„Politik muss sich aus dem Würgegriff ethnischer Benachteiligung befreien“

Wir sprachen mit Yaseen im Rahmen unserer Reihe von Interviews mit jungen Politikern.

Heinrich-Böll-Stiftung: Bitte stellen Sie sich unseren Leserinnen und Lesern vor.

Yaseen Samim: Zuerst möchte ich Daily Rah-i Madaniyat dafür danken, dass jungen Menschen die Chance gegeben wird, über ihre Vorstellungen, ihre Probleme und vor allem über aktuelle Politik zu sprechen. Daily Rah-i Madaniyat ist eine erfolgreiche Tageszeitung und die Umstellung vom wöchentlichen zum täglichen Erscheinen ein großer Erfolg für die Presse und speziell für Ihr Team.

Ich heiße Yaseen Samim. Geboren wurde ich 1985 im Bezirk Nahaur der Provinz Ghazni. Als ich geboren wurde, waren die meisten Menschen dort Analphabeten. Als ich jung war, ging es meiner Familie finanziell nicht gut, weshalb ich nur lernen konnte, indem ich den Winter über den Mullahs in der Moschee zuhörte. Als ich neun war, sind wir nach Quetta ausgewandert. Dort begann mit der 4. Klasse meine Schulzeit. Im Jahr 2005 habe ich meinen Abschluss an der Noor High School gemacht, mit Bestnoten. Gelegentlich schrieb ich Artikel für die Wochenzeitung Sham-i Awaragan und für weitere Publikationen. Schon damals interessierte ich mich für Politik und war Mitglied der Union of Revolutionary Students of Afghanistan. Ich nahm an einem Redewettbewerb in englischer Sprache teil und gewann in der Region Belutschistan den ersten Preis. Ein Jahr lang habe ich dann im Rahmen eines UNICEF-Programms für eine NRO gearbeitet. Meine Aufnahmeprüfung für die Universität machte ich 2005 und wurde zugelassen für einen Bachelor-Studiengang in persischer Literatur, in dem ich dann auch meinen Abschluss machte. Während meines Studiums habe ich erst Teilzeit für eine NRO gearbeitet, dann für das Ministerium für Stadtentwicklung. Momentan arbeite ich für das zivile technische Unterstützungsprogramm des Finanzministeriums.

 

 

 

 

Wie schätzen Sie die politische Lage in Afghanistan im Großen und Ganzen ein?

Meine Ansichten beziehen sich auf seriöse Politik, das heißt auf ein Feld, das einer gründlichen Ausbildung bedarf. Ich versuche moderne Politik zu betreiben - die allgemeine politische Lage im Land ist jedoch alles andere als zufriedenstellend. Angesichts der beträchlichen Hilfsmittel, die seit 2001 nach Afghanistan flossen, fällt auf, dass die entscheidenden politischen Institutionen kaum modernisiert wurden. Die politischen Parteien haben sich kaum weiterentwickelt, und auf die Ansichten junger Menschen wird wenig gegeben. Die afghanische Politik zehrt immer noch vom Vermächtnis der Dschihadisten aus den 1990er Jahren, deren Politik nur Einzelnen nutzt und die Menschen links liegen lässt.

Lässt sich moderne Politik überhaupt mit der afghanischen Gesellschaft vereinbaren?

Eine wichtige Frage. Moderne Politik kann nur dann funktionieren, wenn die Parteien nicht allein bestimmte Ethnien oder Religionen vertreten. Parteien müssen zudem finanziell unabhängig sein und dürfen nicht von ausländischen Geheimdiensten unterstützt werden. Dazu brauchen wir gesellschaftliche und kulturelle Organisationen, die auf lange Sicht arbeiten. So gesehen gibt es in Afghanistan noch keine moderne Politik. Weiter ist wichtig, Politik planvoll anzugehen. Gemäß ihrer Ziele müssen die Parteien entweder eng mit der Regierung zusammenarbeiten – oder in die Opposition gehen. Für Parteien, die in der Opposition sind, ist es legitim, die Regierung zu kritisieren und Gegenvorschläge zu machen, die dann Basis einer zukünftigen Regierung werden können. Leider hat Afghanistan weder eine starke Regierung, noch eine starke Opposition, weshalb es bei uns um moderne Politik schlecht bestellt ist. Hinzu kommt, dass die meiste Politik reine Interessenpolitik ist. Oft ist es so, dass eine Einzelperson aus einer Region Menschen um sich versammelt und versucht, Druck auf die Stammesältesten auszuüben. Politik vertritt so nur die Interessen ganz spezieller Gruppen, nicht die der Nation.

Welche Rolle können junge Politikerinnen und Politiker spielen?

Ich bin da recht zuversichtlich. Hätte man von Anfang an versucht, junge Menschen planvoll und langfristig in Politik einzubinden, sähe es heute natürlich besser aus. Um zu begreifen, warum das nicht geschah, muss man zurückblicken. Auf der Petersberger Konferenz, 2001, wurden Posten nach Ethnien und Sprachgruppen vergeben – nicht nach Eignung. Diese Entscheidungen hatten Folgen für unser Land und für die junge Generation. Dennoch spielen junge Politiker bei uns seit 2001 – und besonders seit 2006 – in gewisser Hinsicht eine größere Rolle. Die neue Generation ist besser ausgebildet, und dieses Mehr an Wissen und Erfahrung bereitet einer modernen Politik den Weg. Die junge Generation lässt hoffen. Ein wichtiges Element bei dieser Entwicklung ist, dass sich heute junge Menschen aus unterschiedlichen Teilen des Landes engagieren, sich begegnen und gemeinsam für ein bestimmtes Ziel arbeiten. Seit 2001 hat sich Afghanistans politische Landschaft und haben sich Regierung und Machtstrukturen gewandelt. Wir bewegen uns heute hin zu einer Politik mit nationalen Programmen und Zielen.

Wie, denken Sie, könnte man gute Politik im Lande institutionell verankern?

In erster Linie muss Politik sich aus dem Würgegriff ethnischer Benachteiligung befreien. Es liegt in den Händen der jungen Generation, die Grundlagen für eine Politik zu schaffen, die nicht auf ethnische, die auf nationale Interessen sieht. Dabei dürfen sich die politischen Initiativen junger Menschen nicht beschränken auf Konzepte und Statements ... es muss ein nationales Aktionsprogramm geben. Junge Politiker sollten sich nicht auf undemokratische Gruppen stützen, die mit moderner Politik nichts am Hut haben. Stattdessen müssen übergreifende Netzwerke entstehen, eng am Puls des Volkes.

Welche Rolle haben junge Menschen bei der letzten Präsidentschaftswahl gespielt?

Sie hatten einen guten Anteil daran. In den Wahlkampfteams – auch der beiden führenden Kandidaten – nahmen sie wichtige Funktionen ein. Sie waren aktiv an Planungen, Entscheidungen und Pressearbeit beteiligt. Ich denke, wer auch immer die Wahlen für sich entscheidet, wird verstärkt auf junge Menschen setzen.

Zum Schluss, welche Botschaft haben sie für junge Politikerinnen und Politiker?

Junge Politikerinnen und Politiker müssen an sich selbst glauben, müssen realistisch sein und professionell arbeiten.

 

---

Foto: Yaseen Samim. Von: Privat, alle Rechte vorbehalten.