Was ist die grüne Erzählung?

Teaser Bild Untertitel
Ralf Fücks auf dem Abschlusspodium der Konferenz

Einleitende Bemerkungen zu unserer Konferenz vom 4. April 2014 von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

1. Wozu braucht es eine „Grüne Erzählung?“

Angela Merkel scheint doch gerade vorzumachen, dass es auch gut ohne geht – Pragmatismus pur, manövrieren ohne erkennbares Ziel, Realpolitik ohne ideellen Überbau.

Das mag für eine Partei funktionieren, die der Auffassung ist, dass wir im Prinzip schon in der besten aller Welten leben - dass es also vor allem darauf ankommt, das Bestehende zu bewahren und die  nötigen Anpassungen vorzunehmen, damit alles so bleibt, wie es ist.

Aber für die Grünen passt dieses Konzept nicht. Auch wenn wir nicht mehr von der großen Systemalternative reden, sind Bündnis 90/Die Grünen eine Partei, die auf die Veränderung zielt.

Das gilt vor allem für das Jahrhundertprojekt, dem die Grünen ihren Namen verdanken: die ökologische Transformation der Industriegesellschaft.

Hier gilt immer noch: um die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren, von denen die menschliche Zivilisation abhängt, braucht es radikale Veränderungen. Wir stehen erst am Anfang dieser großen Erneuerung unserer Produktionsweise, des Energiesystems, des Transportwesens, des Städtebaus und der Alltagskultur.

Ohne eine begeisternde Erzählung von der grünen industriellen Revolution, ohne die Vision einer ökologischen Moderne bleiben wir in den Mühen der Ebene stecken.

Beispiel Energiewende: Über dem unvermeidlichen Gezerre um Kosten, Ausbauziele, Stromtrassen droht das große Bild verloren zu gehen: weshalb das Ganze – und wohin?

Ökologische Politik, die mehrheitsfähig werden will, muss Bedrohungen in Chancen verwandeln.

 

2. Wandel braucht Orientierung

Wir leben in Zeiten großer Veränderungen:

  • Der Aufstieg neuer Mächte verändert die globalen Kräfteverhältnisse und die Architektur internationaler Politik. Ob China und die anderen „Emerging Powers“ in multilaterale Systeme von Sicherheit und Zusammenarbeit hineinwachsen oder ob wir vor einem neuen Zeitalter rivalisierender Mächtegruppen stehen, könnte eine Frage von Krieg oder Frieden werden. 
  • Wir erleben den Eintritt Asiens, Lateinamerikas und Afrikas in die industrielle Moderne. Dieser Prozess erfasst Milliarden Menschen, die aus traditionellen Agrargesellschaften in eine städtische Lebenswelt katapultiert werden. Er geht einher mit sozialem Aufstieg in großem Stil, zugleich aber mit starken gesellschaftlichen Spannungen, himmelschreiender Ungleichheit und scharfen Konflikten zwischen Tradition und Moderne, die den Hintergrund für fundamentalistische Bewegungen und erbitterte Kulturkämpfe bilden
  • Der demografische Wandel wird die soziale Textur Europas radikal verändern – mit weitreichenden Auswirkungen auf Sozialsysteme und Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt und Wirtschaft, Infrastruktur und Staatsfinanzen.
  • Weltweite Migration führt zu wachsender ethnischer und kultureller Vielfalt unserer Gesellschaften – in vielen Städten der Bundesrepublik kommt bereits die Hälfte der Kinder aus Migrantenfamilien.
  • Gleichzeitig erleben wir eine Revolution der Geschlechterverhältnisse: traditionelle Geschlechterrollen lösen sich auf, die familiäre Arbeitsteilung wird neu verhandelt, die bipolare Geschlechterordnung differenziert sich aus. Wir können inzwischen fast alle einigermaßen flüssig „LGBTI“ sagen, ohne uns die Zunge zu brechen.
  • Die parlamentarische Demokratie wird durch neue Teilhabe- und Mitbestimmungsansprüche herausgefordert: Bürgerinitiativen allerorten, neue Formen direkter (plebiszitärer) Demokratie, das Internet schafft neue Formen politischer Öffentlichkeit und Partizipation.

Auch Politische Parteien müssen ihre Rolle neu definieren: sie haben längst kein Monopol mehr auf die „politische Willensbildung des Volkes“, die ihnen das Grundgesetz zuschreibt.

  • Das Verhältnis von Individualisierung und Sozialität wird neu verhandelt. Ich bezweifle, ob man tatsächlich von einem Ende des Zeitalters der Individualisierung sprechen kann, aber offenkundig gibt es allerorten neue Bestrebungen, die das Gemeinschaftliche ins Zentrum stellen: Gemeingüter, Genossenschaften, öffentlich vor privat, teilen statt besitzen.
  • Nicht zuletzt leben wir in einer Epoche umwälzender wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Neuerungen: Hirnforschung, Genetik, Biotechnologie, Informatik, rasant wachsende Leistungsfähigkeit von Computersystemen, Robotik, Nanotechnik, erneuerbare Energien, technische Photosynthese etc.

Trotz aller Rufe nach Entschleunigung wird sich unsere Lebenswelt schneller verändern als wir uns träumen lassen. Das wirft die Frage nach den ethischen Grenzen auf, die wir den wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten ziehen – und generell die Frage nach der Steuerbarkeit des technischen und gesellschaftlichen Wandels. Die klassischen nationalstaatlichen Instrumente sind damit jedenfalls überfordert.

Wenn die Welt sich rasant verändert, wächst das Bedürfnis nach Orientierung. Genau das ist der Sinn politischer Erzählungen. Sie geben Orientierung über die Tagespolitik hinaus und bringen ein emotionales Element in den politischen Diskurs, ohne das es kein politisches WIR gibt.

Das gilt auch für die Europapolitik: alle sind „für Europa“, aber welches Europa ist gemeint, was heißt europäische Solidarität, wollen wir einen europäischen Bundesstaat oder einen Staatenbund, stärkere Zentralisierung oder ein Europa der Vielfalt? 

Nirgendwo war in den letzten Monaten die Idee eines vereinigten und freien Europas lebendiger als auf dem Maidan. Die Ukraine ist zum Brennpunkt für die künftige Entwicklung unseres Kontinents geworden: dort entscheidet sich, ob Europa erneut in eine demokratische und eine autoritäre Sphäre geteilt wird. Jetzt wird sich zeigen, ob die europäische Gemeinschaft mehr ist als ein Binnenmarkt mit Parlament - an der Ukraine muss sich die EU als politisches Projekt beweisen, das über seine Grenzen hinaus für Demokratie und Völkerrecht eintritt.

 

3. Staat, Markt, Bürgergesellschaft: Was ist die grüne Erzählung des Politischen?

Wir (die Grünen) können mühelos Wahlkampfprogramme von hundert Seiten und mehr schreiben. Aber was ist unser ordnungspolitischer Kompass?

Wo verorten wir uns im Dreieck von Staat, Markt und Bürgergesellschaft?

Grüne Politik setzt an vielen Stellen auf einen starken, handlungsfähigen Staat, um Teilhabe zu ermöglichen oder ökologische Standards durchzusetzen. Investitionen in die soziale und kulturelle Infrastruktur, öffentliche Kindergärten und Schulen, staatliche Kulturfinanzierung, kommunaler Wohnungsbau, Ausbau des Sozialstaats, umfassende Regulierung von Märkten, Verbote und Gebote – alles das und noch viel mehr dreht sich um den Staat als Zentralagentur grüner Politik.

Es ist nur folgerichtig, dass die Grünen im letzten Bundestagswahlkampf für höhere Steuern und Sozialabgaben eingetreten sind – selbstverständlich nur für die Wohlhabenden, aber unter dem Strich eben doch für eine höhere Staatsquote.  

Gleichzeitig ist viel von einer "aktiven Bürgerschaft" die Rede, von Eigeninitiative, Subsidiarität und Selbstverwaltung. Auch das gehört zum grünen Erbe seit den Gründungszeiten.

Schließlich hat zumindest ein Teil der Grünen Unternehmertum als produktive Kraft entdeckt und setzt auf eine soziale und ökologische Marktwirtschaft.

Wie wir das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft gewichten, wie stark wir auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung setzen, welche Rolle wir dem Wettbewerb zubilligen und welche Aufgaben wir unbedingt in staatlicher Regie halten wollen, wird von Fall zu Fall und von Wahl zu Wahl entschieden. Sind wir eine ordoliberale, eine libertäre oder eine etatistische Partei? Vielleicht macht das die Differenz der politischen Strömungen in der Partei aus, aber ausbuchstabiert ist sie nicht.

Das gilt auch für die neuerliche Selbstdarstellung der Grünen als „Partei der Freiheit“. Es ist eine leichte Übung, uns als Partei der Bürgerrechte, der Selbstbestimmung und der kulturellen Vielfalt zu präsentieren. Das entspricht der grünen Gefühlslage und gehört zu unseren Traditionsbeständen.

Die schwierige Wegstrecke beginnt, wenn es um Eingriffe in die Privatsphäre im Namen der Ökologie, des Klimas oder der Alkoholfreiheit am Steuer geht. Normativ scheint die Sache klar: jede Freiheit hat ihre Grenzen, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird.

Aber wie das politisch zu übersetzen ist, ist alles andere als klar, wenn daraus kein Freibrief für eine umfassende Gängelung der Gesellschaft werden soll, die in ein immer engmaschigeres Netz von Vorschriften eingesponnen wird.

Es gibt eine immanente Versuchung, ökologische Politik als eine Art Zwangsvollstreckung von Naturgesetzen anzulegen. Der Spruch: „Mit dem Klima lässt sich nicht verhandeln“ ist ja durchaus populär. Das ist sozusagen die grüne Variante der Sachzwangpolitik. Freiheit ist dann nur noch die Einsicht in die ökologische Notwendigkeit.

Wie eine freiheitliche Ökologiepolitik aussieht, die stärker auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung, auf Innovation, Wettbewerb und Kostenwahrheit statt auf Gebote und Verbote setzt, ist noch eine offene Debatte.

Das führt auf ein anderes offenes Feld: Wenn die Grünen eine freiheitliche Partei sein wollen, was heißt das dann für ihre Wirtschafts- und Steuerpolitik? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen politischer und wirtschaftlicher Freiheit? Oder gilt unser freiheitlicher Impetus nur für die politische und kulturelle Sphäre, während wir wirtschaftspolitisch der Devise „so viel Staat wie möglich“ huldigen?

So oder so bieten diese Themen reichlich Stoff für eine spannende Debatte – auf dieser Konferenz und hoffentlich darüber hinaus. Wir möchten heute und morgen Impulse für eine grüne Orientierungsdebatte geben, die uns wieder mehr Strahlkraft über die Tagespolitik hinaus verleiht. Die Grünen waren immer stark, wenn sie Taktgeber für die gesellschaftliche Diskussion waren. Das können wir nur sein, wenn wir selbst einer offenen Debatte nicht ausweichen.