Jerusalem Talks: Staat und Religion

Jerusalem Talks Heinrich-Böll-Stiftung
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Die Teilnehmer/innen von links: Moderatorin Judith Schulte-Loh, Prof. Rolf Schieder, Adina Bar-Shalom, Cilly Kugelmann, Tamar Zandberg, Susan Weiss, Prof. Sari Nusseibeh

Wahn und Wirklichkeit: In der dritten Ausgabe der Jerusalem Talks diskutierten Expert/innen aus Israel und Deutschland über die Beziehung zwischen Religion und Staat. Ein Bericht.

Während Deutschland auf dem Weg in eine multireligiöse Gesellschaft ist, wird in Israel um den jüdischen Charakter des Landes gerungen. Diese Annahme war Ausgangspunkt für eine Diskussionsrunde am 15. Dezember 2014 in der Cinematheque in Jerusalem. Expert/innen aus Deutschland und Israel gingen der Frage nach, welchen Einfluss Religion in Deutschland und in Israel hat.

Der Berliner Theologieprofessor und Pfarrer Rolf Schieder sieht in der Erziehung zur Ehrfurcht vor Gott, wie sie das Grundgesetz der Bundesrepublik vorschreibt, ein wesentliches Merkmal der Wertorientierung der deutschen Gesellschaft, die auch Multireligiosität mit einschließe. Die in Deutschland organisierten Religionsgemeinschaften haben seiner Meinung nach eine zivilgesellschaftliche Funktion, was nicht ausschließe. Die religiöse Tradition sei subkutan in die deutsche Gesellschaft eingeschrieben, sagt Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums in Berlin. Religion sei wieder ein öffentliches Thema. Einen Grund dafür sieht sie darin, dass seit dem Ende des Kommunismus und damit der weltanschaulichen Dichotomie zwischen Kommunismus und Kapitalismus die daraus abgeleiteten messianischen Dimensionen im Leben von Menschen verschwunden seien. Die Verheißungen sozialer Utopien werden seither ersetzt durch die Hinwendung zu religiösen Traditionsbeständen.

Adina Bar-Schalom, Gründerin des ersten Colleges für ultra-orthodoxe Frauen in Jerusalem betonte, dass die Staatsführung selbstverständlich säkular sein müsse. Das schließe eine Verbindung mit den jüdischen Wurzeln keineswegs aus, vielmehr sei der religiös begründete politische Zionismus die öffentliche Stimme der Ultra-Orthodoxen. Damit war die Debatte an einem zentralen Punkt angelangt: Welcher Wertekodex regelt menschliches Zusammenleben? Wie begründen sich die Werte, nach denen sich ein Gemeinwesen richtet? Cilly Kugelmann wies eindringlich darauf hin, zwischen Staat und Gesellschaft deutlich zu unterscheiden. Unterstützt wurde sie von Susan Weiss, die sich als Rechtsanwältin und Feministin für die Abschaffung der Regulierung des Familienrechts durch religiöse Instanzen in Israel einsetzt. Sie plädierte dafür, dass Religion nichts in der Politik zu suchen habe. Das aus osmanischer Zeit stammende Millet-System, das jeder Religion in Israel die Regelung von Heirat und vor allem von Scheidung überantwortet, enthält für sie nicht nur eine Benachteiligung von Frauen durch veraltete Scheidungsvorschriften, sondern sie sieht darin auch eine Benachteiligung von Männern durch die Zementierung traditioneller Geschlechterrollen.

