Konflikt, Kunst und Emanzipation: Antigone of Syria

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Beim Proben: Im Theater überschreiten die Frauen die Grenze zwischen dem Privaten und dem Politischen

"Antigone of Syria" ist das neueste Projekt des international gefeierten syrischen Dramaturgen Mohammad Al Attar. Kann die zeitlose Aktualität des antiken griechischen Dramas – kann Kunst als universelle Sprache – helfen, die Tragödie des syrischen Krieges zu begreifen? Das Team von Aperta Productions hat sich in einem achtwöchigen Theater-Workshop dieser Herausforderung gestellt: Mohammad Al Attar, Regisseur Omar Abusaada sowie die beiden Schauspiel-Lehrerinnen Hala Omran und Dina Mousawi lassen syrische Frauen aus den Flüchtlingscamps Sabra, Shatila und Bourj el-Barajneh die Geschichte des syrischen Konflikts selbst erzählen.

An diesem sonnigen Donnerstag im November hallt der Probenraum im Beiruter Stadtteil Hamra von den traditionellen arabischen Freudentrillern wider. Es gibt zwei Geburtstage zu feiern: die Frauen lachen und witzeln, Kleinkinder rennen fröhlich kreischend umher. Die Atmosphäre – irgendwo zwischen Familienfeier und Kindergarten-Fest – passt nicht so wirklich mit dem zusammen, was man von einer Theaterprobe erwarten würde.

Es ist aber auch keine gewöhnliche Theaterprobe. Die Lebendigkeit, die während der Pause zu spüren sind, stecken die Frauen auch in ihre Arbeit an dem Projekt:

„In den Proben spürt man eine ungeheure positive Energie. Wir werden dazu ermutigt, dazu angehalten, uns anzustrengen, das Beste zu geben. Mir macht das großen Spaß, denn je mehr wir über das Stück diskutieren, je mehr wir lesen, desto mehr lernen wir. Es ist ein sehr angenehmer und spannender Lernprozess.“ (Layla*, Schauspielerin)

In diesem entspannten Umfeld, inmitten all der ungebändigten Lebensfreude ist es kaum vorstellbar, dass diese Frauen Trauer und Leid jenseits dessen erlebt haben, was die menschliche Seele verkraften kann.

Motivieren, provozieren, ermutigen

Diese Geschichten von Trauer und Leid zu erzählen, ist eines der großen Ziele, die Theaterautor Muhammad Attar mit seinem neuesten Projekt Antigone of Syria erreichen möchte. Sophokles‘ Meisterwerk dient hier als dramaturgischer Rahmen: als künstlerisches Prisma, in welchem sich die Lebensrealität syrischer Flüchtlingsfrauen in der zeitlosen Aktualität des antiken griechischen Dramas widerspiegelt.

Attar möchte die Frauen provozieren, motivieren und vor allem dazu ermutigen, die Gräuel des syrischen Konflikts, die Gräuel des Kriegs, aus ihrer Sicht zu erzählen. Innerhalb des künstlerisch-dramaturgischen Rahmens haben die Schauspielerinnen die Möglichkeit, ihre persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen des syrischen Konflikts – als Mütter, Töchter, Schwestern, Ehefrauen - zu verarbeiten und ihre persönlichen Schicksale zu teilen. „Es ist wie ein Puzzle“, sagt Attar, „wenn man versucht, das Gesamtbild aus kleinen Einzelteilen zusammenzusetzen. Manche dieser Teile sind größer  – das heißt, dass das Stück in dem Fall stärker auf der Geschichte einer bestimmten Person aufbaut – und manche sind kleiner – dann verarbeiten wir eine Situation, einen Moment, einen Traum, oder auch nur ein bestimmtes Lied. Aber all diese Einzelteile sind gleich bedeutsam und wichtig.“

Während wir nach der Probe mit Attar in einem nahe gelegenen Café über sein Projekt sprechen wird schnell klar, dass diese Aufgabe nicht nur in künstlerischer Hinsicht ambitioniert ist, sondern vor allem viel zwischenmenschliches Feingefühl erfordert. Attar wirkt aufgewühlt, als er spricht. Seine Leidenschaft für das Projekt und sein Mitgefühl für die Frauen machen sich in jeder Geste bemerkbar:

„Manchmal ist es nicht einfach, all das mit der Gruppe zu teilen, seine eigene Geschichte vor anderen auszubreiten. Der Großteil der Geschichten, die in dem Werk erzählt werden, sind schmerzvolle Geschichten. Geschichten von Unterdrückung, von Verlust und von Leid. Und sie alle stecken hier fest.“

Er beendet den Satz, in dem er auf sein Herz zeigt – und dabei fast versehentlich seine Teetasse umstößt.

Das Projekt ist dennoch mehr als nur die künstlerische Aufarbeitung der traumatisierenden Erfahrungen, die die Frauen gemacht haben – und denen sie noch immer ausgesetzt sind. Inspiriert von Antigones furchtlosem Nonkonformismus, ihrer Verweigerung gegenüber den politischen und sozialen Konventionen ihrer Zeit, sollen die Frauen den Mut finden, ihre Meinung zu sagen – und darüber hinaus ihre Träume und Visionen für die Zukunft zu teilen.

