Die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs in Bosnien und Herzegowina

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Blick über Sarajevo Ende 2014

Im Jahr 2014 wurde die gesellschaftliche Debatte in Bosnien und Herzegowina überwiegend vom 100. Jahrestag des Attentats von Sarajewo bestimmt. Ein Überblick über den Forschungsstand der bosnischen Geschichtswissenschaft und die Veranstaltungen im Land.

In diesem Text geht es in erster Linie um zwei Aspekte des 1. Weltkriegs. Einerseits soll versucht werden, den aktuellen Forschungsstand der bosnischen Geschichtswissenschaft über den Krieg wiederzugeben, andererseits sollen die unterschiedlichen Veranstaltungen, die im Jahr 2014 in Bosnien und Herzegowina stattfanden und an denen Historiker direkt oder indirekt beteiligt waren, untersucht werden. Beim Gedenken an den Krieg werden, einhundert Jahre nachdem er begann, wichtige Fragen immer noch auf die Tatsache reduziert, dass der k.u.k. Kronprinz Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914 von Gavrilo Princip erschossen wurden; auch in der Geschichtswissenschaft stößt man auf diesen Schematismus. Man könnte sagen, dies sei kaum überraschend, da, beschäftigt man sich mit lokalen politischen Entwicklungen, die globalen Gesichtspunkte des Zusammenpralls der feindlichen Bündnisse in den Hintergrund treten.

Die neuen Herrschaftsverhältnisse in Bosnien nach 1918 waren eine unmittelbare Folge des 1. Weltkriegs. Die Gründung des ersten südslawischen Staats im Jahre 1918 bedeutete auch einen neuen Umgang mit der Vergangenheit. Zum Bruch mit diesem Geschichtsverständnis kam es erst, als etwa 70 Jahre später der gemeinsame jugoslawische Staat zerbrach. Eine Folge davon und von Serbiens Rolle im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 war, dass Einstellungen zur neueren Geschichte überdacht und neu konzipiert wurden.

Die Geschichtswissenschaften

Seit Gavrilo Princip im Jahr 1914 die Schüsse abfeuerte, war das Attentat stets Teil des politischen Diskurses. Anders gesagt, das Attentat von Sarajewo war nie bloßes Thema wissenschaftlicher Forschung, es war und ist eine Frage, die stark von den politischen Eliten bestimmt wird. Während des 1. Weltkriegs sah man das Attentat in erster Linie vor dem Hintergrund des Kriegs. Als dann 1918 das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen entstand, sah man in dem Attentat vor allem einen Schritt auf dem Weg zur Gründung Jugoslawiens. Am deutlichsten allerdings wird der Einfluss, den die Politik auf die Interpretation der Vergangenheit hat, wenn man untersucht wie sich die jugoslawischen Kommunisten nach dem 2. Weltkrieg verhielten.

Im Mai 1945 wurde auf dem Kongress der Vereinigten Allianz der Antifaschistischen Jugend Bosnien-Herzegowinas (USAOBiH) über die Rolle Princips diskutiert und kurz darauf beschlossen, am Ort des Attentats eine Gedenktafel anzubringen. Für die Legendenbildung war dieser Schritt entscheidend, und es entstand so ein jugoslawischer Mythos in dem Gavrilo Princip eine Hauptrolle spielte.[1]

Ganz so simpel verlief die Legendenbildung jedoch nicht. Als man Mitte der 1950er Jahre den 40. Jahrestag des Attentats vorbereitete, stießen ehemalige Mitglieder der Organisation Mlada Bosnia (Junges Bosnien) – manche Historiker bezweifeln, dass es diese Organisation offiziell je gab – auf beträchtlichen Widerstand, denn führende bosnische Kommunisten versuchten, die Gedenkfeier zu sabotieren. Während einer Sitzung des Exekutivkomittees des Bundes der Kommunisten im Mai 1954 sagte der Vorsitzende des Komittees, Cvijetin Mijatović, er habe Bedenken, da einige Mitglieder von Mlada Bosnia „eine öffentlichkeitswirksame Feier zum 40. Jahrestag veranstalten wollen, bei der sie bestimmte Ereignisse unangemessen in den Vordergrund stellen und andere falsch interpretieren“.

