Eurovision Song Contest, ein Erfolgsmodell

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Musik, TV und die Konkurrenz der Nationen – nirgendwo sonst versammeln sich die Europäerinnen und Europäer so gleichberechtigt und so entspannt zum Mit- und Gegeneinander wie beim European Song Contest

Der Eurovision Song Contest ist ein europäisches Projekt, in mancherlei Hinsicht europäischer als die EU. Bei dem Musikwettbewerb nehmen um die 40 Länder teil, bei der EU nur 28. Die Staatsangehörigkeit der Auftretenden muss nicht die „ihres“ Landes sein. Und in einigen EU-Ländern folgten 2013 mehr Zuschauer dem ESC-Finale, als 2009 zur Europawahl gingen – zum Beispiel in den Niederlanden, Litauen und Ungarn.


Vom europäisch Verbindenden ließen sich bereits die Erfinder dieser Veranstaltung in den 1950er Jahren leiten. Ein attraktives Fernsehformat und technisch anspruchsvolle Liveübertragungen für die Länder des kapitalistischen Europas plus des blockfreien Jugoslawiens anzubieten – diese Aufgabe hatte sich die European Broadcasting Union (EBU) vorgenommen, ein europäischer Verbund öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten. Zur Premiere 1956 in der Schweiz nahmen neben der Gastgeberin die sechs Länder teil, die im darauffolgenden Jahr die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründen sollten: Frankreich, die Benelux-Staaten, Italien und die Bundesrepublik Deutschland. 1990, vor dem Auseinanderbrechen von UdSSR, Jugoslawien und der Tschechoslowakei, waren bereits 24 Länder dabei; bis heute sind es 52.

Der Erfolg des Wettbewerbs beruhte und beruht noch heute darauf, dass sich das Publikum in den einzelnen Ländern mit seinen Kandidaten und Kandidatinnen identifiziert. Über diesen aus dem Sport stammenden Modus – es gibt Sieger, Platzierte, auch Verlierer – kommt ein Spannungsmoment in das Entertainment, das es sonst in der Musik nur selten gibt, denn über Geschmack lässt sich nicht streiten. Wer im eigenen Land ein arrivierter Star war, konnte auf der ganz großen Bühne plötzlich mit „zero points“ dastehen. Noch ohne Internet lag der Reiz auch darin, vollkommen unvertraute Lieder und unbekannte Interpreten und Interpretinnen zu hören und zu sehen. Bis heute wären ohne den ESC kleine Länder in den großen Staaten popkulturell kaum sichtbar.

Der Wettbewerb sorgte zudem für neue Sterne am europäischen Pophimmel. Sie mussten nicht einmal den Sieg einheimsen: Nana Mouskouri, Françoise Hardy, Udo Jürgens, Sandie Shaw und Cliff Richard, die Band Abba, Céline Dion für die Schweiz oder die dänischen Olsen Brothers. Es waren überwiegend Figuren des Mainstreams, und das mussten sie auch sein, denn ausgesprochene Underground-Acts hatten keine Chance.

Der ESC gilt als Börse der europäischen Wertschätzung. Jedes Land stellt sich danach die Frage: Wie viele Punkte haben wir aus welchem anderen Land erhalten? Politische Aufheizungen blieben nicht aus. Die Türkei und Griechenland nahmen jahrelang nur dann am ESC teil, wenn der jeweils andere nicht dabei sein wollte. Man war verfeindet und wollte nicht beim ESC friedlich konkurrieren – wie groß wäre die Blamage, wenn der andere triumphiert! Es gab aber noch andere Gründe. 1982 verhinderte Melina Mercouri, Filmstar und damals Kulturministerin Griechenlands, die Teilnahme ihres Landes, weil der ESC minderwertig, oberflächlich und vor allem ungriechisch sei. Die sieben arabischen EBU-Mitglieder treten seit vielen Jahren nicht an, weil Israel dabei ist.

Der ESC selbst war lange Zeit politisch blind. 1969 fand der Wettbewerb in Madrid statt, Hauptstadt der Diktatur General Francos; nur Österreich blieb aus Protest zu Hause. Heute müssen sich die Ausrichter unbequeme Fragen nach Menschenrechtsverletzungen stellen lassen, 2009 in Moskau wie 2012 in Baku. Trotz allen Glitzers – die europäischen Öffentlichkeiten nehmen diese Konflikte sehr wohl wahr.


Der ESC funktioniert freilich auch so, wie es in der wirklichen Welt nicht vorkommt: Jedes Land, und sei es noch so klein wie San Marino oder Malta, hat das gleiche Stimmgewicht wie jedes der Big Five, der Hauptgeldgeber, die immer fürs Finale gesetzt sind: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien. Aber kein Land darf mit Jury- oder Televotingmacht für sich selbst stimmen. Man muss, um Meinungen und Vorlieben zu bekunden, für andere sein. Für das Andere, das europäisch Andere. Direkter Nationalismus wird somit unterlaufen, wobei Nachbarländer sich immer gern Punkte zuschustern, die postjugoslawischen, die nordeuropäischen, die postsowjetischen. Doch wer gewinnt, kann dies nicht allein mit Stimmen der Verbündeten schaffen. Erst der europäische Konsens einer Nacht kürt den Sieger oder die Siegerin. In dieser Hinsicht funktioniert der ESC wiederum ganz ähnlich wie die EU bei vielen ihrer Gipfeltreffen.

Seit dem Beginn der europäischen Finanzkrise sind einige TV-Sender finanziell klamm geworden. Sie pausieren, um Geld zu sparen. Vor allem wären sie mit der Ausrichtung eines ESC im Folgejahr überfordert, sollte ihr Kandidat gewinnen. Dass es möglich ist, einfach einmal ein Jahr auszusetzen, ist vielleicht der größte Unterschied von ESC und EU. 

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