Im überfluteten Kaschmir

Flut in Kaschmir
Teaser Bild Untertitel
Kran Kowshik hilft einem blinden Mann aus dem Rettungsboot

Kaschmir erlebte im September die schlimmste Flut seit 100 Jahren.  Hunderttausende wurden von den Wassermassen eingeschlossen. Der Bergsteiger Karn Kowshik reiste mit einer Gruppe Freunden in das Katastrophengebiet, um zu helfen. Sie kamen an ihre Grenzen.

Kaschmir ist ein Land voller Probleme und blickt auf eine leidvolle Geschichte zurück. Es liegt im äußersten Nordosten Indiens und grenzt an Pakistan. Im umstrittenen Grenzgebiet sind schätzungsweise mehr als 300.000 indische Soldaten stationiert. Seit vielen Jahren streiten Indien, Pakistan und die Kaschmiris selbst um die Vorherrschaft im Land und sind dafür sogar in den Krieg gezogen.

Am 4. September 2014 begann es in der Nacht zu regnen. In weniger als einer Stunde fiel mehr Regen als sonst in einem ganzen Jahr, der Fluss Jhelum trat über die Ufer. Srinigar, die Haupstadt von Kaschmir, wurde sofort überflutet. Nur wenige Stunden und die ganze Stadt stand unter Wasser. Lediglich einige Flecken Land ragten einsam heraus und bildeten eine Insellandschaft.

Diese Flut war die größte und heftigste, die Kaschmir in den letzten 100 Jahren erlebt hatte. Sie traf sowohl den indischen wie auch den pakistanischen Teil Kaschmirs. Hunderte Menschen fielen den Fluten zum Opfer und Hunderttausende wurden von den Wassermassen eingeschlossen. Die Behörden waren völlig überfordert. Viele Kaschmiris nahmen die Dinge selbst in die Hand, errichteten Nothilfelager und organisierten Rettungsaktionen.

Flug ins Katastrophengebiet

Mein ehemaliger Chef, ein altgedienter Journalist aus Kaschmir, war einer von ihnen. Am 7. September erhielt ich eine Nachricht von ihm: „Kannst Du sofort kommen? Wir brauchen Dich dringend!" Zusammen mit einer Gruppe von Bergsteigerfreunden machte ich mich auf und flog gleich am nächsten Tag nach Srinagar. Zwei meiner Team-Kollegen hatten bereits umfassende Erfahrungen bei der letzten großen Flut 2013 in Uttarakhand gesammelt.

Als wir in Srinagar landeten, verstanden wir sofort, warum wir gebraucht wurden. Polizisten, die uns mit unseren Seilen bewaffnet bei der Ankunft sahen, begrüßten uns enthusiastisch mit den Worten: „Die Stadt benötigt Ihre Hilfe!" Glücklicherweise liegt der Flughafen auf einer Anhöhe und wir konnten etwa fünf Kilometer in jede Richtung fahren. Was wir sahen, als wir den Flughafen verließen, schockierte uns: Arme Wanderarbeiter, meist aus dem Bundesstaat Bihar, zelteten vor dem Flughafen in der Hoffnung raus zu kommen. Polizisten der Central Reserve Police Force, einer paramilitärischen Truppe, hatten einige Hilfscamps in der Nähe des Flughafens errichtet. Doch in der eigentlichen Stadt herrschte Chaos.

Am nächsten Morgen setzte ich mich mit meinem ehemaligen Chef in Verbindung. Er rief uns zu einer Schule in Hyderpora außerhalb des Stadtzentrums von Srinagar. Dort trafen wir uns mit etwa zehn jungen Kaschmiris, die dabei waren, ein Nothilfelager zu errichten. Jeder von uns übernahm bestimmte Aufgaben. Drei Studenten von der Jawaharlal Nehru Universität in Delhi kümmerten sich um den organisatorischen Teil. Sie gründeten eine Initiative mit dem Namen “Kashmir Volunteers in Delhi: Flood Relief” (kurz KVDFR). Diese Initiative sollte Hilfsgüter organisieren in Zusammenarbeit mit Helfer/-innen in Delhi, die in der Hauptstadt Spenden sammelten. Jeden Tag wurden neue Bedarfslisten dorthin geschickt und Neuigkeiten auf Facebook und Twitter gepostet, um an die Spendenbereitschaft zu appellieren.