Er schlug stattdessen einen Festakt in „viel bescheidenerem“ Rahmen vor. Mijatović wies außerdem darauf hin, Borivoje Jeftić habe ein Drehbuch für einen Spielfilm über das Attentat vorgelegt, ein Projekt, das man ebenso ablehnen solle, wie den Versuch, die bislang unveröffentlichten Briefe von Vladimir Gaćinović zu veröffentlichen. Gaćinović, das muss hier angemerkt werden, war Essayist und eine Art von Ideologe der Bewegung Mlada Bosnia. Mijatović erklärte, die ‚Jung-Bosnier’ hätten nur „Kopien von Auszügen aus den Briefen“ vorgelegt, und auf die Originale habe man keinen Zugriff, weshalb zu befürchten sei, dass „Vladimir Gaćinović falsch und verzerrt dargestellt wird“. Auch die Veröffentlichung einer Monografie über Mlada Bosnia lehnte Mijatović ab. Unterstützt wurde er darin von einem anderen Mitglied des Komittees, Avdo Humo, der empfahl, die „Feier solle in sehr bescheidenem Rahmen stattfinden, denn Mlada Bosnia sei aktuell noch nicht ausreichend erforscht und dokumentiert“. Humo war offensichtlich nicht gewillt, Feierlichkeiten zu unterstützen, die den politischen Ansichten des Bunds der Kommunisten zuwiderliefen. „Unter den Bürgern und den Überlebendenden“, so Humo, „gibt es viele Missverständnisse“, und man solle keine Feierlichkeiten zulassen, die sich auf die Interpretation der Mitglieder von Mlada Bosnia stütze. „Erlauben wir einen großen Festakt, dann verherrlichen wir damit das Attentat – was für unsere Arbeit ungünstig wäre und vom Ausland sicher falsch aufgefasst würde, soll heißen, alte Probleme und Streitfragen würden wiederaufleben. Man sollte eine Anthologie wichtiger Artikel zum Thema veröffentlichen und die Feierlichkeiten durch eine Vorlesung an der Universität begehen.“[2] Zehn Jahre später waren die Dinge hingegen viel klarer.

Während der 1960er Jahre erschien die oben erwähnte Monografie über Mlada Bosnia und die Gedenkveranstaltungen erhielten größere öffentliche Aufmerksamkeit. Zudem erschien Vladimir Dedijers Buch „Die Zeitbombe : Sarajewo 1914“ (dt. 1967). Bereits zuvor war die Welt der Wisssenschaft von einem anderen Werk aufgerüttelt worden, das die Frage der Kriegsschuld neu stellte, Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ (1961). All dies trug dazu bei, dass das Interesse an den Gründen für den Krieg wieder zunahm. Es ist sicher kein Zufall, dass Dedijers Buch über das Attentat von Sarajewo zwischen 1961 und 1964 in Oxford und Harvard entstand und somit an Orten, an denen über die von Fischer ausgelöste Kontroverse viel und angeregt diskutiert wurde.

Zehn Jahre später, 1974, regte Mustafa Imamović, ein bosnischer Rechtshistoriker an der Juristischen Fakultät der Universität von Sarajewo, an das bisherige Verständnis der Rolle von Mlada Bosnia neuerlich unter die Lupe zu nehmen. Es war der erste Versuch, den Mythos um Gavrilo Princip zu hinterfragen, und seine historische Rolle aus anderer Perspektive zu betrachten. Imamović behauptete, die Jung-Bosnier seien beeinflusst gewesen „von der Propaganda serbischer Nationalisten“, eine neue Sicht auf Mlada Bosnia, die allerdings in den folgenden Jahren nur wenige Anhänger fand.

Zum Bruch mit dem zuvor gültigen Verständnis der Vergangenheit kam es erst als Jugoslawien zerfiel und der Bosnienkrieg ausbrach. Während der Belagerung Sarajewos lösten sich die historische Rolle und das Heldenbild von Gavrilo Princip in Luft auf. Seit dem Ende des Kriegs neigt in Bosnien und Herzegowina jede der ethnischen Gruppen dazu, ihre eigene Sicht der Vergangenheit zu vertreten. Unter diesen Bedingungen fallen die Ergebnisse historischer Forschung leider recht bescheiden aus.[3] Im Jahr 2004 veranstaltete das Historische Seminar der Universität Sarajewo beispielsweise anlässlich des 90. Jahrestages des Attentats einen Runden Tisch. Die veröffentlichten Protokolle und Papiere zeigen, dass sich die Forscher damit beschäftigten, wie über die Ermordung Franz Ferdinands in der zeitgenössischen Presse in Sarajewo sowie in Serbien und in Kroatien berichtet wurde und wie die verschiedenen Ethnien sowie intellektuelle Kreise auf dem Balkan das Ereignis 90 Jahre später wahrnahmen.[4] In anderen Papieren geht es um die Rolle Russlands und Serbiens beim Kampf um die Vorherrschaft auf dem Balkan, um die Entwicklung eines Nationalismus der Massen oder darum, wie Geschichte für unterschiedliche Zwecke eingespannt wird.[5] Weitere Autoren untersuchen, wie eine massenhafte nationale Mobilmachung stattfand[6], die Geschichte von Denkmälern sowie Gesichtspunkte des Alltagslebens während des 1. Weltkrieges.[7]