Kunst als Emanzipation

Vor diesem Hintergrund ist das Projekt auch ein Akt der Auflehnung gegen bestehende Autoritäten – und ein beeindruckendes Beispiel für die emanzipatorische Kraft der Kunst. Das liegt nicht zuletzt an der Professionalität, die Mohammad Attar und sein Team von den Schauspielerinnen erwarten. Mit der Pause endet auch die übermütig-ausgelassene Stimmung: die Frauen proben mit viel Disziplin und Konzentration. Regisseur Omar Abusaada ist ein strenger Instrukteur: er lässt die Frauen immer und immer wieder die gleichen Textzeilen wiederholen, während er Tonalität, Gestik und Ausdruckskraft akribisch kommentiert und verbessert.

Diese Strenge zeigt jedoch, in welchem Maße das Team von Aperta Productions die Schauspielerinnen als gleichberechtigte Partner wahrnimmt und ihnen auf Augenhöhe begegnet. Für Mohammad Attar unterscheidet sich die Arbeit mit Flüchtlingsfrauen an diesem Zeitpunkt des Projekts nicht von der mit professionellen Darstellern – weshalb es für ihn selbstverständlich ist, dass die Schauspielerinnen bezahlt werden. Dieser Aspekt der Zusammenarbeit ist insofern extrem wichtig, als er den Kern eines Emanzipationsprozesses bildet, in dem die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Politischen, zwischen künstlerischer Interpretation und sozialer Realität verschwimmen:

„Die Frauen sind unsere Partner im Kampf gegen politische Unterdrückung. Gleichzeitig kämpfen sie aber an verschiedenen Fronten, die wir manchmal leider ignorieren oder uns einfach nicht bewusst machen. Sie kämpfen gegen die Unterdrückung innerhalb ihrer Gemeinschaften, gegen die soziale Unterdrückung in einer von Männern dominierten Gesellschaft.“

Attar ist weder Sozialarbeiter, noch Psychiater. Er ist ein Dramaturg, der an die emanzipatorische und gestalterische Kraft der Kunst glaubt – egal, ob auf der individuellen, sozialen oder politischen Ebene. Und er glaubt fest an den Mut und die Stärke seiner Schauspielerinnen. Die sind vielleicht fragiler, zerbrechlicher und weniger rebellisch als Antigone – aber sie haben in der Kunst einen Weg gefunden, gegen die zahlreichen Formen der Unterdrückung zu rebellieren, denen sie ausgesetzt sind.

Wenn der Vorhang fällt, beginnt die tatsächliche Herausforderung

Seht übrig von den anderen allen / Die Königin, Thebes Herrn! welch eine Gebühr ich leide von gebührigen Männern (Antigone)

Diese Revolte ist ebenso vielschichtig und komplex wie das Kaleidoskop an Geschichten, die das Projekt ans Licht bringt. Die wirkliche Herausforderung jedoch beginnt erst, wenn der Vorhang fällt. Während Antigone sich sicher ist, dass ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten wird, müssen die Frauen in Muhammad Attars Stück einen Weg finden, ihren Geschichten weiterhin Gehör zu verschaffen. Der Dramaturg weiß sehr gut, dass sein persönlicher Beitrag auf den relativ sicheren Raum des Theaters und der Bühne beschränkt ist. Er hofft trotzdem, dass das Projekt für die Frauen nur der erste von vielen Schritten auf dem Weg zu Emanzipation ist – und es ist ihr Kampfgeist selbst, der diese Hoffnung nährt:

„Ich denke es wäre gut, wenn Erfahrungen wiederholt werden könnten. Dank dieses Projekts werden wir dazu ermutigt, unsere Gefühle auszudrücken und sie mit anderen zu teilen. Es ist ein sicherer Raum, in dem wir lernen, mit den unterbewussten Problemen und Traumata umzugehen. Und es ist wichtig, dass wir so etwas auch in anderen Ländern machen, nicht nur im Libanon, denn syrische Frauen sind in vielen Ländern als Flüchtlinge leben.“ (Aisha*, Schauspielerin)

Auch hier überschreiten die Frauen die Grenze zwischen dem Privaten und dem Politischen: ihr Engagement auf der Bühne ist nicht zuletzt eine Aufforderung an die libanesische Gesellschaft, ihre Haltung gegenüber Flüchtlingen im Allgemeinen und gegenüber syrischen Flüchtlingen im Speziellen zu überdenken. Für viele Frauen war das sogar die größte Motivation, sagt Mohammad al Attar: sie wollen die klare Botschaft vermitteln, dass sie zu weit mehr fähig sind, als große Teile der Gesellschaft ihnen zutrauen.

Wenn im Al Madina Theater in Beirut der Vorhang fällt, dann tatsächlich nur auf der Bühne. Für die Schauspielerinnen aber ist auch die Premiere von Antigone of Syria nur die Generalprobe für eine noch weit größere Herausforderung: eines Tages auf der Bühne ihres Lebens nicht nur aufzutreten, sondern die Regie zu übernehmen.

*Namen wurden auf Wunsch der Schauspielerinnen geändert.

"Antigone of Syria" wird am 10., 11. und 12. Dezember jeweils um 20h im Al Madina-Theater in Beirut aufgeführt - auf arabisch mit englischen Untertiteln. Eine Filmaufnahme des Stücks wird danach online zu sehen sein.