Dynamiken in Aufnahme- und Herkunftsfamilien

Was lehrt uns der Anstieg der Care Migration? Der Pflegenotstand in Deutschland geht weit über einen Fachkräftemangel hinaus. Dies war eines der zentralen Ergebnisse der Tagung „Deutschland im Pflegenotstand – Perspektiven und Probleme der Care Migration“, die auch die individuelle Perspektive der betroffenen Akteure sowohl in den Aufnahme- als auch in den Herkunftsfamilien in den Blick nahm.

Die Beschäftigung von Migrant/innen als sogenannte „Live-Ins“ im eigenen Haushalt illustriert den Wunsch eines Großteils der deutschen Bevölkerung die Versorgung im Alter in der eigenen Häuslichkeit und familiär zu regeln, sie bei gleichzeitig steigendem Bedarf an Dritte zu delegieren. Dieser Bedarf ergibt sich u.a. in Folge steigender Erwerbstätigkeit von Frauen, denen noch immer primär die Verantwortung für Pflegetätigkeiten zuteilwird.

Auf der Suche nach einer unbürokratischen, bezahlbaren und individuellen Lösung greifen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen immer öfter auf die Hilfe von Migrant/innen, v.a. Frauen aus ost- und mitteleuropäischen Ländern, zurück. Dabei sind ihnen rechtliche Rahmenbedingungen für eine legale Beschäftigung oft unzureichend bekannt und ihre Rolle und Verantwortung als Arbeitgeber/in nur wenig bewusst. Der Ausbau und die leichtere Zugänglichkeit von Beratungsangeboten im Pflegefall durch Case- und Care-Management, sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, z.B. durch Arbeitszeitverkürzungen und Pflegezeiten, können Alternativen zur Beschäftigung von Migrant/innen stärken.

Geschätzte 100.000 bis 150.000 Migrant/innen arbeiten im Graubereich zwischen legaler und illegaler Beschäftigung als Pflege- und Haushaltskräfte in Deutschland, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien im Herkunftsland beizutragen. Als zentrale Probleme wurden in diesem Zusammenhang prekäre Beschäftigungsverhältnisse, soziale Isolation, fehlende Ansprechpartner/innen im Konfliktfall, Degradierungserfahrungen und Belästigung sowie die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit diskutiert.

Handlungsbedarf besteht vor allem in der Erhöhung der Handlungsfähigkeit der Migrant/innen. Dies muss nicht nur auf rechtlicher Ebene bezüglich der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse erfolgen, um Alternativen auf dem formalen Arbeitsmarkt zu öffnen. Vor allem mangelt es bisher an leicht zugänglichen, verständlichen Informationen über bestehende Rechte in Deutschland. Informationskampagnen und der Ausbau muttersprachlicher Beratungsangebote können wichtige Ansatzpunkte sein sowie die stärkere Vernetzung der Frauen, um gemeinsam Missstände öffentlich und Rechte geltend zu machen. In diesem Zusammenhang wurde auch das Potenzial sozialer Onlinenetzwerke unterstrichen.

Darüber hinaus hat Care Migration Auswirkungen auf die Familien in den Herkunftsländern. Dort muss - v.a. während der Abwesenheit der Mütter bzw. Töchter - die Betreuung und Versorgung von Kindern und pflegebedürftigen Eltern organisiert werden, was zu Versorgungsketten (sog. Care Chains) führt. Im Kontext transnationaler Mutterschaft versuchen viele Frauen, auch im Ausland unter Nutzung moderner Telekommunikation ihre Mutterrolle auszufüllen. Hier wird ihr Dilemma deutlich, einerseits die finanzielle Situation der Familie und die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder durch eine Erwerbstätigkeit im Ausland verbessern zu wollen, andererseits ihre Kinder als „gute Mutter“ selbst mit zu betreuen. Selbstvorwürfe werden in den Herkunftsländern auch auf gesellschaftlicher Ebene genährt: Nicht selten werden in der Öffentlichkeit Vorwürfe laut, die Frauen würden ihre Kinder als „Eurowaisen“ im Stich lassen. Dieses Mother-blaming lässt nicht nur außer Acht, dass die Migration der Frau oft eine gemeinsame Entscheidung der Familie ist, sondern zeigt außerdem, dass auch im Herkunftsland vor allem Frauen die Verantwortung für Pflegetätigkeiten zugeschrieben wird.

Dass die Diskussion um den Pflegenotstand generell ein stärkeres Hinterfragen der vorherrschenden Geschlechterrollen bedarf, wurde sowohl in der Betrachtung der Situation in den Herkunfts- als auch in den Aufnahmefamilien deutlich. Pflege ist noch immer weiblich. In Deutschland geben die Töchter und Schwiegertöchter die Pflegearbeit an Frauen aus dem Ausland weiter. Dies wirft nicht zuletzt die Frage auf, inwiefern die Emanzipation deutscher Frauen auf Kosten zum Teil hochqualifizierter Migrantinnen geht, statt für eine steigende Beteiligung der Männer in der Pflege zu sorgen. Gleichzeitig weicht Care Migration von Frauen auch die Rollenverhältnisse im Herkunftsland nicht auf. Dort werden Pflegeaufgaben häufig an weibliche Familienangehörige weitergegeben, statt die Väter und Söhne stärker in die Verantwortung zu ziehen. Eine größere Geschlechtergerechtigkeit kann sowohl im Herkunfts- als auch im Zielland der Care Migration als Potenzial gesehen werden, die „Ressource Mann“ in der Pflege zu stärken. Dies muss mit einer gesellschaftlichen Aufwertung von Pflege einhergehen, die bereits im Bildungssystem ansetzt und die Bereitschaft von Männern erhöht, Pflegetätigkeiten sowohl als pflegender Angehöriger oder Ehrenamtlicher, als auch durch Ergreifen eines entsprechenden Berufes zu übernehmen.

Auf der Tagung wurde kontrovers diskutiert, ob Care Migration ein Teil der Lösung oder Teil des Problems des deutschen Pflegenotstandes sei. Einigkeit herrschte jedoch darin, dass Care Migration Missstände aufzeigt, wie Pflege hierzulande betrachtet, diskutiert und organisiert wird. Es besteht hoher Bedarf an einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs darüber, wie wir uns das Leben im Alter vorstellen - mit einem ganzheitlichen Blick auf die Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen. In diesem Diskurs gilt es vor allem zu klären, in welchem Verhältnis Care Arbeit und Erwerbsarbeit zueinander stehen (und stehen sollen) und wie familiäre und zivilgesellschaftliche Alternativen zur institutionellen Pflege und zur illegalen Care Migration gefördert werden können. Da Care Migration in Deutschland jedoch eine gesellschaftliche Realität ist, tragen wir nicht nur Verantwortung für unseren eigenen Pflegenotstand, sondern auch für die Situation der Migrant/innen hier und ihrer Familien in den Herkunftsländern.