Offene Türen für neuen Nationalismus

Sari Nusseibeh, Philosophieprofessor und ehemaliger Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem, unterstrich die Ambivalenz, die Religion für das menschliche Leben haben kann. Menschliche Werte seien der oberste Maßstab des Zusammenlebens. Religion könne ein friedliches Miteinander befördern oder sie könne sich verheerend auf die menschliche Gemeinschaft auswirken. Ein negatives Beispiel der Vermischung zwischen religiöser Sphäre und Staatlichkeit sahen die Podiumsteilnehmer unisono in der National Bill, einer Gesetzesvorlage, die von der letzten Regierung eingebracht worden war. Demnach soll der jüdische Charakter Israels so festgeschrieben werden, dass deutliche Nachteile für andere Bevölkerungsgruppen abgeleitet werden könnten. Tamar Zandberg, Meretz-Abgeordnete in der Knesset, strich heraus, dass damit die Balance zwischen demokratischer Freiheit und der Rolle des Judentums in Israel, die in der israelischen Unabhängigkeitserklärung ausgedrückt sei, gestört würde und einem neuen Nationalismus Tür und Tor geöffnet würde. Nusseibeh betonte, dass ihm die Entwicklung hin zu einem religiös motivierten Nationalismus in Israel sehr beunruhige. Aus der Perspektive einer Diaspora-Jüdin kritisierte Cilly Kugelmann besonders den Versuch, damit Juden in aller Welt für die israelische Politik mit in Haftung zu nehmen, indem man Judentum national und ethnisch auflade, was nichts mit Religion zu tun habe, sondern andere Ziele verfolge.

Auch Adina Bar-Schalom betonte, dass die Unabhängigkeitserklärung die Würde des Menschen ausreichend schütze und betonte, dass die Ultra-Orthodoxen in Israel dieses Gesetz ablehnen würden. Schieder wies darauf hin, dass in modernen Gesellschaften Religion zu einem Identitätsmarker geworden sei, der bei der Suche nach Abgrenzung den Traditionskanon der Religionen benutze. Dadurch würden kulturelle Gegensätze über Religion verhandelt. Auch Nusseibeh sieht in der muslimischen Welt eine Religiosität am Werk, die die Politik vor sich her treibe, mit Humanität und menschlichen Werten allerdings nichts zu tun habe.

Staat ohne Gemeinschaft

Susan Weiss betonte, dass es die Aufgabe des Staates sei, religiöse Traditionen zu schützen, Gottes Gesetz stehe außerhalb rationaler Bewertungen. Weiter ging Adina Bar-Schalom, die darauf bestand, dass sich in der Vorstellung der Ultra-Orthodoxen aus der Thora Werte ableiten ließen, die für alle Menschen gültig seien. Für eine vertiefende Debatte zu der Frage, wie man einen universellen Humanismus letztendlich allgemeingültig begründen könne, was sicher unterschiedliche Positionen sichtbar gemacht hätte, war leider keine Zeit und Gelegenheit. Auch Kugelmanns starkes Plädoyer für eine strikte Trennung zwischen Staat und Gesellschaft wurden nicht vertiefend diskutiert. Sie argumentierte, dass identitär aufgeladene gemeinschaftsstiftende Ansprüche den Blick darauf verstellten, dass moderne Staaten keine Gemeinschaften seien, sondern ein Regelwerk menschlichen Zusammenlebens, das Gewalt verhindern solle.

Ob Schieder als Theologe dem so zustimmen würde, war nicht ersichtlich. Er hob allerdings die Bedeutung religiöser Erziehung, wie sie das deutsche Erziehungssystem praktiziere, hervor und betonte, dass sich die staatliche Regulierung des Religionsunterrichts als Prävention gegen fundamentalistische Strömungen bewährt habe und man auch den Islam als Unterrichtsfach in Deutschland einführen solle.
Das Publikum folgte der Debatte mit großer Aufmerksamkeit. Offensichtlich traf die Veranstaltung einen Nerv unserer Zeit, in der Religion als Begründung für Gewalt missbraucht wird, ein Phänomen, das man überwunden glaubte. Deutlich wurde in der Debatte, dass der Missbrauch religiöser Überzeugungen für politische Zwecke Gesellschaften totalitäre Züge verleiht. Davor ist kein moderner Staat gefeit.