Die gesellschaftliche Debatte im Jahr 2014

Im Jahr 2014 wurde die gesellschaftliche Debatte in Bosnien und Herzegowina überwiegend vom 100. Jahrestag des Attentats von Sarajewo bestimmt. Die Veranstaltungen, die aus diesem Anlass in Sarajewo stattfanden, umfassen zahlreiche Elemente der Erinnerungspraxis. Da ich untersuchen möchte, wie die Wissenschaft auf die gesellschaftliche Debatte einwirkt, werde ich nur auf solche Veranstaltungen eingehen, die für Historiker direkt oder indirekt von Bedeutung waren.

Konferenzen: Im Jahr 2014 fanden Konferenzen zu historischen Themen viel Beachtung – nicht zuletzt, da es den Eliten in Südosteuropa einmal mehr gelang, die Themen zu setzen, wodurch Historiker in Debatten verwickelt wurden, deren Verlauf weitgehend fremdbestimmt war. In den Medien wurde über diese Konferenzen viel berichtet – und das nicht nur in der Lokalpresse, sondern selbst in der New York Times. Als Beispiel genannt seien hier zwei sehr unterschiedliche Konferenzen in Sarajewo.

  • The Long Shots of Sarajevo – Events – Narratives – Memories. Diese multidisziplinäre Konferenz fand an der Universität Sarajewo statt. Veranstaltet wurde sie von örtlichen Wissenschaftlern in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern aus Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Gedächtnisgeschichte und Cultural Studies.
  • The Great War: Regional Approaches and Global Contexts. International Conference on the Occasion of the First Centennial of the Beginning of World War One. Im Unterschied zur zuvor genannten Konferenz war dies eine ausdrücklich geschichtswissenschaftliche Veranstaltung an der 120 Historiker aus den Balkanstaaten, Europa und der USA teilnahmen. Ziel der Konferenz war es, Ursachen, Verlauf und politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des 1. Weltkriegs zu untersuchen, und zwar auf Grundlage neuer Erkenntnisse zur Geschichte Europas und speziell des Balkans. Zudem beschäftigte sich die Konferenz mit dem Vermächtnis des Krieges und seiner heutigen Bedeutung im kollektiven Gedächtnis. Die Veranstalter der Konferenz, acht geschichtswissenschaftliche Institute, wollten die Bedeutung des 1. Weltkriegs für die Gesellschaften Ost- und Südosteuropas erhellen und zwar vor dem Hintergrund der europäischen und weltweiten Ereignisse. Sarajewo wurde so, ein Jahrhundert nach Kriegsausbruch, zu einem lebendigen Forum für einen internationalen Austausch über neue Ansätze in der Forschung über den 1. Weltkrieg.

Veranstaltungen: Anläßlich des Jahrestags des Attentats gab es im Juni 2014 zahlreiche Veranstaltungen, beispielsweise eine mit den Wiener Philharmonikern im Rathaus von Sarajewo, die recht gelungen war – besonders wenn man sie mit A Century of Peace after a Century of Wars vergleicht, einer Veranstaltung, die am 28. Juni 2014 auf der Lateinerbrücke in Sarajewo stattfand. Im Unterschied zu diesem modernen Spektakel gab es an den Peripherien eher traditionelle Veranstaltungen – so wurde beispielsweise in Lukavica, einem Vorort Sarajewos, eine neu geschaffene Bronzestatue von Gavrilo Princip enthüllt, und in Višegrad, im Osten Bosniens, führte Emir Kusturica Regie bei einem nationalistischen Programm mit dem Titel Rebel Angles.

Ausstellungen: Die meisten Archive in Bosnien und Herzgowina haben anläßlich des Jahrestages Ausstellungen organisiert, in denen sie unterschiedlichstes Material zeigten. Bei diesen Ausstellungen ging es entweder um den 1. Weltkrieg im Allgemeinen oder aber um bestimmte Aspekte des Kriegs. Fast alle diese Institutionen haben zu den Ausstellungen auch eine Publikation vorgelegt.

