Indien: Wasserkraft in Arunachal Pradesh

Old Parang - Arunachal Pradesh, Indien
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Arunachal Pradesh, Indien

2003 beschloss die indische Regierung, 162 Wasserkraftwerke zu bauen. Mehr als 40 sollten allein im Bundesstaat Arunachal Pradesh, im Nordosten des Landes entstehen. Doch bisher sieht es nicht so aus, als ob auch nur eines davon wie geplant 2017 in Betrieb genommen wird.

Im Mai 2003 wurde die 50.000-MW-Iniative vom indischen Premierminister Vajpayee angestoßen, ein ehrgeiziges Programm zur Erweiterung der Stromnetzkapazität um 50.000 Megawatt. Dies sollte durch den Bau von Wasserkraftwerken in sechzehn indischen Bundesstaaten bis zum Ende des 12. Fünfjahresplans, das heißt bis 2017, erreicht werden. Im Zentrum dieses Vorhabens stand der Bundesstaat Arunachal Pradesh im Nordosten des Landes. Von den geplanten 162 Wasserkraftwerken für die 50.000-MW-Iniative sollten 42 allein in Arunachal Pradesh errichtet werden, was über die Hälfte der geplanten Leistung ausmacht.

Zwei Jahre später begann die Regierung von Arunachal Pradesh, Konzessionen basierend auf Kooperationsvereinbarungen an Bauträger zu vergeben, von denen nahezu alle aus Indien kamen; viele davon waren mittelständische Infrastrukturunternehmen aus dem Bundesstaat Andhra Pradesh, die sich zum ersten Mal an einem Wasserkraftprojekt versuchten. Bis 2009 wurden Gutachten zur Erkundung und Untersuchung fast aller großen Flüsse in Auftrag gegeben, und somit der erste Schritt zu den offiziellen Baugenehmigungen für die Großprojekte  getan. Bis 2010 war die Anzahl der Genehmigungen bereits auf 150 gestiegen, wobei es sich bei den meisten um selbst definierte Projekte der Unternehmen handelte.

Heute, in der zweiten Hälfte des 12. Fünfjahresplans, scheint es sehr unwahrscheinlich, dass auch nur eine der geplanten Wasserkraftanlagen bis 2017 eine Einheit Strom produzieren wird. Selbst Projekte, wie das Lower-Subansiri-2000-MW-Projekt oder das 3000-MW-Dibang-Mehrzweck-Projekt, die in der Untersuchungsphase und bei der Ausarbeitungder detaillierten Projektplanungbereits weit vorangeschritten waren, sind noch nicht angelaufen. Das Dibang-Mehrzweck-Projekt, eines der am besten dokumentierten Projekte in den indischen und internationalen Medien, erhielt die erforderliche Umweltgenehmigung für den Baubeginn nicht, da die öffentliche Anhörung aufgrund lokaler Proteste mindestens zehn Mal innerhalb von sechs Jahren verhindert wurde.

Auch das Lower-Subansiri-Projekt kam in der letzten Phase bei der Montage der Turbinen ins Stocken. Was die restlichen Projekte betrifft, stecken mehr als 80 Prozent immer noch in der Erkundungs- und Untersuchungsphase. Auf Nachfrage, warum die Regierung die Genehmigungen verzögert, erklärten die Projektträger,  dass Erkundung und Untersuchung aufgrund von Bürgerbegehren gebremst worden seien.

Widerstand gegen die Wasserkraftentwicklung

Auf den ersten Blick erscheinen diese lokalen Auseinandersetzungen der vom Projekt Betroffenen als Widerstand gegen die potenzielle mit der Entwicklung einhergehende Umsiedlung und Verarmung; ein Thema, das schon die Entwicklungsdebatte im 20. Jahrhundert bestimmte. Die Bevölkerung von Arunachal Pradesh setzt sich aus kleinen Stammesgemeinschaften zusammen, und große Dämme haben in Indien und auch in anderen Teilen der Welt bereits mehrfach die Spaltung solcher Gemeinschaften verursacht. Bei näherer Betrachtung des Falls von Arunachal Pradesh wird jedoch deutlich, dass die Proteste vielschichtig sind und nicht nur den „Widerstand gegen eine zerstörerische Entwicklung“ zum Ausdruck bringen. Es werden gleichzeitig eine Reihe verschiedener lokaler Konflikte ausgetragen: Konflikte zwischen den Gemeinschaften und dem Bundesstaat, zwischen den Gemeinschaften und den Privatunternehmen, sowie innergemeinschaftliche Auseinandersetzungen.

Diese Konflikte demonstrieren die Komplexität der Lokalpolitik hinter der Wasserkraftentwicklung. Diese Komplexität ist in drei Aspekten begründet:

  1. Der de facto Anspruch auf Besitz von Land und anderen biophysischen Ressourcen durch die lokalen Gemeinschaften,
  2. Der Wunsch nach Entwicklung und Aufwertung der Lebensgrundlagen, und
  3. Veränderungen der Gesetzesgrundlagen für den Landerwerb.

