Vom Paten zum Skeptiker: Kanada und die R2P

Peace Monument

In den 90er Jahren machte die liberale Regierung Kanada zu einem Vorreiter internationaler humanitärer Initiativen. Was ist seither aus Kanadas Engagement für die internationale Schutzverantwortung geworden?

Kanada wird zuweilen nachgesagt, sein einzig wahres nationales Interesse liege in der engen aber unabhängigen Beziehung zu den Vereinigten Staaten. Entschieden anders sah das zumindest die liberale Regierung unter Premierminister Jean Chrétien (1993–2003) und seinem Außenminister Lloyd Axworthy (1996-2000), deren Außenpolitik sich stark am Leitgedanken des liberalen Internationalismus [1]  und des Engagements in internationalen Organisationen orientierte. In Chrétiens Amtszeit wurde Kanada zum Geburtshelfer mehrerer internationaler Initiativen humanitärer Natur, allen voran der Internationalen Konvention zum Verbot von Landminen (Ottawa-Konvention), der Verankerung des Konzepts der „menschlichen Sicherheit“ [2] (human security) im internationalen Diskurs, und der Entstehung der Norm der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P).

Geburtsstunde der internationalen Schutzverantwortung

Das Konzept der Schutzverantwortung wurde 2001 von der International Commission on Intervention and State Sovereignty auf die internationale politische Bühne gehoben. Die Kommission unter kanadischer Trägerschaft tagte auf Initiative des damaligen VN-Generalsekretärs Kofi Annan. Im Kern besagt das Konzept der R2P, dass die internationale Gemeinschaft im Falle von Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Einschreiten verpflichtet ist, wenn der Staat, auf dessen Boden die Gräueltaten verübt werden, unfähig oder nicht willens ist, die eigene Bevölkerung zu schützen. Damit wurde das Staatenrecht auf territoriale Integrität und das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten erstmals vom Menschenrecht auf Schutz des eigenen Lebens ausgehebelt.

Vier Jahre nach dem Abschlussbericht der Kommission war Kanada einer der zentralen Staaten, der die Verankerung der Schutzverantwortung in den Vereinten Nationen vorantrieb. Auf dem VN-Weltgipfel 2005 stimmten 150 Staats- und Regierungschefs einstimmig für die Paragraphen 138 und 139 der Abschlusserklärung, die die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft bekräftigte.

Harpers Kehrtwende

Nach den Parlamentswahlen im Jahr 2006, in denen Harpers Konservative Partei Kanadas den höchsten Stimmenanteil und damit den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt, vollzog Kanada eine außenpolitische Kehrtwende. Nach Aussage ehemaliger Regierungsvertreter erhielten mehrere kanadische Botschafter kurz nach dem Regierungswechsel die Handlungsanweisung aus Ottawa, die Begriffe „internationale Schutzverantwortung“, “menschliche Sicherheit”, und „gute Regierungsführung“ (good governance) nicht mehr öffentlich zu verwenden. Jegliche sprachliche Assoziation mit der liberalen Vorgängerregierung sollte auf sämtlichen staatlichen Webseiten, in der Abteilungsstruktur der Ministerien und in öffentlichen Stellungsnahmen unterbunden werden.

Zwar folgte 2009 eine erkennbare Kurskorrektur, indem das kanadische Außenministerium DFAIT ein stärkeres Engagement der kanadischen Diplomat/innen im Dialog zur Umsetzung der Schutzverantwortung mit skeptischen Staaten ankündigte. Seither bezieht sich Kanada in öffentlichen Stellungnahmen wieder auf die R2P, allerdings bleibt die Referenz meist eine politische Fußnote. Harpers Kritiker führen den Wandel in der Rhetorik auf den Wahlsieg von Präsident Obama im Jahr 2008 zurück, der die Ernennung von Susan Rice zur VN-Botschafterin der Vereinigten Staaten zur Folge hatte. Susan Rice galt bei ihrem Amtsantritt als Verfechterin der R2P, deren Verankerung sie mithilfe einer Koalition gleichgesinnter Staaten, zu der auch Kanada zählte, voranzutreiben gedachte. Außerdem dürfte die Kampagne für die letztlich nicht erfolgreiche Kandidatur Kanadas um einen Sitz im VN-Sicherheitsrat im Jahr 2010 zur Wiederaufnahme der R2P in das diplomatische Lexikon beigetragen haben.

