Eingleisige Linke

Malala Yousafzai und Martin Schulz im Europäischen Parlament bei der Verleihung des Sakharov Preisses
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Malala und die Schurken: Für ihre öffentlichen Auftritte mit westlichen Politikern wird Malala Yousafzai sehr kritisiert

Am 10. Dezember 2014 wird Malala Yousafzai der Friedensnobelpreis verliehen. Von linken Publizist/innen und Politiker/innen in Pakistan wird die junge Frau scharf kritisiert. Doch sie machen es sich zu leicht, sagt der Essayist Pervez Hoodbhoy. Ein Kommentar.

Auch Interessen des Westens können manchmal intelligent genutzt werden, um Themen voranzubringen, die für Menschen weltweit wichtig sind.

Ihr Charme und ihre Wortgewandtheit haben Arundhati Roy zur Ikone linker Politik weltweit gemacht. Als sie jedoch von Laura Flanders gefragt wurde, was sie vom diesjährigen Friedensnobelpreis hält, schien sie eine lebendige Kröte schlucken zu müssen: „Na ja, das ist eine schwierige Frage. Malala ist ein tapferes Mädchen und ich meine, sie hat vor Kurzem sogar zum ersten Mal die US-Invasionen und Bombenangriffe kritisiert … aber sie ist noch ein Kind und man kann ihr das, was sie gemacht hat, nicht vorwerfen…. Das große Spiel geht weiter … sie wählen die Gewinner [des Nobelpreises].“ Von jemandem, der weltweit so wunderbar die Interessen der Menschen vertreten hat, ist eine solche oberflächliche und herablassende Antwort sehr enttäuschend.

Farzana Versey, linke Publizistin und Aktivistin in Mumbai, war noch weniger großzügig. Sie bezeichnet Malala als „eine von einem Kokon umgebene Marionette“, die man den Gutmeinenden, aber Leichtgläubigen untergejubelt habe Außerdem kritisiert sie Malala unter anderem scharf für die Tatsache, dass sie in ihrer Rede vor den Vereinten Nationen auch das Thema Kinderarbeit angesprochen hat: „Sie hat nicht gemerkt, dass sie gerade selbst ein Opfer von Kinderarbeit ist, wenn auch in den saubergeschrubbten Räumen eines akzeptierten intellektuellen Striptease.”

Jetzt aber bitte mal halblang! Das „Kind“, die „von einem Kokon umgebene Marionette“ wird nicht weltweit bewundert, weil sie die von den USA geführten Kriege kritisiert, oder sich gegen Kinderarbeit ausspricht oder sich für eine andere, zweifellos „gute Sache“ einsetzt. Die Kugel, die in Malalas Schädeldecke drang, wurde abgefeuert, weil sie sich gegen das Dekret der Taliban gestellt hat, dass es nach dem 15. September 2009 im Swat-Tal keine Bildung für Mädchen mehr geben dürfe und weil sie unermüdlich für das Recht jedes Mädchens auf Bildung gekämpft hat.

Der Westen als Erzfeind der Linken

Es ist offensichtlich, warum Malala bis in alle Ewigkeit von ihren linken Kritikern verdammt werden wird: Sie ließ sich zusammen mit Männern fotografieren, die als Schurken gelten, darunter Barack Obama, Gordon Brown, Ban Ki Moon und Richard Holbrooke. Ebenso offensichtlich ist, dass sie den Friedensnobelpreis – immer eine hochpolitische Angelegenheit – nie ohne die Unterstützung aus den Machtzentren des Westens erhalten hätte. Grund genug für viele der Linken, Malalas Kritik an den Drohnenangriffen in Pakistan und ihre 50.000 Dollar Spende aus ihrem Preisgeld zum Wiederaufbau von Schulen in Gaza als durchsichtige PR-Aktionen abzutun.

Es überrascht nicht, dass die Rechten in Pakistan die linke Kritik an Malalas Nobelpreis nur zu gerne aufgegriffen haben, stützt sie doch das Narrativ, von dem viele meiner Landsleute überzeugt sind. Aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen – viel stärker als politischen – Gründen hassen sie den Westen sogar noch mehr als den Erzfeind Indien. In den Wochen nach dem Überfall höhnten mehrere meiner Studenten, Malala Yousafzai sei eine Malala „Dramazai“, andere nannten sie ein „Illuminati Psy Op“, ein willfähriges Werkzeug des Westens, um Pakistan schlechtmachen und als übertrieben gefährlich darstellen zu können. Viele zweifelten sogar, dass man überhaupt auf sie geschossen habe, denn die Taliban wissen doch, wie man tötet.

