Syrien: Blinde Flecken in der Berichterstattung

Nur wenige Reporter/innen berichten von vor Ort über den Syrien-Konflikt. Die mediale Berichterstattung wird dadurch zunehmend dominiert von ideologisch geleiteten Berichten, Schmierfinken und den sogenannten "eingebetteten Journalisten".

Die Lichter gehen aus in Syrien. Peter Kassig ist das jüngste Opfer, das der Dunkelheit erlag. David Haynes, Steve Satloff und James Foley sind vor ihm gegangen. Sie alle waren nach Syrien gegangen, um zu helfen – und Zeugnis über die Geschehnisse dort abzulegen. Die noble Größe der Menschen, die der IS getötet hat, ist somit auch ein Maß für die Abscheulichkeit seiner Handlungen. Die internationalen Medien haben diese schrecklichen Morde zu Recht verurteilt.

Für den „Islamischen Staat“ (IS) ist Mord ein politischer Akt. Er ist aber zugleich auch Inszenierung – ein Spektakel, um der politischen Botschaft Nachdruck zu verleihen. Der rituelle Akt des Mordens – zumal des Mordes an einem Westler – sichert die internationale mediale Aufmerksamkeit. Auf diese Weise erzwingt der IS Aufmerksamkeit.

Das Auftauchen des IS war ein Gottesgeschenk für das syrische Regime. Der IS ist jenes Monster, das das Regime seinen Behauptungen nach immer bekämpft hat. Ideologen, die jene offizielle Sprachregelung des Regimes über Jahre hinweg wiederholt und verbreitet haben, bezeichnen den IS nun als das wahre Gesicht der Opposition. Nicht erwähnt wird hingegen die Tatsache, dass der IS bis vor kurzem seine erbittertsten Kämpfe gegen ebenjene Opposition geführt hat. Tatsächlich hatten die Rebellen die Terrormiliz in diesem Jahr bereits aus Idlib, Deir Ezzor, großen Teilen von Aleppo und den Gebieten um Damaskus herum vertrieben. Erst nach seinen Erfolgen im Irak und dank des neu erworbenen Waffenarsenals konnte der IS triumphierend nach Syrien zurückkehren. Doch für viele westliche Intellektuelle ist der IS lediglich Teil eines undifferenziert betrachteten, radikalen Widerstands gegen Bashar al Assads säkulares Regime.

Tatsächlich hat der IS jedoch weit mehr Gemeinsamkeiten mit dem Regime selbst. Es ist eine totalitäre Organisation, die Terror als Mittel nutzt, um Kontrolle auszuüben. Das Regime tötet, übernimmt aber nur ungern die Verantwortung für diese Taten; der IS hingegen feiert seine Morde. Das Regime tötet in einem größeren Umfang, aber der IS inszeniert seine Handlungen in größerem Stil. Die Botschaften hinter den Taten des Regimes richten sich an das eigene Volk; der IS hat transnationale Ambitionen. Entscheidend ist auch und vor allem, dass der IS das internationale System in seiner Gesamtheit ablehnt – das syrische Regime sieht sich im Gegensatz dazu als dessen unverzichtbarer, wenn auch skrupelloser Beschützer. Für die Medien jedenfalls ist der IS die spannendere Story.

Nicht auf der Suche nach Geschichten

Die mediale Selektivität macht sich aber auch an anderer Stelle bemerkbar: Foley und Satloff sind nicht die einzigen Journalisten, die der IS getötet hat: es hat weit mehr von ihnen gegeben – Iraker und Syrer – deren Namen der Welt jedoch unbekannt bleiben. Und der IS ist nicht die einzige Macht, die in Syrien Journalist/innen und Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen ermordet: Das Assad-Regime tut das bereits seit deutlich längerer Zeit.

Der syrische Alptraum hat sich mit einer solchen Geschwindigkeit und Intensität entwickelt, dass die Gräuel eines Tages jene des Vortages in den Schatten stellen und verdrängen. Nun, da der IS die mediale Berichterstattung dominiert, fällt es dem Publikum vermutlich schwer, sich daran zu erinnern, dass die Strategie der Ermordung westlicher Journalist/innen in Syrien ebenso alt ist wie der Konflikt selbst. Sie wurde bereits lange angewandt, bevor auch nur ein Jihadi den Fuß auf syrisches Territorium gesetzt hatte. Jahre bevor hier je etwas vom IS bekannt war, tötete das Regime Marie Colvin von der Sunday Times gemeinsam mit dem Fotografen Rémi Ochlik, indem es die Artillerie in das Viertel Baba Amr in Homs schickte. Einen Monat zuvor hatte es Gilles Jacquier von France 2 ermorden lassen.