Auf die Frage, ob die Harper-Regierung die Schutzverantwortung vollends unterstütze, sagte der damalige parlamentarische Staatssekretär für Verteidigung, Chris Alexander, 2011: “Dieser Tage sehen wir das so: Wir besinnen uns zurück auf die fundamentalen Werte, die den Vereinten Nationen zugrunde liegen: die Menschenrechte und deren universelle Erklärung und eine Weltanschauung, in der der Mensch im Zentrum steht, mit einem besonderen Fokus auf die Förderung von Chancen“. Eine flammende Zustimmung klingt anders.

Feuertaufe Libyen

Erklärungen und Appelle konstituieren das Herzstück internationaler Diplomatie. Wie aber hält es die Harper-Regierung mit der Auslegung der Schutzverantwortung in der Praxis? Das erste Mal wurde die Schutzverantwortung 2011 im Angesicht eines drohenden Massakers in der libyschen Stadt Benghazi in einer VN-Resolution als Begründung für eine militärische Intervention herangezogen. Am 18. März 2011 verabschiedete der VN-Sicherheitsrat die Resolution 1973, die explizit auf die R2P Bezug nahm in der Legitimierung “aller notwenige[n] Maßnahmen” zum Schutz der libyschen Bürger vor Gaddafis Truppen.

Kanada war einer der ersten Staaten, der sich im Frühjahr 2011 im Zuge der NATO-geführten Operation „Unified Protector“ militärisch an der Durchsetzung der Flugverbotszone und dem Waffen-Embargo gegen die libysche Zentralregierung beteiligte. In der Parlamentsdebatte am 28. März 2011 schien sich die Harper-Regierung trotz der Befürwortung des Militäreinsatzes von der Schutzverantwortung zu distanzieren. „'Responsibility to protect‘ sind leichte Worte”, sagte Laurie Hawn, die damalige parlamentarische Staatssekretärin für Verteidigung, in der Libyen-Debatte im kanadischen Parlament: "…wir können über die Unterstützung von Freiheit reden oder dementsprechend handeln. Das ist es, was wir zusammen mit unseren Partnern tun“.  

Der Staatszerfall in Syrien, Irak und der Kampf gegen IS

Auch in der seit 2011 schwelenden Diskussion um eine humanitäre Intervention in Syrien zogen Premierminister Harper und sein Außenminister John Baird es lange vor, keinen Bezug auf die Schutzverantwortung zu nehmen. Nachdem sich die USA im Frühherbst 2014 allerdings dazu entschloss, die Federführung im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) zu übernehmen, änderte auch die kanadische Regierung ihre Taktik. In einer Parlamentsdebatte vom 16. September 2014 erklangen erstaunlich neue Töne. Nun sprach sich Verteidigungsminister Jason Kenney explizit dafür aus, die Schutzverantwortung gegenüber der irakischen Bevölkerung wahrzunehmen: „Wenn R2P irgendetwas bedeutet, wenn unsere moralische Verpflichtung irgendetwas bedeutet, dann muss das heißen, dass wir in diesem Fall handeln“.  Neben Kampfjets, Tankflugzeugen und Aufklärungsflugkörpern ist Kanada seither mit rund 600 Personen und 69 Spezialeinheiten im Irak im Einsatz.

Am 30. März 2015 sprach sich das kanadische Parlament mit 142 zu 129 Stimmen für einen Antrag aus, der den kanadischen Beitrag zur Anti-IS Mission um ein Jahr verlängerte. In der der Abstimmung vorausgehenden Debatte nahm Verteidigungsminister Jason Kenney erneut Bezug auf die Schutzverantwortung: “Wenn die Schutzverantwortung etwas wert ist… müssen wir dann nicht in einem Falle wie diesem Genozid, ethnische Säuberungen, Sexsklaverei von Frauen und die Hinrichtung schwuler Männer… verhindern?“.  Damit machte es sich der Verteidigungsminister allerdings sehr einfach. Die Entscheidung über die legitime Anwendung der R2P liegt alleinig beim VN-Sicherheitsrat, nicht bei einem Nationalstaat oder einer „Koalition der Willigen“. Die internationale Anti-IS Koalition unter der Führung der USA verfügt nicht über ein solches VN-Mandat.

