Israel: Geheimdienst und Oberrabbiner warnen vor Eskalation

Luftaufnahme des Tempelberges in Jerusalem
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Schon die Debatte um eine Veränderung des Status Quo rund um den Tempelberg ist ein Spiel mit dem Feuer

Mit dem blutigen Attentat auf Betende in einer Synagoge in West-Jerusalem durch zwei arabische Männer hat die Eskalation der Gewalt in den vergangenen vier Wochen einen traurigen Höhepunkt erreicht. Steht Israel vor einem Wendepunkt oder vor dem Auftakt zu einer neuen Intifada?

Tief sitzt die Erschütterung im ganzen Land über diesen Anschlag, bei dem vier Mitglieder der Gemeinde, sowie ein drusischer Polizist ums Leben kamen. Er offenbart eine neue Qualität in der Gewaltspirale, denn bislang gab es keine Anschläge auf Betende in Synagogen. Hinzu kommt, dass er von Palästinensern verübt wurde, die in Jerusalem lebten und alle Inhaber einer blauen israelischen ID waren, sowie in der Nähe der Attentatsorte arbeiteten und ihre Opfer gut kannten. Vor allem auch deshalb hat der Anschlag das persönliche Sicherheitsgefühl von Israelis im ganzen Land tief erschüttert.

Die Gewalt des letzten Monats hat nun bereits neun zivile Opfer auf der israelischen Seite gekostet – mehr, als bei der Operation Protective Edge, dem 50-tägigen Gazakrieg, auf israelischer Seite an zivilen Opfern zu beklagen war.

Die bange Frage geht um, ob dies der Anfang einer neuen – der dritten - Intifada oder gar eines Bürgerkrieges im eigenen Land ist – oder eher das Gegenteil: Ein „Wendepunkt“, der allen in grausamer Deutlichkeit zeigt, dass es so nicht weitergehen kann.

Politische Führungskrise in Israel

Für einen Wendepunkt wäre allerdings eine politische Führung erforderlich, die mäßigend und moderierend auf die Gesellschaft einzuwirken versucht und vor allem einen Weg aus der Gewaltspirale aufzuzeigen vermag – auf beiden Seiten.

Aber die israelische Führung, allen voran Premierminister Netanjahu, angetrieben durch Scharfmacher auf der politischen Rechten wie Naftali Bennett vom Jüdischen Haus oder Außenminister Avigdor Liebermann, schüttet permanent Öl ins Feuer: Sie droht mit martialischer Rethorik „Rache“ und eine „harte Hand“ an und beschließt Maßnahmen wie die Zerstörung der Häuser der Attentäter-Familien. Diese Maßnahmen „kollektiver Bestrafung“ sind nicht nur zutiefst unmoralisch. Sie sind auch kontraproduktiv im Hinblick auf ihre Intention, potenzielle Attentäter abzuschrecken, weil sie weiteren Hass säen und die Wut der Betroffenen schüren.

Dies stellte vor einiger Zeit selbst eine Untersuchungskommission unter Leitung des heutigen Verteidigungsministers Yalon fest.

So offenbaren diese Art von Antworten auf die Anschläge vor allem Eines: die Hilflosigkeit der israelischen Regierung. Gerade weil die Attentäter aus Jerusalem und nicht aus der Westbank kamen, konnte die Regierung nicht auf die üblichen - nicht minder nutzlosen - Strategien wie Gegenangriffe etwa auf palästinensische Entscheidungszentralen zurückgreifen, wie noch bei der zweiten Intifada.

Selbst den Einsatz der israelischen Streitkräfte IDF in Jerusalem haben nun Militärs wie auch Mitglieder des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet abgelehnt, da es allzuschnell zu weiteren Toten und damit weiteren Eskalationen kommen könnte.

Vermutlich ist das der Hintergrund, vor dem Natanjahu, Bennett und Liebermann mangels jeglicher Handlungs-Alternativen mit scharfen Worten Palästinenserpräsident Abbas verantwortlich machen.

Es gibt keinerlei Hinweise, dass die palästinensische Führung hinter den Attentaten steht oder sie gar angeordnet hat. Präsident Abbas hat das Attentat auf die Synagoge scharf verurteilt. Die Hamas hingegen sprach – in einer an Zynismus kaum zu überbietenden Reaktion - von einer „ angemessenen und zielführenden Maßnahme gegen die Gewalt der Besatzung“.

Dies zeigt, dass die Hamas, anders als die Mehrheit der Fatah, zur Zeit alles daran setzt, die bisher ausschließlich von Einzeltätern begangenen Anschläge in einen politisch-islamistischen Gesamtkontext zu stellen, der schließlich in einem weiteren Gazakrieg enden könnte.

Damit wird es allerdings noch unverständlicher, warum die verbalen Angriffe der Netanjahu-Regierung Abbas gelten und nicht etwa der Hamas. Bennett bezeichnet ihn gar als den „größten Terroristen, den die palästinensische Nation hervorgebracht hat“. Ist diese Dämonisierung von Abbas beabsichtigt, weil der israelischen Öffentlichkeit ein für alle Mal klargemacht werden soll, dass eine friedliche Vereinbarung mit Abbas nicht in Frage kommt?

