Laudatio: Es gibt uns! Aber wird die Welt an uns glauben?

Petra Stienen
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Petra Stienen bei der Verleihung des Petra-Kelly-Preis 2014

Als ich sechzehn war sah ich Das Mädchen mit dem roten Haar, einen niederländischen Film über Hannie Schaft, eine der bekanntesten Heldinnen des holländischen Widerstands während des Zweiten Weltkriegs. Mich berührte damals der Mut dieser Frau, die es wagte, den Besatzern Widerstand zu leisten und für die Befreiung der Niederlande zu kämpfen. Und ich erinnere mich an eine Diskussion im Unterricht, in der es um die Frage ging: Was würdest Du unter solchen Umständen tun? – Hätte ich den Mut gehabt, Widerstand zu leisten, wäre mein Land besetzt worden oder litte es unter der Knute einer Diktatur?

Für Razan Zeitouneh, Samira al-Khalil, Wael Hamade und Nazem Hammadi war dies nie ein bloßes Gedankenspiel. Schon lange bevor die syrische Revolution im Frühjahr 2011 begann, war die Frage „Was tun?“ ein fester Bestandteil ihres Lebens.

Samira, Wael und Nazem habe ich nie kennengelernt. Von Samira weiß ich ein wenig aus Gesprächen mit ihrem Mann, Yassin al-Haj Saleh, und durch den Film Our Terrible Country von Ali Atassi und Ziad Homsi, den wir im Anschluss an diese Veranstaltung sehen werden. Entschuldigen Sie also bitte, wenn ich mich in meiner Rede vor allem auf jene Person konzentriere, die ich kennengelernt habe und die mir, als ich von 1999 bis 2004 in der niederländischen Botschaft in Damaskus arbeitete, geholfen hat, die Menschenrechtslage in Assads Syrien zu verstehen.

Zum ersten Mal ist mir Razan im Jahr 2001 begegnet. Sie war damals Praktikantin im Büro von Haytham al-Maleh – auch sie eine bekannte Menschenrechtsaktivistin. Anfänglich machte Razan einen schüchternen Eindruck, aber als wir darüber sprachen, welchen Preis die Menschen in Syrien für die Diktatur Assads bezahlen, merkte ich, hinter diesem schüchternen Auftreten verbarg sich ein loderndes Feuer. In den Folgejahren wurde Razan eine der wichtigsten jener Anwältinnen und Anwälte, die sich für die Rechte politischer Gefangener einsetzen. Sie gründete Organisationen wie den Syrischen Verband für Menschenrechte und den Syrischen Informationsverbund Menschenrechte. Bei allem was sie tat war der Schwerpunkt, Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu dokumentieren – in der Hoffnung, dass die Täter eines Tages nicht mehr ungeschoren davonkämen und die Herrschaft der Angst ein Ende nehmen werde.

 

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2. Was tun die Anderen?

Es hat mich nicht überrascht als ich hörte, Razan spiele bei der syrischen Revolution eine entscheidende Rolle. Fast schien es, als habe sie sich ihr gesamtes Berufsleben lang nur darauf vorbereitet. Zusammen mit vielen anderen Aktivistinnen und Aktivisten gründete sie das Violations Documentation Center (VDC), und auch an der Gründung der Örtlichen Koordinations-Komitees war sie beteiligt. Mit dem Violations and Documentation Center wurde versucht, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, gleich welche Seite sie begangen hatte, das Regime, die Opposition oder islamistische Extremisten.

Gemeinsam mit ihrem Mann Wael, ihren Freunden und Kollegen Samira und Nazem und vielen anderen arbeitete Razan mit zivilgesellschaftlichen Organisationen im belagerten Osten von Ghuta. Ihnen war klar, um für die Revolution zu arbeiten, muss man mit den Menschen auf Tuchfühlung gehen – muss man wissen, was die Menschen wollen, die so lange unter Assads Regime gelitten haben. Die Aktivistinnen und Aktivisten in Syrien handelten wie die Widerstandsheldinnen meiner Jugend. Sie informierten die Menschen, organisierten Demonstrationen, kümmerten sich um Verwundete und leisteten, wo nur möglich, humanitäre Hilfe.

