"Außer der Arbeit gibt’s nur eins: Schlafen"

Baustelle in Peking
Teaser Bild Untertitel
Zwölf Stunden am Tag arbeitet Dong Jianzhuang. Jeden Tag

Zu Wanderarbeiter/innen in China gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, Forschungen und Analysen. Doch nur selten kommen die betroffenen Menschen selbst zu Wort. Drei individuelle Geschichten von Menschen, die erzählen, warum sie in die Städte gezogen sind, mit welchen Herausforderungen sie dort konfrontiert sind und wie sie sich und ihre Zukunft sehen.

Das erste Mal traf ich Herrn Dong am Eingang der Baustelle der Firma Beijing Chengjian. Er trug eine blaue Arbeiteruniform und stand am Tor. […] Er erzählte, dass er in den vergangenen Jahren an vielen verschiedenen Orten gearbeitet habe. Dabei habe er die jeweiligen Besonderheiten vor allem im Umgang mit den Wanderarbeitern genau beobachtet: "In einem Punkt sind fast alle Orte gleich: Überall gibt es Vorurteile gegenüber Wanderarbeitern."

Guten Tag, Herr Dong. Wie lange sind Sie schon in Peking und wie sind Sie hierhergekommen?
Ich bin seit drei Monaten hier. Ein Verwandter hatte mich empfohlen. Der Chef dieses Bauunternehmens stammt – wie ich – aus der Provinz Henan. Er wohnt allerdings schon sehr lange in Peking. Die meisten Arbeiter auf dieser Baustelle stammen aus Henan.

Was ist Ihre Hauptaufgabe?
Ich bewache den Zugang zur Baustelle und sorge dafür, dass das Eigentum der Firma sicher ist. Außerdem bin ich ganz allgemein für Sicherheit verantwortlich und muss verhindern, dass Unbefugte die Baustelle betreten. Wer auf die Baustelle kommt, muss z.B. einen Schutzhelm tragen, weil die großen Maschinen hier eine Gefahrenquelle darstellen. Besucher dürfen überdies nicht rauchen. Außerdem registriere ich am Abend die ein- und ausfahrenden Bagger.

Was ist mit Ihren Arbeitszeiten? Wie lange sind Sie in der Regel hier?
Ein Kollege und ich bewachen den Eingang rund um die Uhr. Wir wechseln uns täglich in vier Schichten ab. Die erste Schicht fängt morgens um 6 Uhr an und geht bis 12 Uhr. Die folgenden Schichten gehen von 12 bis 18 Uhr, 18 bis 24 Uhr und 0 bis 6 Uhr. Wir arbeiten also beide zwölf Stunden am Tag.

Ist diese Arbeit anstrengend?
Ja, die Arbeit ist sehr anstrengend und die Arbeitsbedingungen sind schlecht. Die Bagger und andere Maschinen machen viel Lärm. Außer-dem ist die Luft sehr staubig. Unser Chef verlangt von uns, die Arbeit im Stehen zu machen. Manchmal sind wir jedoch so müde, dass wir uns einfach mal kurz hinsetzen müssen. In den paar Monaten, die ich hier arbeite, konnte ich mich noch nie richtig ausruhen. Meine Gesundheit hat bereits jetzt sehr darunter gelitten, und mein Körper will nicht mehr so richtig mitmachen.

Wie verbringen Sie die Zeit, in der Sie nicht arbeiten?
Wenn ich nicht arbeite, schlafe ich. Ich habe gar nicht die Zeit, etwas zu unternehmen. Weil die Arbeit so anstrengend ist und weil wir im Schichtsystem arbeiten, muss ich dann einfach schlafen. Ich habe ständig das Gefühl, nicht wirklich ausgeruht zu sein. Bevor ich nach Peking gekommen bin, wollte ich unbedingt auf den Platz des Himmlischen Friedens gehen, um das Porträt von Mao Zedong zu sehen. Ich hatte aber noch gar keine Zeit dafür. Selbst meine Familie hofft, dass ich das irgendwann noch schaffe. Bevor ich Peking wieder verlasse, möchte ich unbedingt dort gewesen sein.

Was hat Sie in Peking bislang am meisten beeindruckt?
Ehrlich gesagt, bin ich sehr enttäuscht. Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich geglaubt, dass die Menschen und die Atmosphäre hier sehr interessant seien. Als ich dann ankam, musste ich jedoch feststellen, dass die Leute hier auch nicht anders sind als bei uns im Dorf. Da gibt es keine allzu großen Unterschiede. Wir leben in einer von der Wirtschaft geprägten Zeit. Es geht allein ums Geldverdienen, und da ist jedes Mittel recht. Ich habe festgestellt, dass viele Leute, die nicht von hier sind, übers Ohr gehauen werden.

Manche Leute nennen euch "neue Stadtbewohner", andere "Wanderarbeiter" oder "auswärtige Arbeiter". Wie sehen Sie diese verschiedenen Bezeichnungen?
Wie man uns nennt, ist egal. Pekinger sind Pekinger, Wanderarbeiter sind Wanderarbeiter. Pekinger sehen uns gerne so, wie sie uns sehen wollen. Sie haben uns gegenüber Vorurteile und verachten uns. Als Zugezogene wagen wir es nicht, Ärger zu machen. Wir halten es aus, solange es geht.

Wie viel verdienen Sie?
Seit kurzem verdienen wir als Torwächter 2.100 RMB im Monat [ca. 274 Euro]. Wir wohnen in einer Baracke auf der Baustelle, fürs Essen und andere Ausgaben müssen wir selbst aufkommen.