Auch der Staatsapparat in Pakistan hegt eine versteckte, aber umso tiefere Feindschaft gegen Malala. Die Regierung hat zwar die Preisvergabe offiziell begrüßt, ein Antrag in der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa, Malala zu würdigen, wurde jedoch vorerst von der Opposition verhindert. Ein anderer Antrag dagegen wurde angenommen, nämlich die Forderung an die US-Regierung, Dr. Aafia Siddiqui, freizulassen, die „Tochter Pakistans“, eine verurteilte Anhängerin der Al-Qaida, die in Fort Worth, Texas, eine 86-jährige Gefängnisstrafe absitzt. Urdu-sprachige Mainstream-Zeitungen beschreiben Malala als ein Aushängeschild des Westens und ein trojanisches Pferd, das den Säkularismus in Pakistan einschleusen soll.

Von den Millionen meiner pakistanischen Landsleute, die von Verschwörungstheorien besessen sind, erhoffe ich mir wenig. Bei den linken Malala-Gegnern – einschließlich denen, die ich seit langem für ihre explizite Kritik an vielen Formen der Unterdrückung und der imperialistischen Kriege sehr schätze – frage ich mich jedoch, ob sie sich je die Mühe gemacht haben herauszufinden, warum Malala angeschossen wurde.

Im Folgenden habe ich ein neunseitiges Pamphlet mit dem Titel Aqeedon kaTasadum übersetzt und zusammengefasst. Es erklärt, warum Malala getötet werden sollte. Ursprünglich in Urdu verfasst und von den pakistanischen Taliban und der islamischen Bewegung in Usbekistan unterzeichnet, wurde das Dokument kurz nach dem Angriff verbreitet:

Vorbemerkung: Dies ist der Krieg zweier Glaubensrichtungen: Islam gegen kufr (Unglauben). Auf der einen Seite ist wahre Bildung und Bescheidenheit, auf der anderen Nacktheit, Musik, Tanz und schamlose Bewegungen. Auf der einen Seite ist Respekt vor dem Schleier, auf der anderen sind Frauen, die im Fernsehen auftreten und Männern, mit denen sie nicht verwandt sind, Interviews geben. Sie wagen es, die Taliban und die Mudschahedin, die Nacktheit, Unzucht und Verwestlichung verhindern wollen, zu verunglimpfen. Deshalb musste diese sogenannte Malala, ein Spielball westlicher Interessen und säkularisierter Kräfte, ihrer gerechten Strafe zugeführt werden:

Erstens, ist Malala ein Kind? Nein! Sie ist am 18. Juli 1998 geboren, das heißt, sie ist 15 Jahre und 4 Monate alt. Sie ist nicht mehr in der Pubertät und zeigt die entsprechenden Anzeichen. Das bedeutet, dass sie wie eine erwachsene Frau behandelt werden musste, die für ihre Handlungen verantwortlich ist.

Zweitens, ist das Töten von Frauen im Islam erlaubt? Ja! Nach der Eroberung von Mekka hat der Heilige Prophet (Friede sei mit Ihm) persönlich den Tod mehrerer Frauen angeordnet, auch durch Steinigen. Auch Hazrat Ali erklärte die Erdrosselung einer jüdischen Frau, die den Heiligen Propheten (Friede sei mit Ihm) mit Worten beleidigt hatte, richtig und gerechtfertigt.

Drittens, was sagt die paschtunische Kultur? Wenn einige Kommentatoren in den Medien sagen, das Töten von Mädchen widerspreche unserer Kultur, dann ist das Unsinn. Wenn ein Junge und ein Mädchen auch nur verdächtigt werden, etwas gemeinsam zu tun, dann werden üblicherweise beide getötet.

Viertens, war Malala schuldig? Ja! Dieses angeblich unschuldige „Kind“ schrieb ein Tagebuch unter dem falschen Namen Gul Makai, in dem sie uns täglich kritisierte. Sie nannte Obama ihr Vorbild und zog die säkulare Erziehung von Lord Macaulay der islamischen Erziehung vor.

Fünftens, war Malala unbewaffnet? Nein! Sie war bewaffnet mit einem Stift, einer Waffe, die schärfer ist als ein Schwert, mit dem sie Tag für Tag den Islam und Muslime verunglimpfte. Sie zeichnete die Taliban als Bestien. Deshalb haben wir sie zu Recht bestraft.

Also: Indem sie sich auf Malala konzentrieren, zeigen diese schmutzigen (pakistanischen) Medien, dass sie sich den Amerikanern prostituieren. Mit keinem einzigen Wort protestieren sie gegen die Leibesvisitationen und die Inhaftierung der Tochter des Islam (Dr. Aafia Siddiqui). Sie machen eine falsche Heldin aus einer Person, die bekommen hat, was sie verdient.