Dabei verstanden sie sehr genau, dass bloßer „Klicktivismus“ (das heißt, die Annahme, Revolution könne durch Tweets und „Likes“ auf Facebook gemacht werden) zu keinem echten Wandel führen kann. Allerdings stellte Razan, zu einer Zeit als sie bereits im Verborgenen lebte, Fotos von niedlichen Katzen auf ihre Facebook-Seite – Katzenbilder, die in seltsamem Widerspruch zur dunklen Seite der Revolution standen, zu einer Zeit als die Gewalt eskalierte.

Denen, die im VDC aktiv waren, war klar, herkömmliche oder soziale Medien sowie digitale Aktionen sollten immer als Mittel verstanden werden, mit deren Hilfe man sich für sehr viel weiterreichende Ziele einsetzt. Für das VDC bestand dieses Ziel darin, Informationen über Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und auszutauschen, damit die Täter in Syrien nicht ungeschoren davonkämen.

Razan steht nicht nur symbolisch für die syrische Revolution als gewaltlose Bewegung gegen das Assad-Regime, sie zeigt auch, welch wichtige Rolle Frauen bei dieser Revolution spielen. Wo nur möglich, versuchte sie westlichen Medien zu vermitteln, die syrische Revolution sei eine friedliche, gewaltlose Bewegung von Menschen, denen es alleine darum geht, einen brutalen Diktator zu stürzen. Für ihre unermüdlichen Anstrengungen verlieh ihr 2011 das Europäische Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit.

Razan aber war – daran hat sich vermutlich nichts geändert – an Auszeichnungen nicht interessiert. Als ein Freund sie fragte, ob sie der Nominierung für die angesehene niederländische „Menschenrechtstulpe“ zustimmen würde, brachte sie sofort einen anderen Namen ins Spiel, denn ihr lag nicht daran, für etwas, das ihr ganz gewöhnlich schien, ins Rampenlicht gestellt zu werden. In einem unserer letzten E-Mail-Wechsel fragte ich sie, was sie bei der Stange halte, und sie antwortete: „Ich arbeite für den Traum vom Morgen. Ich kann gar nicht aufgeben, denn meine Achtung für das, was vor mir Generationen von Menschen in Syrien durchmachen mussten, ist viel zu hoch.“



3. Was können wir tun?

Als man mich bat, diese Rede zu halten, zögerte ich anfangs, denn ich will, dass die Aktivisten aus Syrien selbst zu Wort kommen. Dann aber wurde mir klar, wie wichtig es ist, dass sich Aktivisten, Interessierte, Autoren und Verfechter der Menschenrechte mit Syrien solidarisch erklären – denn was in Syrien geschieht, hat viel damit zu tun, wer wir als Europäer sind. Wie verhalten wir Bürgerinnen und Bürger Europas uns, wenn auf der anderen Seite des Mittelmeers ein furchtbarer Krieg ausbricht? Dies ist nicht der Ort, darüber zu streiten, ob die internationale Gemeinschaft in Syrien hätte militärisch eingreifen sollen, sei es im Jahr 2011 oder 2013 (nach dem Einsatz von Giftgas in Ghuta) oder heute im Kampf gegen ISIS/Daesh.

Dies ist aber der Ort, an dem wir uns fragen müssen, ob wir als europäische Bürgerinnen und Bürger unsere Regierungen dazu bringen können, ihre Syrienstrategie so zu ändern, dass auch die Stimmen von Aktivisten wie der Douma 4 und vieler anderer Gehör finden. Wir müssen unsere Regierungen fragen, was die internationale Gemeinschaft getan hat (soll heißen, Europa, die USA und ähnlich gesinnte Länder – denn Russland und China stehen offensichtlich nicht auf der Seite des syrischen Volks). Wie hat man Aktivisten wie Razan, Samira, Wael und Nazem unterstützt? Muss uns die halbherzige Reaktion der internationalen Gemeinschaft, muss uns die oft gezeigt kalte Schulter heute nicht leidtun? Während der ersten Monate der syrischen Revolution glaubten nicht viele an ihren Erfolg. Hatten sich allzu viele unserer Politiker, Entscheider und Meinungsmacher von der Außendarstellung Assads und seiner Frau Asma einlullen lassen – einer PR, die das Regime als weltlichen Staat verkaufte, das religiösen Minderheiten und Frauen Schutz bot?

