ersten Befassung damit seine Zustimmung und sendete die Vorlage an die Nationalregierung zurück. Bei der zweiten Abstimmung im September stimmte die Mehrheit der Abgeordneten dann zu. Abgeordnete sahen sich massivem Druck ausgesetzt. Am 4. Oktober 2013 billigten nach langer Debatte dann auch 66 von 95 Abgeordneten des Lemberger Gebietsparlaments das PSA, so dass es nun vermutlich bald zum Vertragsabschluss kommen wird. Die Fraktion der nationalistischen Partei Svoboda verweigerte die Zustimmung. Chevron investierte im Vorfeld Millionen in eine PR-Kampagne in der Region. 

Im Mai 2013 fand im Ausschuss für Umweltpolitik und Ressourcennutzung der Verkhovna Rada, dem ukrainischen Parlament, eine öffentliche Anhörung zur geplanten Schiefergas-Förderung statt. Dies kann als Erfolg der Nichtregierungsorganisationen (NRO) gewertet werden, die Schiefergasplänen kritisch gegenüber stehen – auch wenn zu diesem Zeitpunkt das erste PSA mit Shell längst unterschrieben war. Nicht oft gibt es für sie die Möglichkeit, sich im Parlament Gehör zu verschaffen. Treibende Mitstreiterin war wiederum eine Abgeordnete der Svoboda-Partei aus Lemberg.

In den betroffenen Regionen bewirkten die Aussichten auf Schiefergasförderung eine vergleichsweise starke Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Groß ist die Sorge um Qualität von Trinkwasser und Mineralquellen, sonstige Umweltverschmutzung, Haftung für entstehende Schäden und schwindende touristische Attraktivität der Regionen. Eine Gesetzgebung, die Schiefergasförderung reguliert, fehlt komplett in der Ukraine. Eine Arbeitsgruppe der Kharkiver „Selenyi Front“, einer lokalen Umwelt-NRO, erarbeitete einen internationalen Vergleich einschlägiger Rechtsnormen. Damit aber bis in die verantwortlichen Ministerien durchzudringen ist schwer. Ein Beratungsgremium im Umweltministerium mit Beteiligung von Umweltorganisationen sei laut Aussage eines Aktivisten kürzlich aufgelöst und mit unkritischen Personen neu besetzt worden. Einem kritischen Monitoring der Gasförderung durch die Behörden fehlt das Vertrauen der Öffentlichkeit. Unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen können das aus Mangel an Ressourcen und Zugang zu Daten etc. nicht kompensieren. 

Ökonomisch fragwürdig

Ob es zu signifikanter Schiefergasförderung in der Ukraine kommt, hängt aber vermutlich vor allem an weiteren ökonomischen Kriterien, selbst wenn die Erkundungsbohrungen erfolgreich sein sollten. Ein Gas-Boom wie in den USA ist keinesfalls zu erwarten. Die geologischen Bedingungen und die relativ hohe Bevölkerungsdichte in den potenziellen Fördergebieten machen die Ausbeutung der vorkommen noch kapitalintensiver als in Amerika. Die Vorkommen liegen tiefer als in Pennsylvania oder Dakota. Das macht die Bohrungen erheblich teurer und erhöht den Energiebedarf für das Fracking enorm. Die Wirtschaftlichkeit eines Standortes hängt aber auch von der Größe eines Vorkommens, von der Verfügbarkeit von Wasser und vom Vorhandensein sonstiger Infrastruktur, etwa für den Gastransport, ab.

Nicht nur in der Ukraine, sondern in Europa allgemein, fehlt es an der nötigen technischen Ausstattung, um die erforderliche Vielzahl der Bohrungen umsetzen zu können. Nicht zuletzt fehlt auch ausreichend qualifiziertes Personal, um die Technologie fachgerecht einzusetzen. In anderen Worten: es bräuchte Zeit und gigantische Investitionen, um die Branche überhaupt zu entwickeln. Ohne massive staatliche Subventionen wird es nicht gehen, wie auch wiederum das polnische Beispiel zeigt. Eine Studie des Mannheimer Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW zweifelt an, dass europäisches Schiefergas zu wettbewerbsfähigen Preisen auf den Markt gebracht werden kann. Der Aufbau einer Schiefergas-Industrie würde die Ukraine zudem für Jahrzehnte an die Gasnutzung binden und Anreize für Energieeinsparungen verringern, da sich die massiven Investitionen sonst nicht lohnten. Wenn Erdgas eine Brückenfunktion auf dem Weg zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft spielen kann, dann muss es konventionell gefördertes Gas sein. Es ist preiswert genug und weltweit noch mehr als ausreichend vorhanden. 

Die Energieintensität der ukrainischen Volkswirtschaft ist zweieinhalb Mal höher als in Deutschland. Dieser Wert zeigt das Potenzial, das in der Steigerung der Energieeffizienz in der Ukraine steckt. Von der Notwendigkeit staatlicher Subventionen für die Schiefergasförderung ausgehend, muss ein direkter Zusammenhang zu Programmen für Energieeffizienz und Erneuerbare Energien angenommen werden. Letztlich besteht eine Konkurrenz um dieselben staatlichen Mittel. Somit ist von einer Verlangsamung der Transformation zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft durch die Schiefergasnutzung auszugehen. Dabei würde eine Senkung des Gasverbrauchs des Landes mindestens ebenso die Abhängigkeit von russischen Lieferungen verringern wie die Eigenförderung. Ohnehin stehen der Ukraine andere Wege zur mittelfristigen Reduzierung der energetischen Abhängigkeit von Russland offen. Schon praktiziert werden Re-Importe von Gas aus der EU zu günstigeren Preisen. Aus dem arabischen Raum per Schiff angeliefertes Gas wäre eine weitere Option mit weit weniger unbekannten Variablen als die Schiefergasförderung.