Es ist ein Rätsel. Warum wird eine solche bestialische Brutalität im heutigen linken Diskurs selten oder nur flüchtig erwähnt? Die Sexsklavinnen der Boko Haram, die Enthauptungen des IS, Selbstmordattentate der Taliban gegen Zivilisten und Dutzende von Gräueltaten verschiedener islamischer Gruppen sollten alle empören und abstoßen, die an Gleichheit, Anstand und Freiheit glauben. Die Linke baut doch auf diesem strengen moralischen Fundament auf. Warum herrscht also jetzt fast überall nur Schweigen?

Die Erklärung besteht aus zwei Teilen. Erstens: Ein Teil der Linken hat eine durch und durch negative Haltung gegenüber den westlichen Interessen und lehnt kritiklos alles als eigennützig und verlogen ab. Zweitens: Viele Progressive weigern sich heute, ihre Komfortzone zu verlassen, in der sie den Westen bequem für alle globalen Probleme verantwortlich machen können. Wenn es zwei Böse gibt – Amerika und Islamismus – dann droht die Sache unnötig kompliziert zu werden. Sie möchten ihr Leben lieber schön einfach halten.

Der kontinuierliche Kampf der Arbeiterklasse und Aktivist/innen

Aber sollte man nicht ein bisschen schlauer sein, ein bisschen differenzierter? Es ist zweifellos richtig, dass die USA mit der Verfolgung ihrer strategischen und wirtschaftlichen Interessen den Aufstieg des gewalttätigen Islamismus gefördert haben; durch mehrere Kriege und Interventionen, vor allem im Irak und in Afghanistan. Die USA sind nach wie vor der Hauptbeschützer und -alliierte Saudi-Arabiens – das seit langem die Dschihadisten weltweit finanziert. Mit ihrer bedingungslosen Unterstützung der aggressiven israelischen Expansionspolitik befeuern die USA Wut. In diesen Bereichen ist es richtig und angemessen, die USA zu verurteilen und sich zu wehren.

Gleichzeitig muss man aber auch anerkennen, dass sich die westliche Kultur und Politik in wesentlichen Aspekten verändert hat. Nicht wegen der Obamas, Bushs oder Blairs, sondern aufgrund des kontinuierlichen und bereits Jahrhunderte andauernden Kampfs der Arbeiterklasse und der Aktivist/innen. Kein westliches Land kann es sich noch erlauben, als gnadenloser Kolonisator aufzutreten, als militärischer Zerstörer und wirtschaftlicher Plünderer, wie in den vergangenen Jahrhunderten. Den nach wie vor kaltschnäuzigen wirtschaftlichen und politischen Eliten werden immer mehr Beschränkungen auferlegt. Daher können westliche Interessen manchmal intelligent für Themen genutzt werden, die für Menschen auf der ganzen Welt wichtig sind: Bildung, Friede, Emanzipation der Frau, Gedankenfreiheit, Handlungsfreiheit, Arbeitsrechte und alles, was der Linken wichtig ist. Malala hat dieses Spiel mit dem Westen gut gespielt. Das lässt uns hoffen, dass es auch in diesen düsteren Zeiten einige unter uns gibt, die ihren Verstand nutzen.

Eine junge, progressive Frau aus Pakistan, Ghausia Rashid Salam, stellte sich gegen die Mehrheitsmeinung und würdigte Malala mit den folgenden Worten:

„Wir sollten uns geehrt fühlen, dass Malala aus unserem Land kommt, denn wir wissen besser als jeder Weiße, als jeder Südasiate, was Pakistan ist und wie das Leben hier ist. Wir wissen besser als irgendwer sonst in der Welt, wie widerstandsfähig man sein muss, um in einem Leben unter den Taliban aufrecht zu bleiben, weiter für seine Rechte und die Rechte anderer zu kämpfen. Wir sollten froh sein, dass die westliche Welt nun mit eigenen Augen die brutalen Bedingungen sehen kann, unter denen wir und andere in der Welt leben, denn die glücklicheren Regionen der Welt, müssen sich über ihre verdammten Privilegien bewusst werden und echte Anstrengungen unternehmen, um eine Veränderung hervorzubringen.“

Es ist an der Zeit, dass die eingleisigen Linken erkennen, dass wir in einer mehrgleisigen Welt leben, dass es vielleicht mehr als einen Schurken gibt und dass es nicht angeht, die Dinge auf Kosten der Genauigkeit zu vereinfachen. Wenn sie das nicht tun, schaden sie uns allen.

 

Die Originalfassung auf Englisch ist bereits am 5. November 2014 bei Telesur erschienen.