Tunesien: „Die Islamisten und das alte Regime werden gewinnen“

Filmemacher Tlili
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"Wir sind als Nation auf jeden Fall freier als zuvor." Sami Tlili über die Folgen der tunesischen Revolution

Freiheit, Würde, Arbeit - das waren die Wünsche der tunesischen Revolution. Heute, knapp vier Jahre nach deren Anfängen, befindet sich Tunesien an einem Scheideweg. Regisseur Sami Tlili setzt mehr auf den Veränderungsdrang der Bürger als auf die anstehenden Wahlen - Martina Sabra hat ihn interviewt.
 

Martina Sabra: Am 26. Oktober 2014 sind die Tunesierinnen und Tunesier aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Was erwarten Sie?

Sami Tlili: Ich persönlich werde wählen gehen. Ich werde versuchen, meine Rolle als Staatsbürger wahrzunehmen und meine Stimme nutzen, um an die Ziele der Revolution zu erinnern. Aber ich nehme nicht an, dass diese Wahl die aktuellen Probleme lösen wird.

Wer wird gewinnen, was glauben Sie? Die Islamisten der Ennahda und die bürgerlich-konservative Sammlungspartei „Nida Tounes“ (Call for Tunisia)? Viele vermuten, dass es auf eine Koalition der beiden hinauslaufen könnte.

Die beiden großen Gewinner werden die Islamisten und das alte Regime sein. Ich denke, sie werden sich den Kuchen teilen, denn sie haben gemeinsame Interessen: Ennahda und die alte Garde der RCDler. Auch wenn sie sich jetzt „Nida Tounes“ nennen, für mich bleiben sie  die alte Partei von Ben Ali und von Bourguiba. Aber ehrlich gesagt, ich finde das nicht dramatisch. Wir haben als Staatsbürger die Verantwortung, für Veränderung zu sorgen. Und ich denke, dass viele wichtige Entwicklungen ohnehin nicht an den Wahlurnen stattfinden.

Wo sehen Sie die Rolle der ehemaligen RCDler im neuen Tunesien? Und was halten Sie davon, dass sich auch viele ehemalige Gewerkschafter und frühere Ben-Ali-Gegner Nida Tounes angeschlossen haben, wie zum Beispiel die Frauenrechtlerin Bochra Belhadj Hamida, die in Tunis kandidiert?

Was ist Nida Tounes, wenn nicht eine kosmetisch aufpolierte Neuauflage der alten Einheitspartei RCD? Aus meiner Sicht hat man den Kopf der Macht geopfert – und nur den Kopf - um das System zu retten. Man hat dem ehemaligen RCD ein modernes Aussehen verpasst, indem man einige Leute ins Spiel gebracht hat, die sich als Unabhängige oder als Intellektuelle geben. Man muss auch sehen, dass Ennahda und Nida Tounes dasselbe wirtschaftliche Programm haben: Ultra-Neoliberalismus, teilweise unterstützt von exakt denselben Kräften im In- und Ausland. Der einzige Unterschied ist die Ideologie. Das Betriebskapital von Ennahda  ist eher islamistisch, das von Nida Tounes eher modernistisch. Ich empfinde die Modernität von Nida Tounes allerdings als Fassade. Modernität bedeutet doch nicht nur, dass man Bier trinken darf. Man muss die Institutionen modernisieren, den Staat. DAS ist für mich der Modernismus.

Was Sie sagen, klingt nach einer gesamtpolitischen Rolle rückwärts. Wie wird das Volk reagieren? Werden die Armen wieder auf die Straße gehen?