Von Anfang an hat Damaskus versucht, die Kontrolle über die Berichterstattung zu behalten, indem es die Arbeit für ausländische Journalist/innen lebensgefährlich machte – außer sie waren „eingebettet“. Einige haben sich auf dieses Arrangement eingelassen. Andere hingegen waren nicht bereit, ihre Objektivität zu kompromittieren und gefährdeten ihr Leben für unabhängige Berichterstattung. Die meisten jedoch halten sich ganz fern – und verlassen sich auf freie Korrespondent/innen, Aktivist/innen und „Bürgerjournalist/innen“. Abgesehen von den Wenigen, die viel riskiert haben, um aus den Teilen des Landes zu berichten, die nicht vom Regime kontrolliert werden, ist die Berichterstattung generell kläglich.

Während manche Skype, Youtube oder Twitter nutzten, um Material für Berichte zu sammeln, haben andere sogar Anstrengungen unternommen, Realität aus Allgemeinplätzen ab- und herzuleiten: sie ignorierten die besonderen Umstände und hielten sich an orts- und zeitunabhängige Ideologien. Je weniger Journalist/innen nach Syrien reisten, desto stärker dominierten die Klischees die westliche Berichterstattung. Diese Art der Berichterstattung hatte auch weit weniger Schwierigkeiten damit, sich in das Regime „einbetten“ zu lassen. Jene Journalisten und Journalistinnen reisen nicht nach Syrien, um nach einer Story zu suchen – sie bringen vielmehr eine Story mit und versuchen lediglich, diese zu bestätigen.

Schmierfinken brauchen Ausgeglichenheit

Neben den ideologisch geleiteten Journalist/innen sind da aber auch noch die Schmierfinken. Während erstgenannte sich durch ihre Dogmen auszeichnen, charakterisieren die Schmierfinken eher ihre Vorgehensweisen: Im Journalismus gilt allgemein das Ziel, objektiv zu berichten – und für die meisten Journalistinnen und Journalisten ist jene Objektivität durch bestimmte prozedurale Regeln bestimmt. Objektiv zu sein bedeutet Fairness, Überparteilichkeit und Ausgeglichenheit. Doch Fairness und Überparteilichkeit lassen sich nur konkret nachweisen – Ausgeglichenheit hingegen ist messbar. Aus diesem Grund machen die Schmierfinken das Kriterium der Ausgeglichenheit zum maßgeblichen Indikator ihrer Objektivität. Doch so nützlich Ausgeglichenheit in der Regel ist: Herrscht eine starke Ungleichheit der Akteure vor, kann eine erzwungene Balance das Bild verzerren.

In Sachen Syrien hat das Streben der Schmierfinken nach Ausgeglichenheit ein falsches Bild des Konflikts erzeugt. Oft hört man das liberale Lamento, dass „beide Seiten“ des Konflikts gleichermaßen schlecht wären. Aber in diesem Konflikt existieren jene beiden „gleichermaßen“ bösen Seiten nicht. Denn ein Staat mit seinem Apparat, seinen Hierarchien und Kommandoketten steht hier einer diffusen, dezentralisierten Organisation von Rebellen gegenüber. Verbrechen, die ein Staat begeht, spiegeln stets eine politische Strategie wider, indessen es sich auf Seiten dezentraler Organisationen um Verbrechen einzelner Gruppierungen oder Individuen handelt. Die Verbrechen des Regimes sind im großen Stil angelegt und anhaltend – die der Opposition hingegen vereinzelt und sporadisch.

Das entschuldigt sie nicht. Alle Verbrecher, ob auf Seiten der Rebellen oder des Regimes, müssen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Aber ein falscher Begriff von Balance läuft Gefahr, die Proportionen aus dem Blick zu verlieren.

Am 11. September 2013 kam der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, Paulo Sérgio Pinheiro, zu dem Schluss, dass das Regime bis August 2013 mindestens acht große Massaker verübt habe; die Rebellen seien für eines verantwortlich. Auch der Siegeszug und die extreme Brutalität des IS haben dieses Verhältnis nicht grundlegend geändert. Im darauffolgenden Jahr bemerkte Pinheiro, dass trotz der extremen Gewalt des IS das Regime von Assad „weiterhin für den Großteil der zivilen Opfer, sowie für die Tötungen und Verstümmelungen von Zivilisten verantwortlich bleibt.“

Das überrascht nicht, denn das Regime verfügt über Luftwaffe, Panzer und schwere Artillerie plus Raketen und zögert nicht, sie gegen die Bevölkerung einzusetzen.

