Ein neuer Weg für die nukleare Abrüstung?

Mit der Krise in der Ukraine erleben wir derzeit eine schleichene Auflösung bestehender Institutionen und Normen. Davon könnten auch die Verhandlungen um einen Atomwaffensperrvertrag betroffen sein. Ob die neue „humanitäre Initiative“ eine tragfähige Alternative darstellt, muss sich erst zeigen.

Teaser Bild Untertitel
Im Zuge des nuklearen Teststoppvertrags (CTBT) wurde ein Überwachungssystem für nukleare Explosionen eingerichtet - hier eine Station englischen Cunha

Eigentlich ist die Verpflichtung sehr eindeutig: Artikel VI des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) verpflichtet alle Vertragsstaaten (Nuklearwaffenbesitzer und Nicht-Nuklearwaffenbesitzer) zu „Verhandlungen in gutem Glauben“ mit dem Ziel, „der frühzeitigen Beendigung des nuklearen Rüstungswettlaufs und der nuklearen Abrüstung, sowie über einen Vertrag über generelle und vollständige Abrüstung“. Während somit das Ziel klar vorgegeben ist, ist der Weg dorthin nirgends kodifiziert.

Bisher folgte die nukleare Abrüstung einem graduellen Schritt-für-Schritt Prozess, den die USA und Russland vorgaben. In Zeiten deutlicher Entspannung sanken die Zahlen der beiderseitigen Nukleararsenale; in Zeiten erhöhter internationaler Spannungen (so wie in der jüngsten Krise um die Ukraine) stockte der Prozess. Mit der so genannten „humanitären Initiative“, die auf einen vertraglich geregelten globalen Bann aller Nuklearwaffen abzielt, hat sich nun eine mögliche Alternative zum Schritt-für-Schritt Prozess etabliert. Ihre Unterstützer haben gewichtige Argumente auf ihrer Seite.[i]

Der wohl bekannteste russische Nuklearwaffenexperte Alexei Arbatow hat jüngst noch einmal betont: wenn es um Nuklearwaffen geht, wiegen Worte so schwer als Taten.[ii] Obwohl es Arbatow dabei konkret um die jüngsten nuklearen Drohungen Russlands ging, kann man seine berechtigte Sorge auch auf den Bereich „vollständiger Abrüstung“ anwenden. Wie sieht es also aus mit den konkreten (Abrüstungs-)Taten der Nuklearwaffenstaaten?

Die Antwort fällt kurz und bündig aus: nicht gut. Seit der letzten Überprüfungskonferenz des NVV im Jahr 2010 ist

  1. der New START-Vertrag zwischen den USA und Russland in Kraft getreten,
  2. amerikanische Regierungsvertreter werden nicht müde, ihre (meist rhetorische) Absicht weiterer Abrüstung zu betonen und
  3. die so genannten „P5“-Staaten – die offiziellen NVV-Nuklearwaffenbesitzer China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA – treffen sich nun regelmäßig, um sich über nukleare Abrüstung auszutauschen.

Was auf den ersten Blick ein durchaus positives Bild abgibt sieht bei näherem Hinsehen jedoch äußerst mager aus. Der New START-Vertrag ist viel weniger ein wirklicher Abrüstungsvertrag, als vielmehr ein geschicktes Zahlenwerk, welches mittels komplizierter Zählregelungen den Anschein echter Abrüstung erweckt. So zählt beispielsweise ein nuklear bestückter Bomber unter dem Vertrag als „eine Nuklearwaffe“.[iii] Dass ein solcher Bomber jedoch eine Vielzahl nuklear-bestückter Marschflugkörper und nuklearer Fallbomben tragen kann, findet im Vertrag keinen Niederschlag. Zählt man nun noch die inaktiven nuklearen Sprengkörper und solche, die auf ihre Demontage warten hinzu so ergibt sich ein völlig anderes Bild, als von New START vermittelt: nicht 1.550 Sprengköpfe auf jeder Seite sondern rund 15.000 Sprengköpfe (USA: ca. 7.300; Russland: ca. 8.000) befinden sich noch in den russisch-amerikanischen Arsenalen.[iv] Wie sich die Zahl von 7.300 nuklearen Sprengköpfen auf amerikanischer Seite mit dem Versprechen der Regierung Obama[v], die Bedeutung von Nuklearwaffen signifikant zu reduzieren verträgt, erschließt sich wohl nur dem Pentagon.

