Ein lehrreicher Abend in Moskau

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"Wir müssen das Gespräch suchen und auf dem schmalen Grat zwischen Widerrede und Zerwürfnis balancieren"

Vom 3. bis zum 5. Februar ist Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, zu Gesprächen in Russland. Im Mittelpunkt der Reise stehen die Krise der russischen Rohstoff-Ökonomie und die Perspektiven für eine ökologische Modernisierung. Diese setzt allerdings weitreichende Reformen voraus. Ein erster Eindruck.

Update: Eine erweiterte Version dieses Berichts erschien am 26.2.2016 auf welt.de

3.2.2015
Ein lehrreicher Abend in Moskau. Es begann mit einem Gespräch unter sechs Augen in der Moskauer Filiale eines Petersburger Technologieunternehmens, begleitet von Wodka, sibirischem Speck und Hering. Der Eigentümer und CEO der Firma - ein Self-Made-Man, der stolz auf seine Unabhängigkeit von "Moskau" ist - war auf die russische Ausgabe von "Intelligent Wachsen - Die grüne Revolution" gestoßen und wollte mit mir reden.

Das Unternehmen ist global vernetzt und schickt seine Mitarbeiter nach Freiburg und in die Schweiz, um mit der Entwicklung im Westen Schritt zu halten. Der Chef ist überzeugt, dass das innovative Potential Russlands in den Regionen fernab vom Machtzentrum liegt: dort herrsche die Inkompetenz. Veränderungen der russischen Wirklichkeit seien nur als Summe lokaler/individueller Initiativen möglich.

Die Unterhaltung ging weiter in einem 6-Sterne-Hotel, dessen neureiche Geschmacksverirrung schwer zu übertreffen sein dürfte, jetzt in erweiterter Runde mit einem deutschen Geschäftspartner und jüngeren Mitarbeitern des Unternehmens. Wir blieben beim Wodka. Der war auch nötig, um das Gespräch zu verdauen - eine geballte Ladung von Stereotypen, hart am Rand eines Zerwürfnisses: Der Westen müsse endlich aufhören, seine Normen dem Rest der Welt aufzunötigen, von Russland bis Syrien.

Russland sei anders als Europa, das Land sei nur mit harter Hand zu regieren. Korruption gebe es überall, man müsse halt wissen, nach welchen Regeln gespielt wird. Für Russland gebe es nur die Alternative zwischen autoritärer Führung und Chaos. Das Land sei nicht mit europäischen Maßstäben zu messen. Was die große Mehrheit der Bevölkerung wolle, sei Stabilität und eine grundlegende soziale Sicherheit. Das sei wichtiger als der Kanon der liberalen Freiheiten. Es gehe nicht darum, das System zu ändern, sondern intelligent mit ihm umzugehen und die existierenden Freiräume zu nutzen.

Die Zukunft Europas liege in einer deutsch-russischen Allianz, ganz in der Tradition von Bismarck, Kohl und Schröder. Im zweiten Weltkrieg hätten die anglosächsischen Mächte Russland und Deutschland aufeinander gehetzt. Dieses Spiel würde sich heute wiederholen. Die Ukraine sei ebenso Teil Russlands wie Bayern zu Deutschland gehöre. In der Sowjetunion hätten die diversen Völkerschaften besser gelebt als heute - ihr Zerfall sei ein historisches Unglück, hervorgerufen durch ein Machtvakuum im Zentrum. Das dürfe sich nicht wiederholen.

So ging es den ganzen langen Abend - mit Leuten, die nicht zur "Vertikale der Macht" gehören, die zum Teil in Europa studiert haben und von der deutsch-russischen Seelenverwandtschaft schwärmen.

Es hilft alles nichts: wir müssen das Gespräch suchen und auf dem schmalen Grat zwischen Widerrede und Zerwürfnis balancieren. Klar ist jedenfalls, dass der Putinismus nicht nur mit Gewalt herrscht, sondern auf einem unverdauten postimperialen Phantomschmerz aufbaut, der die Gemütslage weiter Teile der russischen Gesellschaft prägt. Politisch gesprochen: der Westen muss eine komplizierte Balance zwischen Eindämmung der neo-imperialen Ambitionen Russlands und wirtschaftlicher, kultureller und politischer Zusammenarbeit finden. Weder dürfen wir der aggressiven Paranoia Russlands nachgeben noch sie weiter füttern. Das ist leicht gesagt, aber schwer getan.