Internationale Best Practices - Was kann Deutschland von anderen Ländern lernen?

Vom 10. -11.03.2014 richtete die Heinrich Böll Stiftung in Berlin den Kongress „Pflegenotstand in Deutschland“ aus, bei dem Expert/innen aus Pflegewissenschaften, Migrationsforschung, Politik und Genderforschung gemeinsam diskutierten. Im Fokus standen dabei Ursachen und Folgen der Care Migration. Es wurde intensiv diskutiert, ob dies der richtige Weg zur Bekämpfung des Pflegekräftemangels in Deutschland sein könne und welche anderen Maßnahmen helfen könnten diesen Notstand zu verringern.

In Workshop 1 ging es um den Umgang mit dem steigenden Pflegebedarf auf internationaler Ebene anhand von Best Practice Beispielen. Die Referent/innen Frau Dr. Hämel vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Bielefeld, Herr Dr. Lamura vom National Institute of Health and Science on Ageing in Italien und Frau Scharfenberg die Sprecherin für Pflege und Altenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen diskutierten unter der Moderation von Frau Dr. Heintze, was Deutschland von anderen Ländern lernen kann, welche Konzepte zur Pflege dort verfolgt werden und wie die Modelle eventuell auf Deutschland übertragbar sein können. Dabei standen Lösungsansätze aus Familie, Ehrenamt und Zivilgesellschaft ebenso zur Diskussion wie staatliche Finanzierungs- und Unterstützungsmodelle.

Der Bereich der Pflege ist eine internationale Herausforderung. Es müssen daher Lösungen gefunden werden, die einer alternden Gesellschaft global gerecht werden können. Durch die Freizügigkeitsregelungen der EU ist die Anwerbung von Pflegefachkräften aus dem Ausland unkompliziert möglich. Aber auch für nicht EU-Bürger/innen gibt es verschiedene Möglichkeiten, so zum Beispiel die Blaue Karte für hochqualifizierte Arbeitskräfte oder die Mobilitätsabkommen mit einzelnen Ländern für bestimmte Berufsgruppen. Es herrschte jedoch die Übereinstimmung, dass Migration nicht als Priorität zur Überwindung des Pflegenotstandes angesehen werden solle.

In Deutschland lässt sich jedoch der Trend beobachten, den Pflegebedarf verstärkt durch Migrant/innen zu decken, da es sowohl eine gesteuerte Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland gibt, als auch eine steigende Zahl von irregulärer Beschäftigung in Privathaushalten. Laut WHO-Verhaltenskodex ist jedoch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ethisch fraglich, da dies dem Ziel einer vornehmlichen Deckung des Pflegekräftebedarfs im Inland widerspricht. Durch Arbeitsmigration ergeben sich darüber hinaus oft Schwierigkeiten, da mitunter die Herkunftsländer ebenfalls an einem Fachkräftemangel leiden und da die Familien, die in den Herkunftsländern zurückgelassen werden, belastet werden. Auch die Migrantinnen selbst sind von psychischen aber auch von physischen Belastungen betroffen. Insbesondere Pflegekräfte in irregulären Beschäftigungsverhältnissen leiden oftmals unter ihrer Situation.

Das Problem der Care Migration ergibt sich zum Beispiel in Italien daraus, dass Pflege noch stärker als in Deutschland als Aufgabe der Familien angesehen wird und ältere Menschen zu Hause wenn möglich durch ein Familienmitglied versorgt werden möchten. Die ungesteuerte, wenig kontrollierte Zuwanderung von gering qualifizierten Pflegekräften führt dazu, dass viele Personen in irregulären Beschäftigungsverhältnissen in Privathaushalten angestellt werden. Insbesondere die Auszahlung des frei verfügbaren Pflegegeldes stellt einen Anreiz für die Anstellung von irregulären Arbeitskräften dar.

In Italien wurde versucht, die irregulären Arbeitsverhältnisse von ausländischem Pflegepersonal nachträglich über Zuwanderungsquoten und Tarifverträge zu legalisieren. Damit ist das Problem der schlechten Arbeitsverhältnisse von ausländischen Pflegekräften jedoch nicht gelöst.

