Brief an Mum und Dad

Familienfeiern empfindet er zunehmend als Herausforderung. Die Verwandten fragen ihn nach seiner geheimen Freundin aus. Die es gar nicht gibt. Mit diesem Brief sollen seine Eltern erfahren, dass er Männer liebt.

Liebe Mummy, lieber Daddy,

Ich möchte euch beiden etwas anvertrauen.
Ich liebe euch. Ich bewundere euch. Ich habe großen Respekt vor euch beiden.
Ich hoffe, ihr wisst das.

Es war bestimmt nicht einfach, uns alle sechs großzuziehen. Mein ganzes Leben habe ich mich immer wieder gefragt, was euch angespornt hat. Ich weiß nicht, ob ich eure Ausdauer hätte. Ihr sorgt euch um alle eure Kinder. Sind wir glücklich? Schaffen wir es alleine, wenn ihr nicht mehr da seid? Werdet ihr eure Enkel noch kennenlernen und sie euren Freunden zeigen können? Ich spreche jetzt mal für meine Brüder und Schwestern und möchte euch versichern, dass wir gut für uns selbst sorgen können. Ihr habt uns gezeigt, wie es geht. Ihr werdet auch Enkel haben, auch wenn vielleicht nicht ganz so, wie ihr euch das vorgestellt habt.

Im Prinzip decken sich viele der Erwartungen, die ihr für mich habt, mit meinen eigenen. Auch ich möchte Kinder haben, Söhne. Die Zahl sechs gefällt mir. Freundliche, liebevolle, fröhliche Männer, die ihre Familie achten und ehren und die sich voller Vertrauen an mich, ihren Vater, wenden. Ich möchte ein einladendes Zuhause, voller Leben und Lachen. Einen Zoo an Haustieren und einen üppigen Garten ums Haus, in dem die Jungs herumtoben können, unter meiner wohlwollenden Diktatur selbstverständlich. Ein sicherer Hafen für die Jungen, die Sippschaft und Freunde. Am Wochenende besuchen euch die Jungs und leisten euch Gesellschaft.

Ich stelle mir gern vor, wie ihr sie dann nach ihrer Familie ausfragen werdet, so wie es bei uns auch war: Führen die Eltern noch eine liebevolle, fürsorgliche Beziehung? Werden sie von der Gemeinde respektiert? Gibt es genetisch bedingte Erkrankungen? Körperliche, seelische oder sonst welche? Ihr sagt, diese Fragen geben Aufschluss darüber, ob wir gemeinsame Wertvorstellungen haben und ob sie sich gut anpassen können – alles wichtige Faktoren um eine dauerhafte Beziehung einzugehen und aufrechtzuerhalten. Um es noch einen Schritt weiter zu treiben, ich könnte mir vielleicht sogar vorstellen, mich für Rituale wie die Mitgift zu erwärmen, als Wegbereiter für eine großzügige, erfüllte Ehe? Wir hätten bestimmt sehr viel Spaß dabei und würden dafür sorgen, dass die Leute noch Jahre später von der Hochzeit eures Sohnes redeten. Würde euch das gefallen?

Also Mummy und Daddy, im Prinzip wollen wir alle das gleiche. Dennoch ist da die Tatsache, dass ich schwul bin. Ich denke, das lässt sich verwinden. Aber ihr haltet es vielleicht für unüberbrückbar? Ich habe euch bisher nichts davon erzählt.

Es erklärt vielleicht, warum ich in meinem „fortgeschrittenen“ Alter noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht habe. Es könnte erklären, warum ich Familienzusammenkünfte zunehmend als echte Herausforderung empfinde. Die Mühe, die es mir bereitet, die Fragen über meine vermeintlich geheimnisvolle Freundin zu umschiffen. Ich habe Schwierigkeiten, mit den männlichen wie mit  den weiblichen Verwandten in der mir traditionell zugeschriebenen Rolle zu kommunizieren.

Ich liebe Männer. Wie sie aussehen, wie sie sich anfühlen, ihre Berührung. Ich weiß davon seit siebenundzwanzig Jahren, mein ganzes Erwachsenenleben lang. Ich glaube, dass ich mich gut in Frauen hinein versetzen kann, weiß, was sie den Männern zuliebe durchmachen. Ob eben diese Mannsbilder es wert sind, ist ein Problem, auf das ich gern ein anderes Mal ausführlicher eingehe... Ich habe so vieles nicht angesprochen und auf Eis gelegt, weil ich Angst davor habe, euch beide zu verlieren.

Es würde mir das Herz brechen, wenn ihr schlecht von mir denken würdet. Aber Mum und Dad, diese Lüge, die ich lebe, ist eine harte Strafe. Sie macht mich langsam aber sicher mürbe. Ich möchte keine Frau heiraten. Es wäre einfach unfair, noch jemanden in diese Lüge, die ich lebe, mit hineinzuziehen.

Mummy und Daddy, zu unser aller Wohl müssen wir loslassen. Damit wir leben können, damit wir uns erheben und fliegen können. Es wäre ein ewig währendes Geschenk, das noch von den ungeborenen Generationen zurückstrahlen würde. Habt keine Angst, ihr habt eure Kinder wohl erzogen. Stellt euch doch mal die Diskussionen über die Mitgift vor – wer würde für was aufkommen müssen? Welch ein Vergnügen!

Wenn ihr es nicht könnt, ist es an mir loszulassen. Woher und von wem nehme ich den Mut dafür?

Ich liebe euch beide.
A.

6. Januar 2013

Dieser Text erschien als Kapitel 3 unter dem Titel “Brief an Mum and Dad” in dem Buch "Invisible. Stories from Kenya’s Queer Community", Kenya 2014.

 

Über das Buch

Invisible erzählt die Geschichte, wie es ist, in Kenia als Homosexuelle/r zu leben. Über ein Jahr lang ist der Journalist und Aktivist Kevin Mwachiro kreuz und quer durch Kenia gereist und hat Geschichten aus der queeren Community gesammelt. Geschichten von jungen und alten Frauen und Männern, die sich entschlossen haben, ohne Versteckspiel zu leben trotz aller Widrigkeiten.

 

Weiterer Text aus dem Buch

 

Über den Autor

1973 geboren, hat Kevin Mwachiro die meiste Zeit seines Lebens in Nairobi gelebt und gearbeitet. Nachdem er die Daystar University in Nairobi besuchte, setzte er sein Studium an der Bournemouth University im Vereinigten Königreich fort. Dort erhielt er seinen MA in Hörfunkproduktion. Er hat als Rundfunkjournalist und Radioproduzent in Kenia, Uganda und dem Vereinigten Königreich gearbeitet und als Korrespondent für den BBC World Service. Zurzeit arbeitet er als communication officer bei der internationalen Entwicklungsorganisation Hivos in Nairobi.