Gegen das Recht des Stärkeren

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Die Skulptur gegen Landminen und Clusterbomben sollte eigentlich Mahnung genung für die Verhandelnden in Genf sein

Der Westen sollte Syriens Opposition nicht unter Druck setzen - im eigenen Interesse.

Jetzt ist selbst dem UN-Sondergesandten Staffan de Mistura der Kragen geplatzt. Jenem Mistura, der sich auf einen Friedensprozess unter fragwürdigsten Vorzeichen eingelassen hatte und zuließ, dass die Resolutionen des Sicherheitsrats zu Syrien wertloses Papier blieben. Nachdem die syrische und russische Luftwaffe schon wochenlang versucht hatten, explizit alle Rebellengruppen außer der Terrormiliz IS so zu bombardieren, dass sie den Verhandlungen fernbleiben, sind jetzt um Aleppo die massivsten Angriffe seit Monaten im Gange. Als sich vorige Woche abzeichnete, dass der Zugang zur östlichen, in Rebellenhand befindlichen Stadthälfte abgeschnitten werden würde, verkündete de Mistura das Aus. Die Gespräche würden bis Ende des Monats unterbrochen. Er werde keine Gespräche um der Gespräche willen führen.

Dabei handelt es sich um einen Abschluss der Verhandlungen mit Ansage - durch das Regime selbst. Ein hochrangiges Mitglied der regierenden Baath-Partei, Hilal el-Hilal, hatte verkündet, die Regierungsdelegation sei nicht in Genf, um Konzessionen zu machen. Dies sei das "Jahr des Sieges". Nicht der ernsthaften Verhandlungen, hätte er hinzufügen können.

Dabei mangelt es nicht an Kriegsmüdigkeit. "Wir sind müde. Ihr seid es auch. Wir brauchen eine zu 100 Prozent syrische Lösung," schrieben die syrische Aktivistin Rima Dali und ihre Mitstreiterinnen bereits 2012 auf ihr Plakat bei einer Demonstration in Damaskus und wurden dafür umgehend verhaftet. Millionen Syrerinnen und Syrern sind seither vertrieben worden, getötet, verschwunden, oder sitzen in Dutzenden belagerten Ortschaften unter fürchterlichen Bedingungen fest. Viele von ihnen wünschen sich nichts sehnlicher, als dass der Krieg ein Ende haben möge - und doch sehen sie in Genf noch nicht einmal einen Hoffnungsschimmer.

Es gibt viele Gründe, skeptisch zu sein. Weder vorherige internationale Verhandlungen noch UN-Resolutionen haben die Gewalt mindern können. Daraus erklärt sich auch das anfängliche Zögern der Oppositionsdelegation, die ankündigte, nicht an Gesprächen teilnehmen zu wollen, solange die Voraussetzungen dafür nicht geschaffen seien. Sie fordert, das Regime müsse zunächst politische Häftlinge freilassen, das gezielte Aushungern bestimmter Ortschaften beenden, und die Luftangriffe auf die Rebellen einstellen. Das sind keine vermessenen Forderungen, sondern sie geben im Wesentlichen das wieder, was der UN-Sicherheitsrat zu Syrien verabschiedet, aber nie umgesetzt hat.

Mit Gewalt Fakten schaffen

Die Folgen des Krieges sind in regimekontrollierten Gegenden weniger spürbar, doch dass das Regime sich nicht mehr aus eigener Kraft halten kann, ist auch hier schwer zu übersehen. Die Zahl der jungen Männer, die aus Angst vor Zwangsrekrutierung fliehen, ist im vergangenen Jahr sprunghaft gestiegen. Die Armee, früh schon durch private Milizen aufgestockt, hängt immer mehr von ausländischen Kämpfern aus den Nachbarstaaten ab. Trotz massiver russischer Luftangriffe gelang es dem Regime nur langsam, Territorium zurückzuerobern. Doch Dorf um Dorf, Stadtteil um Stadtteil zeigt sich: Lieber herrscht das Regime über einen Schutthaufen, als eine Ortschaft außerhalb des eigenen Territoriums in Frieden zu lassen.