Diskussionsrunden: Hier waren Runde Tische sowie Diskussionssendungen in Fernsehen und Radio die gängigsten Formen. BBC und British Council veranstalteten beispielsweise eine Diskussionsrunde im Sarajevski Ratni Teatar (SARTR) mit dem Titel The War that Changed the World, die den Auftakt zu einer Reihe von (bislang) sieben Veranstaltungen in Bosnien, Deutschland, Indien usw. bildete und von der BBC im Radio übertragen wurde. Bei diesen Veranstaltungen diskutierten typischerweise zwei Historiker und ein Moderator über einen bestimmten Aspekt des 1. Weltkriegs.

Alle genannten Veranstaltungen gingen einher mit einer ausführlichen Berichterstattung in den Medien, wodurch es zu einer breiten öffentlichen Debatte über Formen des Gedenkens kam. Einige bosnische Historiker meldeten sich hierzu gleichfalls umfassend zu Wort.[8]

Zusammenfassend kann man sagen, es gab in Bosnien und Herzegowina zahlreiche örtliche Veranstaltungen, doch ein großer zentraler Festakt fehlte. Verglichen mit den Erwartungen, die man 2011/12 für den Jahrestag gehabt hatte, fiel das Ergebnis 2014 recht bescheiden aus. Zudem wurde die öffentliche Diskussion in Bosnien und Herzegowina im Jahr 2014 von der Politik bestimmt, und die meisten Wissenschaftler und Forscher konnten sich diesen Einflüssen nicht entziehen. Manche Veranstaltungen, speziell in abgelegenen ländlichen Gebieten, waren bestimmt von nationalistischen Parolen, was die ethnische Spaltung Bosnien und Herzegowinas weiter verschärfte. Als Fazit bleibt festzuhalten, zwischen den Ergebnissen der historischen Forschung und der öffentlichen Auseinandersetzung besteht nach wie vor eine große Kluft.                                                                                                                                           

 

 

[1] Zwar ist dieser Aspekt der Geschichte sehr symbolträchtig, ich werde auf diese Gedenktafeln hier jedoch nicht weiter eingehen, sondern mich auf die politischen Eliten und die Historiker konzentrieren. Für Einzelheiten zu den symbolischen Aspekten der Legendenbildung siehe Vera Katz: „Ideološka upotreba otkrivanja spomen-ploče Gavrilu Principu u odgoju i obrazovanju generacija u Bosni i Hercegovini“, in: Prilozi 37/2008, S. 113-126.

[2] Arhiv Centralnog komiteta Saveza komunista Jugoslavije (Archiv des ZK des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens), IK CKSKBiH, k. 1 , Zapisnik sa sjednice IK CKSKBiH 10-11. 5. 1954.

[3] Siehe Prilozi 34/2005, S. 13-78; Zijad Šehić, U smrt za cara i domovinu! Bosanci i Hercegovci u vojnoj organizaciji Habsburške monarhije 1878 – 1918. Sarajevo: Sarajevo Publishing, 2007; Historijska traganja 3/2009, Sarajevo, Institut za istoriju; Međunarodna konferencija Bosna i Hercegovina u okviru Austro-Ugarske 1878-1918 – Zbornik radova. Sarajevo, Filozofski fakultet Univerziteta u Sarajevu, 2009. Đorđe Mikić, Austrougarska ratna politika u Bosni i Hercegovini 1914-1918. Banja Luka, Nezavisni univerzitet Banjaluka, 2011; Gračanički glasnik – časopis za kulturu, god. XIX, 37/2014. In den USA legte Paul Miller einen wichtigen Überblick über Geschichtswissenschaften, Lehrbücher und sie öffentliche Debatte vor, siehe Paul Miller: „Yugoslav Eulogies: The Footprints of Gavrilo Princip“, The Carl Beck Papers in Russian and East European Studies, Nr. 2304, S. 1-82.

[4] Husnija Kamberović: „Ubojstvo Franza Ferdinanda u Sarajevu 1914 – Devedeset godina poslije“. In: Prilozi 34/2005, S. 13-22.

[5] Zijad Šehić: „Atentat, mobilizacija, rat“. In: Prilozi 34/2005, S. 23-38.

[6] Sonja Dujmović: „Srpska riječ¨ i 1914. godina – sistem nacionalne mobilizacije“. In: Prilozi 34/2005, S. 49-59.

[7] In: Prilozi 34/2005, S. 61-78.

[8] Husnija Kamberović: „Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Bosnien und Herzegowina“, Volksbund Forum - Der Erste Weltkrieg, 2014, S. 177-194.