Ich selbst übernahm die Verantwortung für den Rettungsnotdienst, der sich um Rettungseinsätze auf dem Wasser kümmerte. Eine andere Gruppe wiederum war für Nahrungsmittel zuständig. Und es gab auch eine medizinische Station, die sich bald zu einer Klinik und Krankentransporteinrichtung entwickelte. Am Anfang hatten wir nur etwa hundert Kilogramm Hilfsgüter und ein Boot zur Verfügung. Um diese Güter irgendwie transportieren zu können, bauten wir uns ein Floß aus zwei zusammengeschnürten Schaumstoffmatratzen und zogen es durch die überfluteten Straßen. Dort saßen die Menschen auf den Dächern ihrer Häuser, während wir unsere Lebensmittel an sie verteilten.

Das Wasser war brusttief, meist eiskalt und immer schmutzig. Nach einigen Tagen hatten wir uns daran gewöhnt, die Tierkadaver aus dem Weg zu schieben. Wir hatten große Angst, uns irgendwelche Krankheiten zuzuziehen. Oft stand ich schon um vier Uhr morgens auf und war bereits um halb sechs in der dreckigen Brühe. In einer meiner ersten Rettungsaktionen evakuierten wir ein kleines Baby aus einem Haus im Viertel Alluchi Bagh. An einem anderen Tag retteten wir einen Mann mit seiner hochschwangeren Frau, die kurz vor der Niederkunft stand.

Neben solchen Rettungsaktionen in Srinagar leisteten wir auch Hilfe in weiter entfernten Dörfern, wobei ich in einem Team von etwa 20 jungen Männern arbeitete. Auch diese Aktionen waren körperlich extrem anstrengend. Wir hatten am Anfang nur ein Boot und behelfsmäßige Flöße zur Verfügung, die wir mit Lebensmitteln beluden. Da kein Platz zum Rudern verblieb, mussten wir unsere Transportmittel durch die engen überfluteten Straßen schieben, um die Dörfer zu erreichen.

Die von uns ins Leben gerufene Initiative wuchs in erstaunlicher Geschwindigkeit. Nach nur fünf Tagen gab es bei uns bereits über 100 freiwillige Helfer in Srinagar, sechs Boote und mehrere Tonnen Hilfsgüter, darunter Kleidung, Decken, Trinkwasser, Lebensmittel, Babynahrung, Windeln und Binden. Jeden Tag meldeten sich neue Freiwillige, die helfen wollten. Die Kräftigeren unter ihnen wies ich den Rettungsteams zu. Ich gab eine kurze Einweisung in das Rettungs-Einmaleins, organisierte ein Boot mit Hilfsgütern und schickte sie los.

Ohne staatliche Hilfe

Im überfluteten Srinagar suchte man vergebens nach Vertretern der öffentlichen Ordnung. Ich sah keinen einzigen Polizisten. Die Teams des staatlichen Katastrophenschutzes waren schlichtweg unfähig und nutzlos. Und die Armee schien untätig auf Befehle zu warten. Hilfsoperationen wurden nur auf besondere Bitte durchgeführt, Hilfsgüter einfach ins Wasser geworfen oder von Lastwagen geschüttet, wo sich die Menschen dann darum prügeln mussten.

Wurde die Armee in den ersten Tagen noch willkommen geheißen - ein seltenes Ereignis in Srinagar, wo die Soldaten meist als "Unterdrücker" und "Besatzer" wahrgenommen werden - so wurde bald klar, dass es ihnen in erster Linie um gute Publicity ging. Anwesende Journalisten wurden in Hubschraubern mitgenommen, denen die guten Taten der Armee gezeigt werden sollten. Jeden Abend versammelten sich die Menschen um die wenigen funktionierenden Fernseher und sahen dann die Heldengeschichten der Armee. Ein Nachrichtensender zeigte, wie einer seiner Reporter an einem Hilfseinsatz teilnahm und Nahrungsmittel vom Hubschrauber abwarf. Man konnte auf den Bildern deutlich erkennen, wie alles im Wasser landete und damit unbrauchbar wurde. Die Einheimischen hatten schnell von der Armee die Nase voll.

Verzweiflung in den ersten Tagen

Am Ende waren es die jungen Männer und Frauen, deren eigenen Häuser zerstört waren, die der Stadt halfen. Sie leisteten großartige Arbeit, hielten zusammen, mühten sich den ganzen Tag aufopfernd ab und halfen allen, die sie antrafen, in bestmöglicher Weise. Sie arbeiteten bis zur Erschöpfung und waren am nächsten Morgen wieder mit dabei. Jeden Tag hörte ich von neuen gefährlichen oder schwierigen Rettungsaktionen. Einige von ihnen gingen von Tür zu Tür, um die nötigsten Güter zu verteilen, besonders Medikamente. Ich schätze, dass unser Team vom KVDFR Hyderpora Camp in zehn Tagen etwa 2.500 Menschen direkt Hilfe leisten konnte.