Wir bewegen uns rückwärts

Was für New START gilt, gilt leider auch für den „P5“-Prozess[vi], der sich immer mehr als geschicktes „Polit-Kabuki“ herausstellt. Nach über fünf Jahren und diversen Treffen hat man sich nun doch schon darauf verständigt, ein gemeinsames Glossar nuklearer Bezeichnungen auszuarbeiten. Eine solch multi-linguistische Übung mag für Liebhaber nuklearer Fachtermini ihren ganz eigenen Charme entfalten – mit konkreter Abrüstung hat sie nichts zu tun.

Während der Schritt-für-Schritt-Prozess in den vergangenen Jahren auf der Stelle trat, drohen nun die ersten ernsthaften Rückschritte. Im Zuge der Ukraine-Krise hat Russland maßgeblich zur Entwertung bestehender Normen im Nuklearbereich beigetragen. Die Sicherheitsgarantien[vii] (u.a. Zusicherung der territorialen Integrität der Ukraine) die Moskau der Ukraine 1994 für die Überführung der rund 2.000 ukrainischen Nuklearsprengköpfe gab, hat Moskau durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim gebrochen. Die ständigen offenen oder versteckten nuklearen Drohungen der russischen Führung[viii] untergraben den normativen Acquis des NVV-Regimes. Bisher galt unausgesprochen: man droht sich nicht mit Nuklearwaffen! Gleichzeitig vermutet die US-Regierung, dass Russland geheime Tests durchführe, die den Vertrag über die Eliminierung nuklearer Mittelstreckensysteme (INF) verletzten.[ix]

Auf amerikanischer Seite bringt das die sicherheitspolitischen „Falken“ in Stellung. Auf eine mögliche INF-Vertragsverletzung Moskaus und die zunehmenden nuklearen Drohungen müsste Washington mit entsprechenden neuen Mittelstreckensystemen, stationiert in Osteuropa, reagieren.[x] Weitere nukleare Abrüstung mit Russland werde es zukünftig nicht geben, drohte jüngst der republikanische Senator John McCain und brachte sich damit in klare Opposition zur Rede des amerikanischen Außenministers Kerry vor den Delegationen der NVV-Überprüfungskonferenz.[xi] Im Pentagon arbeitet man unterdessen an der Modernisierung der in Europa stationierten B-61-Bombe und fordert zusätzlich die Anschaffung von 1.000 neuen nuklearen Marschflugkörpern.[xii] Die nebulösen Zählregeln des New START-Vertrags machen eine solche Forderung überhaupt erst möglich. Zu Recht echauffiert sich der Nuklearwaffenexperte Hans Kristensen. Ein solcher Plan würde aus New START eine Farce machen, so Kristensen.[xiii]

Was wir gerade beobachten können, wird in der Politiktheorie als „graduelle Regime-Erosion“ bezeichnet.[xiv] Gemeint ist die Schritt-für-Schritt Auflösung bestehender Institutionen und Normen. Der graduelle Vorgang weiterer nuklearer Abrüstung dreht sich somit in sein Gegenteil um. Statt vorwärts bewegen wir uns rückwärts. Es droht ein nukleares Déjà-vu.

20 Jahre nuklearer Teststoppvertrag

Vor diesem bedenklichen Hintergrund bekommt die „humanitäre Initiative“ ein deutlich stärkeres Gewicht. Die Argumente ihrer Befürworter, dass selbst ein begrenzter Nuklearwaffeneinsatz katastrophales menschliches Leid und massive Umweltimplikationen hervorrufen würde sind dabei mindestens so berechtigt, wie ihr Hinweis, dass der Schritt-für Schritt Ansatz möglicherweise in einer Sackgasse stecke.[xv] Während der NVV noch immer eine eminent wichtige Rolle im Bereich Abrüstung und Nichtverbreitung spiele, sei es nun aber auch an der Zeit für etwas Neues: ein völkerrechtlich bindender Vertrag über ein globales Nuklearwaffenverbot. Was im Bereich chemischer und biologischer Waffen erreicht wurde, müsse auch für Nuklearwaffen möglich sein, so die Hoffnung der Unterstützer.

Offensichtlich spielt das Prinzip „Hoffnung“ eine gewichtige Rolle in den Überlegungen der Unterstützer eines Banns. Sie dafür zu verurteilen wäre falsch denn nichts anderes als Hoffnung unterliegt auch den Argumenten der Unterstützer des Schritt-für-Schritt Ansatzes – u.a. Deutschland[xvi] – die darauf hoffen, dass die USA und Russland, und hoffentlich später auch irgendwie China, Frankreich und Großbritannien, und viel später hoffentlich auch Indien, Pakistan, Israel und sogar Nordkorea schrittweise ihre Nuklearwaffen abgeben während zusätzliche Staaten wie der Iran diese gar nicht erst erwerben. Die Trennlinien zwischen realistischer Einschätzung und idealistischer Zuversicht sind bei weitem nicht so scharf wie sie von manchen Regierungsvertretern gegenüber den NGOs gerne dargestellt werden.[xvii]