Die Armen gehören sowohl zur Basis von Nida Tounes als auch von Ennahda. Die jungen Leute haben sich getraut, auf die Straße zu gehen, und den Veränderungsprozess in Gang zu setzen. Das war verrückt und ungeheuer mutig. Jetzt brauchen wir Schutzmaßnahmen, um den politischen Prozess und den Übergang zur Demokratie zu gewährleisten. Klar ist, dass es ein langer, schwieriger Weg ist. Aber selbst wenn die nächsten Wahlen die alten Mächte erst mal wieder zurückbringen, dann ist das nicht tragisch. Das gehört zum Verlauf von Revolutionen dazu: Es geht voran, es gibt Rückschläge, und dann geht es wieder vorwärts. Wichtig ist, die Motivation aufrechtzuerhalten, das revolutionäre Bewusstsein, dass Veränderung möglich ist, und dass wir alle dazu beitragen können.

Lassen Sie uns über Ihr filmisches Schaffen sprechen. Sie wurden 1985 in Kairouan geboren und sind südlich von Gafsa aufgewachsen, in einer der jener Regionen, die seit der Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956 von den aufeinanderfolgenden Regimen vernachlässigt wurden. Vor ihrem ersten langen Dokumentarfilm haben Sie drei Kurzfilme gemacht. Einer dieser drei Filme – mit dem Titel „Sans Plomb“ (bleifrei) handelt von einem jungen Mann aus der Provinz, der sich aus Verzweiflung selbst verbrennt. Der Film entstand 2006. Wie sind Sie damals auf das Thema gekommen? Gab es schon vor Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung im Dezember 2010 die tunesische Revolution auslöste, einen konkreten Fall, der bekannt wurde?

Ja, es gab einen Vorläufer und es gab vor allem die Verzweiflung. Das Drehbuch habe ich gemeinsam mit einem Freund geschrieben. Wir wollten unseren Alltag beschreiben, die depressive Stimmung unter der Jugendliche im Tunesien der 1990er und 2000er Jahre aufwuchsen. Wir fühlten uns vom Ben-Ali-Regime förmlich massakriert, die Jugend wurde erstickt. Wir hatten nur die Wahl, abzuhauen, oder in die innere Emigration zu gehen, im eigenen Land. „Sans Plomb“ war ein Film über die schiere Verzweiflung.  

2011 haben Sie mit Ihrem ersten langen Dokumentarfilm begonnen – allerdings nicht über die Revolution, sondern über ein Ereignis, das zu dem Zeitpunkt schon drei Jahre zurücklag – den Aufstand in der Phosphatregion 2008/2009. Warum haben Sie gerade in diesem Moment zurückgeschaut und „Verflucht sei das Phosphat“ gedreht?

Ich wollte fragen, warum der tunesische Entwicklungsprozess nach der Unabhängigkeit 1956 gescheitert ist. Das Regime der Einheitspartei war faktisch ein regionalistisches Regime. Die Gegenden, aus denen Bourguiba und Ben Ali kamen, wurden über Jahrzehnte forciert entwickelt, während andere Regionen teilweise bewusst vernachlässigt wurden. Ich finde, dass es in der tunesischen modernen Geschichte viele Episoden gibt, die aus der kollektiven Erinnerung verschwunden sind - was dazu führt, dass wir dazu verdammt sind, unsere Geschichte wieder und wieder zu erleben. Das müssen wir ändern, deshalb habe ich trotz der spannenden Ereignisse nach der Revolution bewusst noch einmal zurückgeblickt.

Worin lag für Sie die Bedeutung des Aufstandes von 2008/2009? Und wo sehen Sie die Verbindung zur Revolution ab 2010?

Der Aufstand in Gafsa war eine Protestbewegung unbekannten Ausmaßes, wie sie das moderne Tunesien bis dahin noch nicht erlebt hatte. Die Proteste dauerten sehr lange, insgesamt sechs Monate, sie wurden von weiten Teilen der Bevölkerung getragen, sie waren gewaltfrei, und sie gingen mit einer Aneignung des öffentlichen Raumes einher. Das war hochsymbolisch. Als ich sah, wie die Menschen die Straße besetzten, traute ich meinen Augen nicht. Immerhin war Tunesien seit der Unabhängigkeit, seit Bourguiba durch und durch Polizeistaat gewesen.