Mäßigende Stimmen

Von Seiten des politischen Mitte-Links-Spektrums und auch von Teilen der Medien wird Netanjahus Regierung jedenfalls scharf für dieses Vorgehen kritisiert. Man macht zurecht auch die eigene Regierung mitverantwortlich dafür, dass die Spannungen im Land und vor allem in Jerusalem ansteigen, statt sinken.

Warnende und mäßigende Stimmen kommen auch von unerwarteter Seite. Yoram Cohen, Chef des Geheimdienstes Shin Bet, schloss vor der Knesset eindeutig aus, dass Abbas eine Terroragenda habe. Auch nicht „unter dem Tisch“. Er verwies darauf, dass der Rachemord am palästinensischen Teenager Abu Khdeir im Sommer, aber auch die vom radikalen Nationalreligiösen Yehuda Glick und einigen Abgeordneten betriebene Debatte um einen Zugang zum Tempelberg, ausschlaggebend dafür sind, dass Teile der arabischen Bevölkerung sich berufen fühlen, Racheakte auszuüben und den Tempelberg zu verteidigen.

Noch sind es Einzeltäter und noch ist es weder eine „Bewegung“oder gar eine Intifada, aber der Geheimdienstler Cohen ist einer der Wenigen, die davor warnen, dass der Konflikt zu einem Religionskrieg werden könnte. Er ruft deshalb zu Moderation und Mäßigung auf.

Gefahr eines Religionskrieges?

In der Tat wäre es ein politisches Desaster, wenn aus dem aktuellen nationalen Konflikt um Land und der Anerkennung der „Staatlichkeit Palästinas“ ein Religionskrieg erwachsen würde. Denn dann wäre es umso schwieriger mit politischen rationalen Maßstäben auf einen friedlichen Ausgleich zwischen den beiden Seiten zu drängen. Deshalb war es auch ein schwerer Fehler, dass Netanjahu die Debatte um eine Veränderung des Status Quo in Jerusalem rund um den Tempelberg nicht sofort öffentlich klar und eindeutig unterband, obwohl er selbst anscheinend am Status festhalten will und dies ja auch in einem Blitzbesuch dem noch immer für die heiligen Stätten verantwortlichen jordanischen König versichert hat.

Warum dann dieses öffentliche Zögern und Zaudern? Warum läßt er die Scharfmacher um Bennett gewähren, pfeift sie nicht zurück, ebenso entsprechende verheerende Gesetzesvorschläge?

Schon die Debatte um eine Veränderung des Status Quo rund um den Tempelberg ist im Nahen Osten ein Spiel mit dem Feuer. Denn das ist nicht nur eine Provokation für die Palästinenser, sondern der gesamten muslimischen Welt. Das ist sicher nicht im strategischen Interesse Israels.

Auch Präsident Abbas reagierte in dieser Frage nicht immer klar. Auch er unterstellte der gesamten Netanjahu-Regierung, sie wolle am Status-Quo rütteln, wohl wissend, dass Netanjahu gerade in Jordanien zu Gesprächen weilte. Vermutlich hat auch er damit erst die „Geister gerufen“, die er jetzt nicht mehr los wird. Und geradezu haarsträubend war es, der Familie des getöteten Attentäters von Yehuda Glick ein Kondolenzschreiben zu schicken – auch ein Spiel mit dem Feuer, diesmal von palästinensischer Seite.

Auch in der Frage des Tempelbergs kommen Aufrufe zur Mäßigung und zur Zurückhaltung von unerwarteter Seite: die gesamte religiöse Führung des Landes, allen voran die sephardischen, aber auch die ashkenasischen Oberrabbiner stellten in öffentlichen Erklärungen unmissverständlich klar, dass die religiösen Gesetze jedem Juden verbieten, auf dem Tempelberg zu beten. Sie warnten öffentlich davor, am Status der heiligen Stätten zu rütteln und dabei auch vor der Gefahr eines Krieges mit der gesamten muslimischen Welt. Solche Aufforderungen hätte man sich zweifelsohne auch von der Regierung Netanjahu gewünscht.

Eskalationsspirale

Dies zeigt, dass der Nahe Osten bereits wieder brennt und mitten in einer Eskalationsspirale steckt. Diese nah-östliche Mischung aus tiefgreifender politischer Führungskrise, mangelndem Willen zu einer friedlichen Konfliktbeilegung und politischer Uneinigkeit auf der internationalen Bühne lieferte bereits den Auslöser für die zweite Intifada. Sie kann schon morgen oder übermorgen zu einer weiteren dramatischen Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt und in der Region führen.

Zeit für die internationalen Akteure, aufzuwachen und endlich mehr Verantwortung für eine friedliche Konfliktbeilegung zu übernehmen.