Arunachal Pradesh unterscheidet sich insofern von anderen bekannteren Wasserkraftprojekten in Indien, wie etwa in Himachal Pradesh oder Uttarakhand, da jeder Landstrich, ob Berg oder Tal, Fluss oder Bach, im Besitz eines Stammes, eines Klans oder einer Familie ist. Außerhalb der städtischen Siedlungen verfügt die Regierung des Bundesstaats über keine Grundbuchaufzeichnungen, geschweige denn Besitzansprüche an Grundstücken oder Gewässern.

 

Karte von Arunachal Pradesh
Basierend auf Daten der Regierung von Arunachal Pradesh

Aus diesem Grund ist aus Sicht der betroffenen Gemeinschaften die Regierung nicht befugt, Entscheidungen bezüglich ihres Landes zu treffen, was jegliche Geschäfte zwischen der Regierung und den privaten Firmen rechtswidrig machen. Dies hat bereits früh zu Widerstand gegen die Regierung geführt. Der Unmut der Anwohner richtete sich besonders gegen die Intransparenz, mit der die Vergabe von Lizenzen in den ersten zwei Jahren gehandhabt wurde. Der Prozess der Lizenzvergabe war so verschleiert, dass sogar hohe politische Vertreter der betroffenen Gebiete nach eigener Aussage nicht informiert gewesen seien.

Der durch Fehlinformationen und von Gerüchten bedingte Vertrauensverlust veranlasste die Bevölkerung dazu, Akteure innerhalb der Regierung zu verdächtigen, ihren Landbesitz zur privaten Bereicherung zu missbrauchen. Aktivisten des Widerstands im Dibang Tal prangerten an, dass ihr Familienerbe für den Profit der Regierung verpfändet worden sei. Die mangelhafte Aufklärung der Bevölkerung führte zu weiteren Hürden in der Erkundungs- und Untersuchungsphase: Als die privaten Unternehmen in die entlegeneren Gebiete des Bundesstaates vordrangen, um geologische Bohrungen, Messungen zur Sedimentfracht usw. durchzuführen, stellten sich ihnen Mitglieder der Gemeinschaften gegenüber, die die Aktivitäten als „unbefugtes Betreten von Privatbesitz“ interpretierten, und dies zu Recht. Ohne eine Schlichtung durch die Regierung führten diese Spannungen häufig zu Verzögerungen in der Erkundungs- und Untersuchungsphase.

Trotz der Auffassung, dass die Regierungsentscheidungen illegitim sind, und der Streitigkeiten über die Verstöße der Unternehmen, lehnen die Gemeinschaften die Projekte jedoch nicht vollständig ab. Von den Vertretern der betroffenen Dörfer hört man oft: „Wir sind die Eigentümer dieses Landes, nicht die Regierung. Die Unternehmen hätten zu uns kommen und mit uns sprechen müssen.“ Der Wunsch nach einem Dialog ist darauf zurückzuführen, dass sich durch die Tätigkeiten der Wasserkraftunternehmen kleine Beschäftigungsmöglichkeiten und Aufträge während der Erkundungs- und Untersuchungsphase ergeben haben.

Für viele, besonders für kleinere Gruppen in den entlegenen Gebieten des Bundesstaates sind diese Möglichkeiten von unschätzbarem Wert, denn viele haben damit zu kämpfen, sich in einer Geld-basierten Wirtschaft zu behaupten, da sie außerstande sind, öffentliche Arbeitsplätze für sich zu sichern und daran scheitern, ihren Lebensunterhalt mit traditioneller Landwirtschaft zu sichern, um die modernen Grundbedürfnisse wie Gesundheitsfürsorge und Bildung ihrer Kinder abdecken zu können. In solchen Fällen wurden von den führenden Mitgliedern der Gemeinschaften Verbände gegründet, die mit den Unternehmen vereinbaren konnten, dass der wirtschaftliche Nutzen ausschließlich für lokale Interessengruppen gewährleistet wird. Neben Arbeitsplätzen und Verträgen erwarten sie von den Privatunternehmen auch, die fehlende staatliche Versorgung hinsichtlich sozialer Infrastrukturen wie Gesundheitsfürsorge, Bildung und Straßenbau zu übernehmen. Im Fall des 1750-MW-Lower-Demwe-Projekts  im Bezirk Lohit zum Beispiel konnten die Unruhen dank erfolgreicher Verhandlungen aufgelöst werden.