Gibt es so etwas wie Wochenend- und Feiertagszulagen?
Wenn wir am Wochenende arbeiten, zählt das genauso viel wie die anderen Tage; für uns gibt es keine Wochenenden. Für den 1. Mai [auch in China ein Feiertag, Anm. der Red.] bekamen mein Kollege und ich 300 RMB Feiertagszulage [ca. 38 Euro]. Die Leute, die im Projektbüro arbeiten, bekamen allerdings 600 RMB. Andere haben sogar noch mehr bekommen. Wir Torwächter erhielten am wenigsten.

Das ist keine Gleichbehandlung. Was meinen Sie damit?
Wir arbeiten ja nicht weniger als die Leute im Projektbüro, aber trotzdem sind der Lohn und die Feiertagszulagen unterschiedlich. Wer gute Beziehungen zum Chef hat, bekommt eben mehr. Auch die Funktionäre verdienen mehr. Dazu kommt, dass nur jemand, der schon mehr als zwei Monate hier gearbeitet hat, eine Feiertagszulage bekommt. Viele Arbeiter sind aber nur 50 Tage hier und haben für den 1. Mai nichts bekommen.

Wird der Lohn denn rechtzeitig ausgezahlt?
Normalerweise bekommen wir am 10. des Monats unser Geld. Von meinem ersten Gehalt hat der Arbeitgeber jedoch 900 RMB [ca. 117 Euro]einbehalten, und ich weiß nicht, ob ich es zurückbekommen werde. Als ich anfing, hier zu arbeiten, wurde mir nicht gesagt, dass ein Teil des Lohns einfach einbehalten würde. Einem Kollegen von mir erging es ähnlich. Bei ihm haben sie den Lohn für ganze 20 Tage einbehalten, und er weiß nicht, ob er sein Geld jemals bekommen wird.

Wenn Sie für die Lebensmittel selber aufkommen müssen, wo gehen Sie dann essen?
Manche gehen in die Mensa der Peking-Universität, da braucht man 500 bis 600 RMB pro Monat. Ich kann mir das allerdings nicht leisten und koche meist selber in der Baracke. Zwei Kollegen und ich legen Geld zusammen, um Reis und Gemüse zu kaufen. Ich brauche dafür im Monat ungefähr 300 RMB.

Wofür geben Sie Ihren Lohn sonst aus?
Geld zu verdienen ist nicht einfach. Das Geld zerfließt einem nur so in den Händen. Abgesehen von den 300 RMB, die ich für Lebensmittel ausgebe, kaufe ich nur Dinge des täglichen Bedarfs. Ich kann pro Monat ungefähr 1.500 RMB [ca. 195 Euro] sparen und nach Hause schicken. Normalerweise kaufe ich überhaupt nichts. Ich kann es mir gar nicht leisten. Ich rauche nicht, ich trinke keinen Alkohol.

Wissen Sie von der Bestimmung, dass auch Wanderarbeiter in die Krankenversicherung aufgenommen werden müssen?
Davon habe ich noch nie was gehört. Wir haben gar keine Krankenversicherung. Wenn man schwer erkrankt, muss man in seinen Heimatort zurückkehren, um sich behandeln zu lassen, weil die Kosten auf dem Land niedriger sind als in Peking.

Krankenversicherung für Arbeitsmigranten in Peking
Am 20. März 2012 hat das Amt für Personalwesen und Sozialversicherung der Stadt Peking eine Verlautbarung über "Fragen zur Basiskrankenversicherung für Arbeitnehmer in Peking" veröffentlicht. Darin wird festgelegt, dass ab dem 1. April 2012 alle Wanderarbeiter, die in ein Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitgeber eintreten, ausnahmslos in die Krankenversicherung für städtische Arbeiter der Stadt Peking aufgenommen werden müssen.

Bekommen Sie die Kosten für die Medikamente ersetzt?
Nein, bis jetzt nicht.

Haben Sie je einen Gesundheitstest gemacht?
Nein, so etwas wird hier nicht gratis angeboten. Und wie sollen wir das aus eigener Tasche bezahlen!

Haben Sie einen Vertrag mit der Baustelle hier?
Nein, der Chef hat das mit keinem Wort erwähnt. Ich habe nichts unterschrieben und weiß auch nicht, ob das was bringen würde.

Wie lange wollen Sie auf dieser Baustelle bleiben?
Das ist schwer zu sagen. Im Grunde genommen ist es in meiner Heimat gar nicht mehr so schwer, Geld zu verdienen. Wenn ich es körperlich wirklich nicht mehr aushalten sollte, werde ich zurückgehen.

Während des Interviews konnte sich Herr Dong nicht verkneifen, mehrmals zu fragen: "Wozu soll das gut sein, dass ich Ihnen so viel erzähle? Wird sich unsere prekäre Lage dadurch verbessern? Werden die Ungerechtigkeiten verschwinden?" Ich weiß nicht, wer ihm eine positive Antwort geben könnte. Keiner der anderen Wanderarbeiter, die ich getroffen habe, hat sich so sehr um das Schicksal seiner Arbeitskollegen gesorgt wie Herr Dong. Sein Interesse für gesellschaftliche Fragen ging weit über das hinaus, was ich bisher von Menschen mit seinem Bildungshintergrund erlebt habe.

Dieser Text ist einer von drei Auszügen aus Interviews mit Wanderarbeiter/innen. Erstmals  2012 und 2013 in einer Interviewsammlung auf Chinesisch erschienen. Diesen Text finden Sie auch in der aktuellen Ausgabe von Perspectives Asien der Heinrich-Böll-Sitftung.