Wie kann man dergleichen noch für bare Münze nehmen – nach beinahe vier Jahren in denen das Regime gemordet und Gräueltaten begangen und Chemiewaffen gegen das eigene Volk eingesetzt hat? Nachdem das Regime stillschweigend einen Schrecken unterstützt, der sich unaufhaltsam auszubreiten scheint? Und nachdem Millionen von Syrerinnen und Syrern in Nachbarländer geflohen sind? Und bevor noch jemand über die Tatsache frohlockt, dass inzwischen weniger Menschen aus Syrien fliehen, sollten wir an die Millionen von Binnenflüchtlinge denken – an Menschen, die alles verloren haben, und die häufig keine humanitäre Hilfe erreicht, denn das Regime lässt solche Hilfseinsätze im Norden des Landes nicht zu, noch an Orten wie Jarmuk und in anderen eingekesselten Gebieten. Die Tötungsmaschinerie des Regimes und die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft hat im Westen die morbide Faszination noch gesteigert, die von Daesh (ISIS) ausgeht, und sie bereitet in Syrien dem Nihilismus den Boden und damit einer Einstellung, die den Extremismus begünstigt. In Europa fürchten wir die Rückkehr der Dschihadisten, aber können wir uns überhaupt vorstellen, was das in Syrien bedeutet – an Orten, wo die Menschen von solchen Gruppen so lange drangsaliert werden, bis sie sich unterwerfen?

Noch einmal frage ich: Was haben wir getan, um zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten in Syrien zu unterstützen? Gab es in den europäischen Hauptstädten überhaupt eine langfristige Strategie? Wie viel von den Millionen, die für zivilgesellschaftliche Aktivitäten ausgegeben wurden, dienten tatsächlich der Stärkung syrischer Gruppen und Aktivisten? Unterstützung für die Syrische Nationalkoalition, Koordinations-Komitees, örtliche Initiativen oder ‚gemäßigte bewaffnete Gruppen’ war meist kurzfristig und erfolgte oft zufällig. Zwar betonen europäische Hilfsorganisationen immer sehr, die Empfänger von Hilfsleistungen müssten transparent und nachhaltig handeln; geht es allerdings um sie selbst, scheinen diese Prinzipien weit weniger gewissenhaft befolgt zu werden.

Es wäre falsch zu glauben, wir könnten nichts tun. Tatsächlich ist es ganz simpel: Wir sollten den Syrern vertrauen und sie unterstützen, denn wer wenn nicht sie kann die zukünftige Geschichte ihres Landes schreiben?

Die internationale Gemeinschaft muss endlich aufwachen und erkennen, dass es eine dritte syrische Erzählung gibt – eine Erzählung, die davon handelt, dass die Menschen in Syrien im gleichen Maße Menschen sind wie wir. Yassin al-Haj Saleh, der Mann von Samira al-Khalil, sagte einmal: „Der Westen sieht uns nicht – weshalb wir beweisen müssen, dass es uns gibt. Es gibt uns, das schwöre ich!

Die Frage ist, sind wir gewillt solchen Beweisen Glauben zu schenken? Warum ist fast jedes Posting von zivilgesellschaftlichen Aktivisten aus Syrien mit dem Kommentar gekennzeichnet „Bilder, deren Authentizität nicht nachgeprüft werden kann“, wenn andererseits jedes Video, das Daesh/ISIS auf YouTube hochlädt, als die reine Wahrheit über Syrien gilt? Warum wurde ein Video mit Razan, aufgenommen vier Tage bevor sie und die Anderen entführt wurden, nur etwa 6.000-mal angesehen? Interessieren wir uns wirklich mehr für Enthauptungsvideos als für Aufrufe mutiger Syrerinnen und Syrer, die Freiheit und Gerechtigkeit fordern?

Was also können wir tun – sie alle hier, die Presse, die Öffentlichkeit, Entscheider und Politiker – was können wir tun, um dieser Erzählung Gehör zu verschaffen, einer Erzählung die sich sehr von den beiden anderen, oft gehörten Erzählungen unterscheidet, nämlich der von Assad als dem „Teufel den wir kennen“ und der von den unbekannten Teufeln mit den langen Bärten, die sich selbst „Islamischer Staat“ nennen.