Folgerichtig konterte die Opposition, dass die Harper-Regierung augenscheinlich vor allem von innenpolitischen Erwägungen und nationale Sicherheitsinteressen getrieben sei. Wenn es der Regierung vornehmlich um den Schutz von Menschenleben und die Verhinderung von Gewaltverbrechen ginge, hieß es aus Oppositionskreisen, hätte sie dann nicht sehr viel mehr tun müssen, um das Assad-Regime zu schwächen, das in klar dokumentierte Gewaltverbrechen involviert ist? Anstatt sich jedoch für ein robustes internationales Einschreiten gegen den Einsatz von Fassbomben und chemischen Waffen der syrischen Armee einzusetzen, zieht die kanadische Regierung es vor, sich lediglich im Kampf gegen IS zu engagieren. Sie ist also auf einem Auge blind, wenn es um den Schutz der Zivilbevölkerung im Irak und in Syrien geht.

Der lange Schatten eines politischen Vermächtnisses

Auch wenn Kanada in den letzten acht Jahren nur noch halbherzig für die Schutzverantwortung eingetreten ist, haben sich etliche zivilgesellschaftliche Verbünde, Think Tanks und Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt, allen voran das Global Centre for the Responsibility to Protect und die International Coalition for the Responsibility to Protect, seither der R2P verschrieben. Inzwischen hat der internationale Freundeskreis der Schutzverantwortung 44 Mitglieder [3], und 49 Staaten haben einen Focal Point aus den Regierungsrängen ernannt (Kanada ist dem Aufruf bis dato nicht gefolgt). Trotz der Rückschläge in Libyen und Syrien wird inzwischen lediglich um die Auslegung und Umsetzung der Schutzverantwortung gerungen. Das Prinzip selbst wird von der überwältigenden Mehrheit der Staatengemeinschaft aber nicht mehr in Frage gestellt. Dieser Fortschritt, trotz all seiner Unvollkommenheit, wird auf Ewig mit Kanadas Blütezeit als Vorreiter internationaler humanitärer Initiativen verknüpft sein. Dieses Vermächtnis konnte auch Stephen Harper in seinen acht Jahren als Regierungschef nicht widerrufen.

 

Fußnoten:

[1] Der liberale Internationalismus ist eine stark normativ geprägte Schule der Internationalen Beziehungen, die an den grundlegenden Werten der Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Frieden orientiert ist. Die Weltanschauung basiert auf der Annahme, dass Staaten nicht (mehr) die wichtigsten Akteure in den internationalen Beziehungen sind. Vielmehr bezieht sich die Schule auf die Pluralität entscheidender Akteure im internationalen System, zu denen gesellschaftliche Gruppen, transnationale Konzerne und internationale Organisationen gehören.

[2] Das Konzept der „menschlichen Sicherheit“ hebt sich vom traditionellen außenpolitischen Fokus auf Nationalstaaten ab, indem es sich vornehmlich auf die Sicherheit und Rechte von Individuen bezieht. Das Konzept wird oft mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC), der Schutzverantwortung und internationalen Initiativen zur Bekämpfung von Kindersoldaten, Landminen und Kleinwaffen in Verbindung gebracht.

[3] Die internationale “Group of Friends of the Responsibility to Protect” wird momentan von den Niederlanden und Ruanda geleitet. Zu ihren Mitglieder gehören: Argentinien, Australien, Bangladesch, Belgien, Botswana, Kanada, Chile, Costa Rica, Elfenbeinkueste, Tschechische Republik, Dänemark, Europäische Union, Finnland, Frankreich, Deutschland, Ghana, Guatemala, Ungarn, Italien, Liberia, Liechtenstein, Luxemburg, Mali, Mexiko, Marokko, Mozambique, Neu Seeland, Nigeria, Norwegen, Panama, Suedkorea, Senegal, Sierra Leone, Singapur, Slowakei, Slowenien, Süd Sudan, Schweden, Schweiz, Tansania, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Uruguay.