Auch das Argument, dass ein vertraglicher Nuklearwaffenbann niemals die Nuklearwaffenbesitzer überzeugen könnte und ohne deren Teilnahme sein Ziel von vornherein verfehlen würde, ist nicht vollständig überzeugend. Als ein Beispiel sei hier der nukleare Teststoppvertrag (CTBT) genannt. Der Vertrag tritt erst in Kraft wenn alle Staaten, die Mitte der 1990er Jahre über die technologischen Voraussetzungen zu einem Nuklearwaffentest verfügten, den Vertrag unterschrieben und ratifiziert haben. Derzeit fehlen noch die Unterschriften und/oder die Ratifikation von Ägypten, China, Indien, Iran, Israel, Nordkorea, Pakistan und den USA.[xviii]

Was wird wie geächtet?

Obwohl der Vertrag im kommenden Jahr sein 20-jähriges Bestehen vor dem Hintergrund der noch immer ausstehenden Inkraftsetzung feiern wird, bestreitet inzwischen niemand mehr ernsthaft seinen immens wichtigen Beitrag zu internationaler Sicherheit und Nichtverbreitung. Zu Recht setzt sich beispielsweise die Bundesregierung „gegenüber den acht noch ausstehenden Staaten nachdrücklich für das Inkrafttreten des Vertrags ein.“[xix] Warum sollte was für den CTBT gilt somit bei einem Nuklearwaffenbann nicht gelten?

Das stärkste Argument für eine Unterstützung der „humanitären Initiative“ ist jedoch die Möglichkeit der Einflussnahme bei den eventuell zukünftig anstehenden Verhandlungen über einen Nuklearwaffenbann. Im Englischen heißt es so schön: ‘who’s not at the table, is on the menu’. Oder anders ausgedrückt: wer sich bewusst der Chance beraubt, einen solchen Prozess nicht pro-aktiv mitzugestalten, braucht sich auch nicht zu wundern wenn das spätere Ergebnis nicht den eigenen Interessen entspricht.

Niemand, selbst die stärksten Unterstützer der „humanitären Initiative“, kann vorhersehen, welche inhaltliche Form ein möglicher Bann annehmen wird. Soll wirklich nur der reine Besitz geächtet werden? Welche Verifikations- und Monitoringmechanismen sollen angewandt werden? Könnte ein Bann nicht auch mit graduellen Schritten gekoppelt werden? Wie wäre das inhaltliche und politische Verhältnis zum NVV? All diese Fragen harren einer intensiven Auseinandersetzung.

Die Befürchtung, dass ein möglicher Bann den NVV untergraben würde, ist durchaus nicht völlig von der Hand zu weisen. Auf der anderen Seite ist es auch richtig, dass die Abrüstungsziele des Vertrags immer weniger bedient werden und sich der Schritt-für-Schritt Ansatz scheinbar erschöpft hat. Ob die „humanitäre Initiative“ wirklich eine tragfähige Alternative darstellt, wird sich zeigen. Es wäre verfrüht, bereits jetzt apodiktisch negativ zu urteilen.

 

[i] Hoffmann-Axthelm, Leo, Atomwaffen ächten. Die humanitäre Notwendigkeit eines Verbotsvertrages, ICAN Deutschland (PDF).

[iv] Ploughshares Fund, World Nuclear Stockpile Report.

[v] Department of Defense of the United States of America, Nuclear Posture Review Report (April 2010), S. vi (PDF).

[vi] Arbatov, Alexei, The P5 Process: Prospects for Enhancement (PDF).

[ix] Meier, Oliver; Thielmann, Greg and Andrei Zagorski, Formal Dialogue on Compliance Can Still Save the INF Treaty (PDF).

[x] Kroenig, Matthew, Facing Reality: Getting NATO Ready for a New Cold War, in: Survival (2015, 57:1), S. 49-70 (PDF).

[xii] Reif, Kingston, Air Force Wants 1,000 New Cruise Missiles, in: Arms Control Today (on-line edition).

[xiii] Ibid.

[xiv] Kühn, Ulrich, Cooperative Arms Control in Europe and the Global Nuclear order: Rethinking Decision-Making and Institutions in Light of the Ukraine Conflict (PDF).

[xv] Sauer, Tom, The NPT and the Humanitarian Initiative: Towards and Beyond the 2015 NPT Review Conference (PDF).

[xvii] Wilson, Ward, How nuclear realists falsely frame the nuclear weapons debate, in: Bulletin of the Atomic Scientists (on-line edition).