Anmerkung: Ich möchte vorschlagen, nicht den Begriff ISIS, sondern stattdessen „Daesh“ zu verwenden. „Daesh“ ist die arabische Abkürzung für ‚Islamischer Staat im Irak und in Sham’, wobei „Sham“ Levante bedeutet. Für arabischsprachige Menschen hat Daesh einen negativen Beigeschmack, und die sogenannten Anhänger des IS lehnen die Bezeichnung ab, da der für sie entscheidende Begriff „Islamisch“ darin nicht sichtbar ist. Hinzu kommt, dass der Plural „Dawa’ish“ einen Eiferer bezeichnet, der Anderen seine Vorstellungen aufzwingt. Daesh bezeichnet damit für mich das, was die Organisation tatsächlich ist – eine kriminelle Vereinigung, die sich auf bestimmte Aspekte des Islam beruft, um das syrische und irakische Volk zu terrorisieren – wenn nicht die gesamte Menschheit.

Es liegt in der Natur des Menschen, dass uns Dinge, die uns näher sind auch stärker berühren. Das bedeutet jedoch nicht, wir sollten über jene schweigen, die die Gewalt von Daesh und dem Assad-Regime unmittelbar betrifft. In unseren Medien ist die Sorge allgegenwärtig, dass sich europäische Dschihadisten nach Syrien absetzen. Die Stimmen der Angst und die brutalen, vom Hass gesteuerten Taten von Daesh durchziehen unsere Nachrichten und sind auf zahllosen YouTube-Clips zu sehen. Die Stimme des Diktators, der Schuld trägt am Tod von 200.000 seiner Landsleute, ist mehr als ein Flüstern jenes Teufels den wir kennen.

Die dritte Erzählung muss bekannter werden. Ab heute und bis zum 9. Dezember, wenn sich der traurige Tag jährt, an dem Razan, Samira, Wael und Nazem entführt wurden, wird eine Aktion stattfinden, durch die auf ihre schlimme Lage hingewiesen und Regierungen durch öffentlichen Druck dazu gebracht werden sollen, auf jene Länder einzuwirken, die Einfluss auf die mutmaßlichen Entführer der vier haben.

Ich hoffe, dass der Petra-Kelly-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung für das VDC / die Douma 4 die Geschichte von Razan, Samira, Wael und Nazem und ihrer Arbeit für ein besseres, gerechteres und freieres Syrien bekannter macht.

Es ist an der Zeit, dass diese andere Erzählung bekannt wird, dass die Stimmen jener gehört werden, die verkörpern, was sich viele Syrer zu Beginn der Revolution wünschten – ein Leben in Würde, ein Leben in Freiheit. Haben wir zugehört und haben wir erfahren, was diese Menschen wollen, dann können wir auch etwas tun – wir können dazu beitragen, dass die Arbeit des VDC sowie von Razan und ihren Kolleginnen und Kollegen bekannter wird. Gleich wie schwierig es auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist, das Violations and Documentation Center versucht, seine Arbeit fortzuführen. Dafür verdient es unsere moralische und finanzielle Unterstützung. Einmal wird der Krieg in Syrien enden. Dann wird es an den Menschen in Syrien sein, ihre Gesellschaft wieder aufzubauen. Wir können ihre Vision einer neuen Zukunft unterstützen, indem wir zivilgesellschaftlichen Organisationen in Syrien sowie syrische Aktivistinnen und Aktivisten im In- und Ausland tatkräftig und langfristig helfen. Tun wir das, werden wir eines Tages zu Razan, Samira, Wael und Nazem sagen können: „Ihr wart vielleicht für eine Weile weg, eure Arbeit aber wurde fortgeführt, denn wir haben an das geglaubt, was ihr verkörpert.“

Um zum Ende zu kommen: Yassin al-Haj Saleh sagte mir vergangenen Sonntag via Skype: „Weißt du was Samira so besonders macht? Sie liebt die Einsamkeit – und gleichzeitig ist sie eine großartige Zuhörerin. Sie ermutigt die Menschen dazu, ihr Herz auszuschütten. Deswegen lieben die Menschen sie.“

Ich wage zu glauben, dass ich für alle hier spreche, wenn ich sage, wir alle hoffen, dass wir eines Tages, lieber heute als morgen, zu Samira, Razan, Wael, Nazem und den Zehntausenden anderen politischen Gefangenen, die die Schergen des Regimes verhaftet oder Extremisten entführt haben, sagen können, dass wir ihre Arbeit in ihrem Geiste fortgeführt haben – die Menschen in Syrien gemeinsam mit ihren europäischen Freunden –, um ein Syrien aufzubauen, in dem alle Bürgerinnen und Bürger frei sind und gerecht behandelt werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
 

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