Wie haben die Menschen rund um Gafsa auf Ihr Filmprojekt reagiert? Wie verlief die Zusammenarbeit?

Wir haben im März 2011 angefangen und waren im September 2012 mit den Dreharbeiten fertig. In dieser Zeit sind wir immer wieder für mehrere Tage oder Wochen in den Süden gefahren, wir haben gedreht, gesichtet, geschnitten und weitergedreht. Die Menschen vor Ort haben uns Tipps für Orte und Interviewpartner gegeben, wir waren ständig im Austausch. Sie haben sich den Film wirklich angeeignet, es wurde mit der Zeit auch ihr Film.

Wo sehen Sie die tunesische Revolution im Moment? Wo steht Tunesien im Übergang zur Demokratie bzw. zu einem demokratischeren System?

Aktuell befinden wir uns in einem Übergangsstadium zur Demokratie. Die Revolution ist nicht vorbei. Und sie hat auch nicht am 14. Januar 2011 stattgefunden. Wer das behauptet, der hat eine politische Agenda. Für mich begann die tunesische Revolution am 17. Dezember 2010, als die Menschen in Sidi Bouzid auf die Straße gingen. Wenn man als einziges Datum den 14. Januar 2011 nimmt, dann reduziert man die Revolution auf den Sturz von Ben Ali, so als wären durch seinen Abgang alle Probleme gelöst. Das ist ein Spiel mit dem kollektiven Unbewussten, denn man will die Menschen auf eine einzige Wahrnehmung der Ereignisse festlegen. Ich denke, wir stehen an einem Scheideweg. Die Ziele der Revolution wurden faktisch von einer Minderheit der Tunesier vertreten. Als sie auf die Straße gingen, riefen sie: Freiheit, Würde, Arbeit. Ihr Thema waren weder der Islam noch die kulturelle Identität. Andere haben vom ersten Tag an alles daran gesetzt, die Revolution zu ersticken. Es sind Leute, die mit dem alten Regime verbandelt waren und die die Konterrevolution betrieben haben. 

Aus ihren Antworten höre ich Realismus heraus, aber auch einen vorsichtigen Optimismus. Was haben Sie seit dem Beginn der Revolution im Dezember 2010 dazugewonnen?

Wir sind als Nation auf jeden Fall freier als zuvor. Aber ich will die Frage auch gern ganz persönlich beantworten: Ich habe mich mit mir selbst und mit meinem Land versöhnt. Das ist sehr wichtig, denn als ein Kind der 1980er Jahre gehörte ich zu denen, die entweder ins Ausland gingen oder in die innere Emigration. Wir waren am Ersticken, wir hatten keine Hoffnung mehr. Jetzt ist es wieder erlaubt, Hoffnung zu haben. Wir haben den öffentlichen Raum zurückerobert, der uns komplett versperrt war. Vieles ist besser geworden. Die ganz großen Probleme sind jedoch immer noch nicht gelöst, und das sind die Arbeitslosigkeit und die verbreitete Armut. Die Meinungsfreiheit ist eine Säule der Demokratie, ohne Zweifel. Aber wir müssen alles tun, um die sozialen und ökonomischen Probleme zu lösen. Das waren die Ziele der Revolution und hier entscheidet sich die Zukunft des Landes.

 

Über den Regisseur:
Sami Tlili aus Tunesien, geboren 1985, ist ein promovierter Literaturwissenschaftler und Dokumentarfilmer. Seine ersten cineastischen Erfahrungen machte er als Mitglied der tunesischen Föderation der Kino-Clubs. Nach drei Kurzfilmen veröffentlichte Tlili im Jahr 2012 seinen ersten langen Dokumentarfilm „Verflucht sei das Phosphat“. Darin richtet er den Blick auf die lange Zeit vernachlässigten Regionen Südtunesiens und auf die ungelösten wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes. Tlili lebt zur Zeit in Paris und Tunis. Das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Tunis wird zur Realisierung seines nächsten Films beitragen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf der Seite unseres Büros in Tunis.