Trotzdem waren wir ehrlich gesagt nie zufrieden mit dem, was wir taten. Am Abend hatten wir nie das Gefühl: "Oh, heute haben wir Großartiges vollbracht!" Uns quälte nur der Gedanke, dass wir vielleicht viel mehr hätten tun können. Es wurde nicht das Notwendige getan, sondern nur das Mögliche. Jedes Mal wenn wir mit dem Boot draußen waren, riefen die Menschen auf ihren Häusern nach unserer Hilfe. Sie alle brauchten etwas: Lebensmittel, Trinkwasser oder wollten evakuiert werden.

Alle diese Hilfesuchenden waren verzweifelt, zumindest in den ersten Tagen. Oft wurden wir auch gerufen, ohne dass wir mit unserem Boot die betreffenden Personen finden konnten oder sie benötigten unsere Hilfe nicht so dringend. Aber was heißt schon "dringende Hilfsbedürftigkeit" in einer Stadt, in der jeder in irgendeiner Form Hilfe braucht. Wir wurden dazu gezwungen, eigene Maßstäbe für Notfälle aufzustellen.

SOS-Hilferufen kamen wir nur nach bei Notrufen, die kleine Kinder oder ältere Menschen betrafen oder in medizinischen Notfällen. Es gab noch ein anderes wichtiges Kriterium für uns: Der Ort, zu dem wir gerufen wurden, musste leicht zu finden sein. Oder wir mussten einen Führer haben, der uns den Weg zeigte.

Diese Bedingungen mögen übertrieben erscheinen, waren es aber keineswegs. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen, ganze Stadtteile waren überflutet und Häuser in sich zusammengestürzt. Es war nicht einfach sich fortzubewegen. Wir konnten nicht fahren, sondern mussten durch die Straßen rudern. Einmal waren wir mit einem Vater unterwegs, der mit unserer Hilfe sein Baby retten wollte, doch er konnte sein eigenes Haus nicht finden. So extrem war die Situation. Mit dem Boot kamen wir nur bei absolut dringenden Notrufen. Über eine Evakuierung bin ich besonders glücklich. Als wir einmal auf dem Wasser waren, rief uns eine Familie herbei, die uns bat, ihren alten blinden Vater mitzunehmen.

Grenzen der Hilfe

Die Tatsache, dass wir in anderen Fällen "Nein" sagen mussten, stieß bei den Hilfesuchenden und Verzweifelten auf Fassungslosigkeit und Wut. Das brach unser Herz. Doch wir hatten nicht die Zeit und Kraft, lange darüber nachzudenken. Nach vier Tagen auf dem Boot begannen wir, die meisten Hilferufe von Menschen in ihren eingeschlossenen Häusern zu ignorieren. Es gab einfach keine Möglichkeit, ihnen zu helfen, selbst wenn wir wollten. Nur die Bedürftigsten evakuierten wir wie einen offenkundig geistig beeinträchtigten älteren Mann.

Wir taten unser Bestes und halfen, wo wir konnten. Manchmal kamen wir an unsere Grenzen, beispielsweise als wir die Leichen zweier Menschen sahen, deren Hilferufe unbeantwortet geblieben waren, wie man uns sagte.

Selbst nach zehn Tagen waren Teile der Stadt noch immer überflutet. Das Wasser konnte dort einfach nicht abfließen. Nur langsam begann die Stadt wieder aufzuleben. Die ersten Regierungsbeamten ließen sich blicken, ohne aber viel tun zu können. Nach zehn Tagen Rettungseinsatz als Ersthelfer entschied ich mich, zurückzufliegen. Die meisten lokalen freiwilligen Helfer kehrten zu ihren zerstörten Häusern zurück. Es gab neue Herausforderungen. Die Stadt musste wieder aufgebaut werden. Der Winter naht und die Menschen können nicht in den Zeltlagern bleiben. Die führenden Köpfe unserer Initiative (KVDFR) entschieden sich, ihr College-Studium zu unterbrechen und ihren Hilfseinsatz bis ins nächste Jahr fortzusetzen. Es wird ein langer und schwieriger Kampf für Kaschmir.