Indien im demografischen Wandel: Viele Chancen, aber auch viele Hindernisse

Schüler/innen in Indien

Narendra Modis Sieg bei den indischen Parlamentswahlen drückt die Hoffnung der Bürger auf einen politischen Kurswechsel und wirtschaftliche Reformen aus. Im Wahlkampf hatte der neue Premier der weltweit größten Jugendbevölkerung wirtschaftliche Perspektiven versprochen. Er konnte mit seinen Themen Wirtschaftswachstum, Abbau von Bürokratie und Bekämpfung der Korruption so erfolgreich sein, weil viele junge Menschen vom Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte wenig profitiert haben. Ein Grund dafür ist, dass sowohl die Regierungen als auch die Wirtschaft des Landes mit der starken Bevölkerungszunahme der letzten Jahrzehnte überfordert waren.
Die Zahl der 15- bis 24-Jährigen hat sich in Indien seit 1960 nahezu verdreifacht auf aktuell 230 Millionen. Diese Jugendlichen sind eines der größten wirtschaftlichen Potenziale des Landes, das bisher jedoch wenig gefördert wurde. Im Gegensatz zu den benachbarten ost- und südostasiatischen Staaten, die in der Vergangenheit ähnlich günstige Bevölkerungsdynamiken aufwiesen, haben es die indischen Regierungen nur ungenügend vermocht, auf breiter Basis Armut zu verringern, ein höheres Bildungsniveau zu etablieren und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige Beschäftigung junger Menschen zu schaffen.

Die indische Bevölkerungsdynamik und ihre Konsequenzen

Bereits im ersten Fünfjahresplan nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 beschloss die Regierung Nehru das starke Bevölkerungswachstum einzudämmen, da es als die Hauptursache der häufig auftretenden Hungersnöte erachtet wurde. Die daraufhin ergriffenen Maßnahmen zur Familienplanung führten zu einer kontinuierlichen Verringerung der Geburtenraten. Indiens Bevölkerung wies in den 1970er und 1980er Jahren noch eine jährliche Wachstumsrate von über zwei Prozent auf. Heute liegt sie knapp über einem Prozent. Mit der gegenwärtigen Geburtenrate von 2,5 Kindern pro Frau flacht das Bevölkerungswachstum stetig ab, dennoch wird Indien bis 2030 mit nahezu 1,5 Milliarden Menschen zur weltweit größten Bevölkerung anwachsen.

Trotz sinkender Geburtenrate war die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, insbesondere durch die Eindämmung der Kindersterblichkeit, in den letzten Jahrzehnten immer noch sehr hoch, so dass derzeit weiterhin starke Jahrgänge auf die Arbeitsmärkte drängen. Nach Berechnungen der Weltbank werden in den kommenden 15 Jahren monatlich rund eine Million junger Menschen neu für die südasiatischen Arbeitsmärkte bereitstehen, die meisten von ihnen in Indien. Erst ab 2030 wird ihre Zahl allmählich abnehmen. Aus ökonomischer Sicht befindet sich Indien mit einem derart günstigen Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Kindern einerseits und alten Menschen andererseits am Anfang der Phase des „demografischen Bonus“, die bis etwa 2040 andauern wird. Um diese günstige Struktur für wirtschaftliches Wachstum nutzen zu können, sind Investitionen in die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, eine Anhebung ihres Bildungsniveaus, eine beschäftigungsfördernde Wirtschaftspolitik sowie makroökonomische Stabilität notwendig. Nur so lassen sich steigende Einkommen und erhöhte Sparmöglichkeiten für die Erwerbsbevölkerung realisieren.