In Begleitung bewaffneter syrischer Streitkräfte

Doch so offensichtlich monströs die Handlungen des Regimes auch sind, es ist ihm stets gelungen, Journalist/innen zu finden, die Zweifel säen. Durch das Prisma ideologischer Verblendung erscheint jeder skrupellose Akt der Repression seitens des Regimes als Angriff auf den westlichen Imperialismus oder den islamistischen Fundamentalismus – ungeachtet der Widersprüche, die zwischen diesen beiden Feindbildern bestehen. Hier werden nicht mehr nur die tatsächlichen Ereignisse untersucht, sondern in einen konstruierten, imaginären Kontext eingeordnet: Assad führe keinen Krieg gegen die syrische Bevölkerung, wird uns glauben gemacht, sondern gegen Anhänger einer imperialistischen Kraft, die versuchen, ihn als Teil der „Achse des Widerstands“ zu brechen.

Nur ein solcher Akt der kreativen Imagination kann erklären, dass selbst altgediente Journalisten wie Charles Glass Assad als Underdog begreifen (in der NY Revue of Books) und einer vom Regime verübten Giftgasattacke etwas Positives abgewinnen können:

„Die Einführung von chemischen Waffen, die mutmaßlich nicht allein vom Regime, sondern auch von den Rebellen eingesetzt wurden, war nur die dramatischste Eskalation in einem Kampf, in dem beide Gegner versuchen, den anderen auszulöschen.“

Nach der eleganten Formulierung „Einführung“ verfällt Glass in den passiven Gestus „mutmaßlich“ und weicht somit der Klärung aus, wer den Rebellen die Verwendung nachgesagt hat. Die UN und die OPCW haben solche Mutmaßungen nicht angestellt. Das Regime vielleicht?

Doch es kommt noch schlimmer:

Als Nächstes erzählt uns Glass, dass die Giftgasattacke „unerwartet zur Hoffnung auf einen Ausweg geführt hat“. Denn die Russen drängten nun darauf, dass Assad sein Arsenal chemischer Waffen aufgäbe. Glass lobt die Russen, die „Präsident Assad“ nach Genf gebracht hätten, und kritisiert die USA und ihre Alliierten, die nur „langsam Einfluss auf die Milizen nähmen, welche von ihnen finanziert werden“. Assads Einsatz von Giftgaswaffen gegen die eigene Bevölkerung ist ihm also Anlass zur Hoffnung, indessen die USA die eigentlichen Aggressoren sind.

Der gutgläubige Robert Fisk

Übertroffen wird Glass vom Auslandskorrespondenten des Independent Robert Fisk. Der hat sich vom Regime einbetten lassen und berichtete kurz nach den Anschlägen, „dass nun Informationen in der Stadt kursierten, die von den Russen gestützt und von einem Ex-Offizier der Spezialeinheiten bekräftigt werden, die mit der 4. Division der Syrischen Armee zusammenarbeitet.“ Der Ex-Offizier gelte als „eine verlässliche Quelle“ (bei wem?). Diese „verlässliche Quelle“ nun sage ihm, dass die Rebellen verantwortlich seien.

Fisks Gutgläubigkeit korrespondiert mit seiner Ethik. Im August 2012, nach dem Massaker von Daraja, dem nach Schätzung mehr als 500 Menschen zum Opfer fielen, fuhr er in einem bewaffneten Transporter der Syrischen Armee in die Stadt, um Überlebende zu interviewen. Er kam zu dem Schluss, „dass eher bewaffnete Aufständische als syrische Truppen“ für das Massaker verantwortlich seien. Human Rights Watch kam nach seiner eigenen Untersuchung des Massakers zu anderen Ergebnissen. Und als die vielfach ausgezeichnete Kriegsreporterin Janine di Giovanni die Stadt ohne Armeebegleitung besuchte, erhielt sie detaillierte Angaben zum Hergang des Massakers – das entweder von Uniformierten oder regimetreuen Milizen verübt worden ist. Ihr Bericht erschien im Guardian.

Cockburns flexible Fakten

Auch Patrick Cockburn, ein Kollege von Fisk beim Independent, ist vielfacher Preisträger. Er berichtet seit 1979 aus dem Nahen Osten. Sein Buch „The Jihadi’s Return“ (2014) erfreut sich eines großen Erfolgs. Für Cockburn hat der IS wenig mit dem Regime zu tun, sondern ist ein Seitenprodukt der Entscheidung des Westens und der mit ihm verbündeten Golfstaaten, den Aufstand gegen Assad unterstützen.