Entgegen der wirtschaftlichen Realität in der Region gewinnt die Wiederaufbau- und Wiederansiedelungspolitik in Arunachal Pradesh aus dem Jahr 2008 an Bedeutung. Mit diesem Gesetz soll Abhilfe für die enteigneten Grundstücke und anderen Ressourcen sowie für die Umsiedlung geschaffen werden, indem entweder finanzielle oder Land-für-Land-Entschädigungen angeboten werden (ob dies hinreichend erreicht werden kann, steht noch zur Debatte). Die Regierung des Bundesstaates reagierte auf die Vorbehalte der Gemeinschaften hinsichtlich der Entschädigungssätze und hat sich, zumindest bis 2011, bereiterklärt das Gesetz entsprechend anzupassen. Für Menschen, die kaum Zugang zu monetären Einkommensquellen haben, ist die Aussicht auf Entschädigungszahlungen im Tausch gegen von ihnen als ertraglos betrachtetes Land ein Glücksfall. Gleichzeitig fällt die Teilnahme an dem Kompensationsprogramm geringer aus als erwartet, da vielen bewusst ist, dass Geld eine nichterneuerbare Ressource ist, die schließlich irgendwann erschöpft sein wird. Einzelne Personen haben zudem ihre Bedenken ausgedrückt, dass sie unfähig seien, das Geld für ein nachhaltiges Einkommen anzulegen, oder mangels Qualifikation keine Beschäftigung an einem Hightech-Kraftwerk bekommen würden.

Da der Profit denjenigen mit Besitzansprüchen auf Land eher zugutekommt, enden alte Auseinandersetzungen über Landbesitz nun in Rechtsstreitigkeiten. Familien oder Klans innerhalb der Gemeinschaften machen sich kleinere Konflikte zunutze, um den allgemeinen Konsens zu umgehen und so ihre eigenen Interessen zu stärken und sich in eine bessere Stellung zu bringen. Dieser Konfliktaspekt führte in großem Ausmaß zu Unterbrechungen in den praktischen Umsetzungen der Erkundungs- und Untersuchungsphasen vor Ort.

Anhaltende Bedenken

Diese unterschiedlichen Nuancen lokalen Aufstands passen nicht so richtig in das Bild, das man sich von den „armen ländlichen Stammesgemeinschaften“ macht, die sich gegen „die Umweltungetümer großer Dämme“ wehren. Aufgrund einer Neuausrichtung der politischen Richtlinien im Hinblick auf die Anerkennung indigener Rechte und bei der Entschädigungspolitik für Land sind örtliche Gemeinschaften heute in der Lage, über bessere Existenzgrundlagen aus großen Infrastrukturprojekten zu verhandeln. Die bedingte Zustimmung der Bevölkerung bedeutet jedoch nicht, dass die Wasserkraftentwicklung in der Region ganz unproblematisch ist.

Neue Gelegenheiten der Aufwertung eigener Existenzgrundlagen haben rückwirkend zu innergemeinschaftlichen Konflikten über deren Aufteilung geführt. Auf lokaler Ebene sind Wasserkraftprojekte immer noch nicht gänzlich akzeptiert. Beispielsweise sind die potentiellen finanziellen Erlöse aus der Wasserkraftentwicklung in den tiefer gelegenenTälern weniger attraktiv, da sich hier der Nassreisanbau sowie der gewerbliche Anbau von Früchten und Gewürzen erfolgreich entwickelt haben, wie es beim 2700-MW-Lower-Siang-Projektder Fall ist. Hier stellt im Falle der produktiven Agrarflächen die finanzielle Entschädigung für fruchtbare Talböden einen schlechten Tausch für die lokalen Gemeinschaften dar. Zudem sind viele von den Beschäftigungsmöglichkeiten durch die Wasserkraftprojekte nicht besonders beeindruckt.

Umweltschützer, die die Prozesse in Arunachal Pradesh beobachten, haben die Regierung und die Projektträger beschuldigt, dass die umweltpolitischen Richtlinien lediglich als Formalie behandelt werden und dass sie die Freigabe für Projekte im Schnellverfahren vorantreiben würden. Außerdem ist auch der Ausschluss der Gemeinschaften flussabwärts ein Thema, welche nicht als Interessengruppen des Projekts gelten, da sie außerhalb des offiziellen Einzugsgebiets leben. Das indische Umwelt- und Forstwirtschaftsministerium hat einen 10-Kilometer-Radius um die Projekte als Einzugsgebiete festgelegt, obwohl dies der Hydrologie des Flusses widerspricht; schließlich machen die Auswirkungen des veränderten Abflussregimes nicht wie durch ein Wunder nach zehn Kilometern halt. Nicht nur, dass die Ängste der Bevölkerung flussabwärts vor Risiken und Gefahren aufgrund von Seismizität, Fehlfunktionen usw. größtenteils ignoriert werden, auch der Kampf der assamesischen Bevölkerung um Anerkennung als Interessengruppe hat zum anhaltenden und kostspieligen Stillstand des Lower-Subansiri-Projekts beigetragen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Fall des Programms zur Entwicklung der Wasserkraft neue Facetten der Ressourcenpolitik zum Vorschein kommen. Lokale Gemeinschaften streben nach Anerkennung ihrer Hoheit über die Ressourcen und wollen die Debatte über die Entschädigungszahlungen hinaus in Richtung nachhaltiger Nutzen- und Risikoteilung lenken. Sofern die Befürworter des indischen Wasserkraftprogramms auf nationaler sowie auf regionaler Ebene diesem Wunsch nicht nachgehen, wird das Programm weiterhin auf Grund laufen.