Indien gilt als eine international aufstrebende Macht, die vor dem derzeitigen wirtschaftlichen Abschwung erstaunliche Wachstumsraten erreichte. Das Land verfügt über eine wachsende städtische Mittelschicht und international konkurrenzfähige Branchen, wie z.B. die Software-, Pharma-, Medizin-, Film- und Textilindustrie. Die Mehrheit der Bevölkerung konnte von diesem Wachstum jedoch bisher nur unzureichend profitieren. Das Land ist durch erhebliche soziale Ungleichheiten gekennzeichnet. Es ist nicht gelungen, das bisherige Bevölkerungswachstum für eine wirtschaftlich und sozial ausgewogene Entwicklung zu nutzen. Selbst nach den offiziellen Angaben der indischen Regierung leben heute noch immer 22 Prozent der Bevölkerung unterhalb der nationalen absoluten Armutsgrenze. Andere Berechnungen gehen von weit höheren Armutsquoten aus.

Die Voraussetzungen für die Nutzung des demografischen Bonus

Im Vergleich mit den Nachbarstaaten Bangladesch und Nepal schneidet Indien trotz hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten bei Sozialindikatoren wie z.B. der Kindersterblichkeitsrate schlechter ab. Auch innerhalb Indiens gibt es erhebliche regionale Unterschiede, die sich ebenfalls in den Geburtenraten wiederspiegeln. Südliche Staaten wie Kerala, Tamil Nadu oder Goa verzeichnen laut Daten des indischen Zensus im Vergleich niedrige Kindersterblichkeitsraten, niedrige Geburtenraten und hohe Alphabetisierungsquoten, vor allem auch der Frauen. Assam, Bihar und Uttar Pradesh im Norden und Osten sind Bundesstaaten mit auffällig über dem Landesdurchschnitt liegenden Kindersterblichkeitsraten und hohen Geburtenraten bei geringen Fortschritten im Bildungswesen.

Trotz beträchtlicher Erfolge beim Ausbau der Grundschulen hat sich in Indien die Qualität der Bildung einer breiten Bevölkerungsschicht nur ungenügend verbessert. Mehr als die Hälfte der Drittklässler können nach Aussage des Annual Status of Education Reports nicht einmal einen kurzen Text der ersten Klasse lesen. Die schlechte Qualität der Grundschulbildung setzt sich in den höheren Bildungsstufen fort und mündet in einer erheblichen Anzahl von Schulabbrechern (drop outs) in der Sekundarstufe. Weniger als ein Fünftel der heute 20- bis 24-Jährigen können mehr als einen Grundschulabschluss nachweisen, obwohl deutlich mehr als die Hälfte dieser Alterskohorte zumindest zeitweise eine Sekundarschule besucht hat. Auch die universitäre Bildung weist erhebliche Mängel auf. Eine Untersuchung der Weltbank zeigt, dass drei Viertel der Arbeitgeber mit dem technischen Wissen der neu eingestellten Absolventen eines Ingenieursstudiums nur begrenzt zufrieden sind.

Neben der Frage des Bildungsniveaus ist die unzureichende Aufnahmekapazität der Wirtschaft das Hauptproblem, es fehlen schlicht Arbeitsplätze. Die hohe Jugendarbeitslosenquote, die seit Jahrzehnten zwischen acht und zehn Prozent und damit über der allgemeinen Arbeitslosenquote liegt, repräsentiert nur den kleinen Teil der formell als arbeitslos registrierten jungen Menschen, die häufig aus den oberen Bildungs- und Einkommensschichten stammen. Das starke Bevölkerungswachstum und die inadäquate Bildung haben zu einem Überangebot an schlecht qualifizierten Arbeitskräften geführt. Der indische Arbeitsmarkt ist durch ein Beschäftigungswachstum gekennzeichnet, das hinter dem Bevölkerungswachstum zurückbleibt.

Besonders Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. So liegt die Arbeitsmarktbeteiligungsrate der erwachsenen Frauen nach Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nur bei etwas über 30 Prozent. Auch dieser Wert verdeutlicht die bisherigen Versäumnisse, die günstige Altersstruktur in eine inklusive sozioökonomische Entwicklung umzuwandeln. Denn ein besonderer Vorteil des demografischen Bonus ist die Chance, Frauen in Beschäftigung zu bringen, da sie weniger Kinder versorgen müssen. Durch die erhöhte Teilnahme am Arbeitsmarkt würde sich auch ihr Status im Haushalt verbessern, was zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen würde.