Er findet es absurd, dass der Westen die irakische Regierung gegen den IS unterstütze und gleichzeitig das Assad-Regime schwächen wolle. Cockburn betrachtet das syrische Regime als den einzigen Akteur, der es mit dem IS aufnehmen könne. Eine noch kontroversere These Cockburns ist die, nach welcher die Freie Syrische Armee ein Komplize des IS sei. Bei dieser aufrührerischen Behauptung beruft er sich auf einen Offizier des Nachrichtendienstes „eines syrischen Nachbarlandes“. (Man beachte, dass Cockburn hier zum ersten und einzigen Mal nicht explizit das Land nennt. Seine beliebteste Quelle ist der mit Assad verbündete irakische Nachrichtendienst).

Doch Cockburns Problem sind nicht nur seine Quellen. Wie auch Fisk nimmt er sich gewisse Freiheiten bei den Fakten. Auf Seite 76 seines Buches schreibt er: „Ich sah JAN-Kräfte (Jabhat al-Nusra), wie sie einen Häuserkomplex durch ein Entwässerungsrohr stürmten, das hinter den Regierungslinien aus dem Boden kam, und damit fortfuhren, Alawiten und Christen zu töten.“

Wenn er selbst das beobachtet hätte, wäre das eine Sensation gewesen – denn abgesehen vom syrischen Regime selbst brachte nur der russische Staatssender RT (Russia Today) diese Nachricht. Der hatte allerdings falsche Bilder zur Illustration verwendet. Human Rights Watch und Amnesty International fanden für das mutmaßliche Massaker keine Beweise.

Liest man jedoch Cockburns ersten Bericht über diesen Zwischenfall, der am 28. Januar 2014 in seiner Kolumne im Independent veröffentlicht wurde, nennt er „einen syrischen Soldaten, der sich selbst Abu Ali nannte“ als Zeugen für die oben genannte Geschichte. In dieser Version aber war nicht Cockburn selbst der Zeuge.

Von einer Verschwörungstheorie kopiert

Der vielleicht ungeheuerlichste Fall journalistischen Fehlverhaltens stammt von einem der meistgefeierten Journalisten: dem Pulitzerpreisträger Seymour Hersh. In zwei Aufmachern der geschätzten London Review of Books behauptet er, dass eher die Rebellen als das Regime für die Chemiewaffeneinsätze verantwortlich sein dürften. Seine Quelle: „ein früherer Nachrichtendienstoffizier“.

Allerdings widersprechen die noch existierenden Daten der UNO und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) Hershs Theorie (was ich bereits in einer ausführlichen Untersuchung für die Los Angeles Review of Books gezeigt habe). Aber die Story, die Hersh an den Mann gebracht hatte, zirkulierte bereits im Internet. Urheber dieser Geschichte war eine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter des Nachrichtendienstes – unter ihnen einige, die Hersh häufig als Quellen dienen.

Ihre Behauptungen hatte Hersh folgendermaßen zusammengefasst:

„Laut vielen Quellen im Nahen Osten – meistens der syrischen Opposition und ihren Unterstützern zugehörig –, gibt es zunehmend Beweise dafür, dass der Einsatz chemischer Waffen am 21. August eine geplante Provokation der Opposition und ihrer saudischen und türkischen Unterstützer war.“

Das war am 06. September. Am 01. September hatte die kanadische Verschwörungstheorie-Seite globalresearch.ca einen Artikel von Yossef Bodansky veröffentlicht, der eine Beteiligung der USA nahelegte. Er beginnt so:

„Es gibt zunehmend neue Beweise laut vielen Quellen im Nahen Osten – meistens der syrischen Opposition und ihren Unterstützern angehörig –, die sehr dafür sprechen und auf soliden Beweisen der Umstände basieren, dass der Einsatz chemischer Waffen am 21. August eine vorbereitete Provokation der syrischen Opposition war.“

Ganz offensichtlich haben die Mitarbeiter/innen des Nachrichtendienstes abgeschrieben. Deren Behauptungen waren das Hirngespinst von Verschwörungstheoretikern – und dem renommierten Journalisten fiel das nicht auf.

Der syrische Bürgerkrieg ist auch für Journalisten und Journalistinnen ein tödlicher Konflikt. Er hat bislang 70 von ihnen das Leben gekostet. Nur wenige von ihnen sind noch bereit, sich dorthin zu begeben – es sei denn, sie sind Gäste des Regimes. Diejenigen, die diesen Kompromiss eingegangen sind, haben im Gegenzug medialen Einfluss gewonnen – trotz der kompromittierten Natur des Journalismus, für den sie stehen und dessen Produkte sie verbreiten. Sie formen somit die öffentliche Meinung und beeinflussen sogar politische Entscheidungen. Wir müssen uns vor denen in Acht nehmen, die den syrischen Konflikt als Gelegenheit sehen, ideologische Rechnungen zu begleichen.
 

Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien bereits am 25. November 2014 auf taz.de