In der Diskussion wurde deutlich, dass die Beschäftigung mit Care Migration vielschichtige Probleme aufzeigt: dies gilt sowohl für die betroffenen Migrantinnen,  die Pflegebedürftigen selbst, als auch für die Pflegeberufe allgemein. Die Diskutierenden waren sich einig, dass demzufolge eine gesellschaftspolitische Hauptaufgabe darin bestehen müsse, den Pflegeberuf aufzuwerten. Es wurde einheitlich betont, dass eine Akademisierung von Pflegekräften mit der Schaffung von Karrieremöglichkeiten und die Verringerung von Gender-Differenzen dazu beitragen könnten, dass die Anerkennung für die Pflegetätigkeit steigen und eine Ausbeutung von Pflegekräften verringert werden könne. Um dies zu erreichen ist aber auch ein europäischer Austausch von großer Bedeutung, um voneinander zu lernen.

Die Entwicklung von Konzepten zu Pflege im Quartier sollte auch die Freiwilligen- und Nachbarschaftsarbeit stärker fördern und auch die Familie durch bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf mit in die Pflege einbeziehen. So kann eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Pflege entstehen, die sowohl die Ebene der Institutionen als auch der Gesellschaft umfasst und Pflege als eine Kooperationsleistung betrachtet.

Eine besondere Rolle kommt dabei den Kommunen bei der regionalen Planung von Pflege zu, die laut Elisabeth Scharfenberg aus einer solidarischen Pflegebürgerversicherung finanziert werden könnte. Der Kommune und der Zivilgesellschaft sollten wieder aktivere Rollen zugesprochen werden, um regionale Quartiersentwicklung in der Pflege voranzutreiben und eine systematische Versorgungsentwicklung zu gewährleisten. Dies könnte zudem die Folge haben, dass irreguläre Beschäftigungsverhältnisse vermindert werden.

Durch die große Unübersichtlichkeit des Pflegesystems mit vielen bürokratischen Hürden in Deutschland wird diese Entwicklung jedoch erschwert. Ein erster Schritt könnte daher die Implementierung von neutralen Beratungsstützpunkten mit integriertem Case Management sein. In Finnland und Kanada wird dieser Ansatz bereits umgesetzt, wie sich insbesondere in den kommunalen Gesundheitszentren, den Family Health Teams und den Community Health Centres zeigt. Hier werden umfassende individuelle Hilfen angeboten, wobei eine kommunale Versorgung „von der Wiege bis zur Bahre“ in diesen Zentren gewährleistet wird.

In multiprofessionellen Teams wird sowohl eine individuelle Orientierung in Form von Case Management und Empowerment-Ansätzen verfolgt, als auch die Community Perspektive eingenommen, indem sich mit allen relevanten Akteuren aus der Umwelt der betroffenen Personen ausgetauscht wird. So kann eine koordinierte und kontinuierliche Versorgung gewährleistet werden. Die Multiprofessionalität steht jedoch in Deutschland noch ganz am Anfang und muss deutlich gestärkt werden, um auch die Relation von Arzt und Pflegekräften neu zu definieren und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu ermöglichen. Beim Problem der Care Migration könnte eine EU-weite Vernetzung helfen, um Pflege staatlich reguliert und übergreifend zu organisieren und um die Ressourcen von Migrant/innen zu nutzen und die Qualität der Pflege zu sichern.

Der Schwerpunkt in der Pflege in Deutschland sollte demnach auf der Entwicklung regionaler Versorgungszentren mit multidisziplinarischer Zusammenarbeit liegen, um den Pflegeberuf aufzuwerten und attraktiver zu machen und mehr Pflegefachkräfte aus dem In- und Ausland gewinnen und halten zu können und ihnen eine zukunftsfähige berufliche Perspektive zu bieten.

In der Diskussion wurde deutlich, dass es notwendig ist, von den Bedarfen einer alternden Gesellschaft her zu denken und ganzheitliche Konzepte zu entwickeln. Um dies zu ermöglichen, muss politisch zuerst einmal erkannt und anerkannt werden, dass Pflege eines der zentralen Themen mit höchster Priorität ist.