Die Entstehung von hochqualifizierten Jobs und die Anziehung ausländischer Investitionen werden durch schlechte Rahmenbedingungen behindert. Fehlende Rechtssicherheit, hohe Inflationsraten, Engpässe in den wichtigen Infrastrukturbereichen wie der Energieversorgung und die grassierende Korruption beeinträchtigen sowohl die Etablierung von Industrien als auch die Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze. Das Land ist trotz hoher Urbanisierungsraten weiterhin landwirtschaftlich geprägt. Dennoch ist der Beitrag dieses Sektors mit einem Fünftel des Bruttoinlandsprodukts verhältnismäßig gering.

Mehr als 80 Prozent der Erwerbstätigen sind in der informellen Ökonomie beschäftigt, sowohl im landwirtschaftlichen als auch im nicht-landwirtschaftlichen Sektor. Auswertungen der National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector bestätigen, dass das Wachstum der Arbeitsplätze in Indien zwischen 1990 und 2005 überwiegend aus informellen Beschäftigungsverhältnissen bestand – und zwar unabhängig davon, ob diese im informellen oder formellen Sektor generiert wurden. Laut Aussage des World of Work Report 2014 der ILO war der Beitrag der Industrie am Bruttosozialprodukt zwischen 1980 und 2011 sogar rückläufig.

Modis Herausforderungen und Chancen

In etwa 25 Jahren wird das günstige Verhältnis zwischen den Erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Kindern und älteren Menschen auslaufen. Wenn bis dahin die geschilderten Versäumnisse nicht eingeholt wurden, sind die Konsequenzen absehbar: Der demografische Bonus geht verloren, Einkommens- und Spareffekte konnten nicht realisiert werden und gleichzeitig werden mehr finanzielle Ressourcen für die wachsende Zahl älterer Menschen benötigt. Die heute unterbeschäftigten und einkommensschwachen Jugendlichen werden nicht selbstständig für ihr Alter vorsorgen können. Veränderte Familienstrukturen mit weniger Kindern hebeln zusätzlich die traditionelle Alterssicherung aus, ohne dass eine wirksame Alternative für die ältere Generation in Sicht wäre. In absoluten Zahlen leben heute ungefähr 100 Millionen Menschen über 60 Jahren in Indien, dieser Wert wird sich bis zum Jahr 2050 voraussichtlich auf nahezu 300 Millionen erhöhen.

Von der neuen Regierung unter der Führung von Modi wird erwartet, die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu reformieren. Er hat im Wahlkampf versprochen, Arbeitsplätze für alle zu schaffen, Indiens Industrie auf einen neuen Weg zu bringen und ausländische Investitionen zu fördern. Es stellt sich die Frage, ob in Anbetracht der bisherigen Versäumnisse in der Gesundheits-, Bildungs-, und Arbeitsmarktpolitik ein wachstumsorientiertes wirtschaftspolitisches Programm, dessen Reformvorschläge großenteils auf den formellen Sektor bezogen sind, das gesteckte Ziel erfüllen kann. Der neue Premier gilt in Anbetracht seiner in Gujarat verwirklichten liberalen Wirtschaftspolitik bisher nicht als Protagonist einer sozial ausgewogenen Entwicklung. Die große Frage wird sein, ob Modi es in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten föderalen Regierungen schaffen kann, das wirtschaftliche Wachstum des Landes in ein inklusives Wachstum zu verwandeln. Sein Vorteil gegenüber seinen Vorgängern im Amt ist der immer weiter fortschreitende demografische Wandel. Den sollte er nutzen, wenn er die großen Hoffnungen der jungen Inderinnen und Inder nicht enttäuschen will.
 

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