Die Verhandlungen haben das Regime offensichtlich ermutigt, mit Gewalt Fakten zu schaffen. Innerhalb der vergangenen Woche hat Russland noch intensiver angegriffen, sind noch mehr Fassbomben als üblich abgeworfen worden. Während die Berichterstattung noch mit der Ankunft eines Hilfskonvois in der belagerten Stadt Madaya beschäftigt war, hat das Regime gleichzeitig seine Blockaden anderer Orte im Umland von Damaskus verschärft.

Von einer landesweiten Waffenruhe - erster Schritt des Wiener Friedensplans - ist man weiter denn je entfernt. Selbst wenn die derzeitigen Verhandlungen Erfolg hätten, bliebe die Frage, wie ein solcher Waffenstillstand überwacht werden soll. Im Entwurf eines Papiers von de Mistura heißt es: "Was die physische Umsetzung der Überwachung der Waffenstillstandsbemühungen betrifft, gehen wir davon aus, dass dies zunächst durch die nationalen Counterparts geschieht, nach dem Modell der bereits existierenden."

Eine Lehre aus Kobanê

Doch die lokalen Waffenstillstände der vergangenen Jahre bieten keine Vorlage für Frieden. Vom Rat der Europäischen Union zutreffend als "durch Aushungern erzwungene Unterwerfung" beschrieben, folgte - konsequenterweise - keinem der lokalen "Waffenstillstände" ein Versöhnungsprozess. Sie stellten nie einen ersten Schritt zum Frieden dar, sondern stets einen weiteren zur Fortsetzung des Konfliktes. Einheiten, die temporär frei wurden, kamen sofort woanders zum Einsatz. Bei einem fortgesetzten Ungleichgewicht der ausländischen Kräfte in Syrien, bei denen eine Seite partout nicht intervenieren will, die andere es in einem Ausmaß tut, dass sie mittlerweile mehr Zivilisten als das Regime selbst tötet, würde dies im Klartext heißen: Statt einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, wie es die UN als hoheitliche Institution eigentlich sollten, lässt man in Syrien weiter das Recht des Stärkeren walten.

Auch, wenn der Westen geneigt ist, die schwache Opposition mehr unter Druck zu setzen als das Regime und seine mächtigen Verbündeten Russland und Iran, auch wenn ihr leichter Zugeständnisse abzuringen sind, weil sie keine Wahl hat: Es wäre nicht im eigenen Interesse des Westens. Eine Opposition, die nichts in Händen hält, womit sie Bevölkerung und Kämpfer in den von ihr kontrollierten Gebieten überzeugen kann, wird die Kämpfe nicht beeinflussen. Sie muss innerhalb Syriens beweisen können, dass es Sinn hatte, nach Genf zu fahren. Sonst wird sie in Syrien selbst an Bedeutung verlieren. Genau dort aber braucht der Westen sie. Über Kobanê haben viele vergessen, dass es die überwiegend arabisch-sunnitischen Rebellen waren, die den IS im Norden des Landes bereits einmal erfolgreich zurückgedrängt haben. Sie sind es auch, die der Terrormiliz an vielen Orten weiter die Stirn bieten, auch wenn Assad und Russland sie dabei fortwährend bombardieren.

Um die Opposition - und auch die UN, unter deren Ägide der Friedensprozess stattfinden soll - zu stärken, wäre dreierlei vonnöten: ein Ende der Luftangriffe, die Aufhebung der Belagerungen und freier humanitärer Zugang zu allen Gegenden. Dies würde die Zahl der Todesopfer und der Flüchtlinge augenblicklich dramatisch senken, es wäre überprüfbar und würde den Verhandlungen eine Chance geben. Aus moralischen, aber auch aus pragmatischen und strategischen Gründen wäre es im Sinne westlicher Staaten, die Opposition zu stärken, nicht zu schwächen.

Dieser Artikel erschien am 9. Februar als "Außenansicht" in der Süddeutschen Zeitung.

Gespräche mit Bente Scheller zum Thema: