Forstmann, Umweltaktivist, Mitbegründer der Grünen und der Heinrich-Böll-Stiftung: Wir erinnern an Wilhelm Knabe

Am 30. Januar 2021 ist Wilhelm Knabe gestorben, mit 97 Jahren. Aus seinem langen, engagierten, spannenden Leben erzählte er in einem Interview mit Christoph Becker-Schaum.

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Wilhelm Knabe als Vorsitzender der Grünen, 1984

Anfang der achtziger Jahre war das Waldsterben das große ökologische Thema in Deutschland. Wilhelm Knabe hatte sich den Kampf dagegen auf die Fahnen geschrieben. Das Archiv Grünes Gedächtnis hat mit ihm über sein Leben in und die Lehren aus Nazi-Deutschland gesprochen, über die Flucht aus der DDR und seinen Weg zu den Grünen, deren Vorsitzender er von 1982 bis 1984 war.

Wilhelm, du bist 1923 geboren. Wie haben dich deine Familie und euer Leben im sächsischen Arnsdorf geprägt?

Wilhelm Knabe: Ich stamme aus einem evangelischen Pfarrhaus. Wir waren neun Geschwister. Ich habe also schon früh Partei- oder Gruppenbildung erlebt, wenn die Großen den Kleinen gegenüberstanden. Marie zum Beispiel, als Fünfte in der Mitte, ging je nach Gunst der Lage mit den einen oder den anderen.

Warst du Großer oder Kleiner?

Ich war Kleiner, das siebte von neun Kindern. Mein Vater war Pfarrer mit starkem Sozialbezug, er arbeitete in Landesanstalten für Geisteskranke, heute würde man sagen für psychisch Kranke. Ich ging auf ein Internat, die Fürstenschule in Meißen, die aus heutiger Sicht erstaunlich fortschrittlich war, mit weitgehender Schülerselbstverwaltung. Die Schule war früher christlich geprägt, zur NS-Zeit wurde das natürlich anders. Zu Bibelstunden zu gehen, wurde für uns zu einer schwierigen Entscheidung. Ich wollte ein guter Deutscher und ein guter Christ sein, doch das schien sich plötzlich auszuschließen, denn Hitler war die oberste Instanz geworden - und nicht mehr Gott.

Wie funktionierte die Selbstverwaltung in der Schule?

Es gab zehn Stuben mit je 13 Jungs unterschiedlichen Alters. Jeweils ein Stuben- und ein Tischinspektor sollten für Ruhe und Ordnung sorgen. Sie kontrollierten die Schränke und passten auf, dass jeder seine Schularbeiten machte, bevor er zur Selbstbeschäftigung etwas anderes las.

Ich habe dort viel über die Führung einer kleinen Gruppe und über Verantwortung gelernt. Wenn Inspektoren unfähig waren, wurde gemacht, was die Rowdys wollten. In meiner Stube gab es zwei davon. Sie hatten ihren Spaß dran, mich als Kleinsten in einen Papierkorb zu setzen und auf den Schrank zu wuchten. Dann zogen sie langsam an dem Papierkorb, bis er nach hinten vom Schrank kippte. Ich wusste nie, ob sie mich auffangen würden und hatte Todesangst. Ein grausames Ritual um zu beweisen, dass sich der Stärkere durchsetzt.

Was sind deine stärksten Erinnerungen aus der Schulzeit?

Ich konnte schnell lesen, habe die Schulbücherei sicher komplett verschlungen. Für mich war immer das interessant, was im Unterricht noch nicht dran gewesen war, vor allem Geschichte und Geografie. Wann immer Zweifel an der Partei auftauchten, versuchte ich durch die Zeitschrift für Geopolitik von Karl Haushofer Klarheit zu gewinnen. Sie war hochinteressant für mich, denn sie zeigte Vergänglichkeit und Missbrauch von Macht und Wissenschaft für politische Zwecke. Mit dem Nichtangriffspakt zum Beispiel war die Sowjetunion plötzlich Halbverbündeter. Dabei waren Russen zuvor als „Räuber der Steppe“ bezeichnet worden.

Warst du in der Hitlerjugend?

1933, mit zehn, wurde ich zunächst wie alle Klassenkameraden ins Jungvolk aufgenommen. Die Sommerlager waren spannend aufgezogen, aber ansonsten fand ich die HJ uninteressant. Ich hatte in der frühen Kindheit unheimlich viel von der Natur gelernt. Ich kannte wirklich alle heimischen Vögel, konnte die Raubvögel am Flug unterscheiden und beobachtete die Jagdstrategien von Mäusebussard, Turmfalke und Krähe. Die Turmfalken horsteten in einem Wasserturm am Rande der Landesanstalt Leipzig-Dösen. Ihren Flügen zuzusehen, war für mich eine riesengroße Freude. Meine Liebe zur Natur ist vor allem bei der Beobachtung der Vögel gewachsen.

Wie standen deine Eltern zum Nationalsozialismus?

Meine Mutter hielt Hitler von Anfang an für einen bösen Menschen. Sie sah mit Entsetzen die Spuren der Reichspogromnacht 1938 in Leipzig und erwartete, dass Gott dieses Unrecht bestrafen würde. Mein Vater selber ist wohl von Deutschnationalen politisiert worden, die den Versailler Vertrag für ungerecht hielten, und ist sehr früh in die Partei eingetreten. Doch später hat er sich eher der Meinung seiner Frau angeschlossen. Als wir nach Moritzburg bei Dresden umzogen, wurde mein Vater Rektor einer Brüderanstalt der evangelischen Kirche. Sein Sekretär war stellvertretender Ortsgruppenleiter, ein strammer Nazi, der auch über meinen Vater berichtete. Mein Vater wurde später in den Kampf innerhalb der lutherischen Kirche hineingezogen.

Er wollte die Gemeinde aufbauen und nicht für eine Kirche arbeiten, in der Gott abgesetzt war. Er hat sich dann immer weiter von den Nazis entfernt. Als die ersten geistig Behinderten beziehungsweise geistig Erkrankten im Zuge der Euthanasiepolitik der Nazis abgeholt wurden, hat er sich als ihr Seelsorger massiv gewehrt. Er fuhr nach Berlin und hoffte, durch Appelle bei NS-Funktionären die Tötung zu verhindern. Von dieser Reise kam er krank zurück. Am nächsten Tag wurde er zur SS nach Dresden beordert, fuhr krank hin und kehrte noch kränker zurück. Wenige Tage darauf ist er an einer Lungenentzündung verstorben. Sein Nachfolger als Rektor hat in die Transporte eingewilligt. Dabei waren manche der Heimbewohner nur Bettnässer oder Epileptiker. Die Nazis verfolgten eine Politik der Ausmerzung „unwerten Lebens“.

Das war 1940/41?

Mein Vater ist im April '40 gestorben. Im selben Jahr hat die systematische Ermordung im „Sonnenstein“ und in anderen Kliniken eingesetzt.

1942 wurdest du zur Wehrmacht eingezogen.

In der Hitlerjugend erlebte ich in der Nachrichten-HJ eine gewisse vormilitärische Ausbildung. Dort habe ich Morsen gelernt. Noch immer kenne ich die Signale „didadidi - ich liebe dich“. Ich wollte unbedingt zur Luftwaffe, bekam aber die Einberufung zur Marine-Artillerie. Um meinen Willen durchzusetzen, ging ich direkt zum Wehrkreiskommandanten statt mit dem zuständigen Feldwebel zu sprechen, das hätte nicht funktioniert. Mit einem Chef kann man Argumente diskutieren, ein Subalterner handelt nur nach Vorschriften, der hätte gesagt: „Sie haben da zu dienen, wo der Führer Sie braucht.“ Mein Vater hat immer gesagt: „Geh nie zum Schmiedele, geh immer zum Schmied.“
Mein Vater hat mir auch die Unterscheidung zwischen triftigen und weniger wichtigen Verboten beigebracht. Er sagte: „Eintritt verboten-Schilder“ verbergen oft etwas Interessantes. Bei einem gelben Schild mit roten Blitzen „Vorsicht!“ ist es aber wirklich lebensgefährlich.

Konntest du dich durchsetzen und bist du zur Luftwaffe gekommen?

Ja. Das hat mir wohl das Leben gerettet, denn die Desorganisation der Luftwaffe führte zu Versetzungen an immer neue Ausbildungsorte. Zunächst sollten wir 1942/43 an der belgischen Kanalküste schon als Rekruten Truppenpräsenz zeigen. Die nächsten Aufgaben waren Flugplatz-Bewachung und Segelflugausbildung. Anschließend sollten wir in Großenhain als Fernaufklärer ausgebildet werden. Dann kam die Besatzungsausbildung für Seeaufklärung in Perleberg. Halt! Herman Göring brauchte Jagdflieger zur Reichsverteidigung gegen die feindlichen Bomberflotten, also ab zu den Flugzeugführerschulen in Prenz-lau und Kaufbeuren. Doch die Ausbildung zum Piloten stockte, denn es gab keinen Sprit mehr, und so konnten wir nicht fliegen. Nächste Versetzung zu den Fallschirmjägern nach Berlin-Reinickendorf, dort haben wir aber nicht etwa Fallschirmabspringen gelernt, nein!

Wir wurden nur neu eingekleidet und an die Ostfront geschickt, an die Oder. Das war im Frühjahr 1945. Am 20. April erlebten wir dort unseren ersten Luftangriff der Russen, als wir gerade zum Geburtstag des Führers Spalier standen. Wir glaubten, wir seien wegen einer dünnen Wolkenschicht geschützt, da sausten Bomben herunter.

Wie habt ihr den Rückzug geschafft?

Man hatte uns im Stich gelassen! Wir waren Gefechtsvorposten, aber niemand hatte uns Bescheid gesagt, dass die anderen schon abgehauen waren. So zogen wir uns auch nach Westen zurück. Auf dem Rückzug der ganzen Armee versuchte eine SS-Einheit einen neuen Trupp für die Front zusammenzustellen. Doch ein Fallschirmjäger-Leutnant verhinderte das. „Luftwaffe kämpft nicht unter SS!“, rief er. Später sagte er zu uns: „Der Krieg ist verloren, seht zu, wie ihr nach Hause kommt!“ Jeder von uns hätte ihn laut Führerbefehl erschießen müssen, aber keiner hat es getan. Dieser mutige Mann!

Auf abenteuerlichen Wegen kam ich bis über die Elbe, wurde aber schließlich geschnappt. Auf einem Bauernhof führte ein Amerikaner die Vernehmungen durch. Er sprach sehr gut deutsch. Er war 1937 mit seiner jüdischen Familie aus Nürnberg emigriert. Jahre später sah ich ein Bild von ihm in der Zeitung: Es war Henry Kissinger.

Erst im Gefangenenlager kam ich zu neuen Einsichten. Der Krieg war verloren, es gab einen neuen Anfang und vor allem: Es war ein Wunder, dass ich noch lebte. Da habe ich gedacht: „Du hast dein Leben neu geschenkt bekommen. Die Hälfte gehört dir, damit kannst du machen, was du willst. Die andere Hälfte musst du für andere einsetzen oder für Ziele, die du für wichtig hältst, die für die Allgemeinheit wichtig sind.“ Das habe ich nicht eins zu eins umsetzen können; aber es war doch meine Lebensmaxime.

Wie ist es zu deiner Berufswahl gekommen?

Nach dem Krieg wollte ich Forstwirtschaft studieren. Doch die Hochschule war geschlossen. Aus dem Ministerium hieß es, der Studiengang sei abgeschafft. „Brauchen wir nicht.“ Auch eine forstlich-praktische Lehrzeit gab es nicht mehr. Was also tun? Gleichzeitig hatte die Sowjetische Militär-Administration alle früheren NSDAP-Mitglieder aus dem Staatsdienst entlassen. Deshalb wurden dringend Lehrer gesucht, ich bewarb mich. Die Anmeldung beim Kreisschulrat Dresden-Land verlief abenteuerlich. Obwohl kein Sprechtag war, wurde ich auf Grund meines außerordentlich guten Abiturzeugnisses vorgelassen. Oberschulrat Petzold sagte: „Ach, wissen Sie, entweder sind Sie ein rein theoretisches Genie, dann hören Sie von alleine auf, oder Sie schaffen das.“ Und dann habe ich ein Jahr unterrichtet: 5. Klasse: alle Fächer, 8. Klasse: Mathe und Physik - ohne Schulbücher, ohne Lehrmaterial, ohne Lehrplan und ohne Erfahrungen. Da lernst du, anschaulich zu reden und anderen Leuten etwas beizubringen. Das war eine sehr gute Erfahrung.

Wann hast du mit dem Studium begonnen?

Die Forstliche Hochschule in Tharandt bei Dresden hatte 1946 wieder geöffnet. Als Bewerber wurde ich angenommen. Bereits vor meiner Zeit als Soldat hatte mich mein ältester Bruder nach Leipzig eingeladen, um die unterschiedlichen Fachbereiche kennenzulernen. Ich wollte Chemie oder Forstwirtschaft studieren. Doch die Chemielabore stanken damals fürchterlich, so dass ich mich für Forstwirtschaft entschied. Die Nähe zur Natur hat mich begeistert und die Möglichkeit, nach der sinnlosen Zerstörung des Krieges etwas aufbauen zu können. Es war ein sehr interessantes Studium, es umfasste juristische Fragen, Naturkunde ebenso wie Management und die Behandlung von Wald. Mein Hauptanliegen im neuen Beruf war es, ein umweltfreundliches Verfahren zur Braunkohlegewinnung zu finden, und zwar so, dass die abgebauten Flächen wieder urbar gemacht werden konnten.

Wo lag das Problem?

Die Braunkohlenflöze liegen zwischen verschiedenen geologischen Schichten. Wenn die Kohle und die darüber liegenden Schichten abgebaut sind, bleibt eine Kippenlandschaft zurück, eine von Menschen geschaffene, neue Struktur. Für die weitere Nutzung ist es entscheidend, welche der Schichten an die Oberfläche kommen. Sand, Ton, Kies und so weiter haben einen unterschiedlichen Wert für die spätere Landeskultur. Ich habe so jeden einzelnen Schritt des Tagebaus untersucht, welchen Einfluss er auf die spätere Landnutzung hat. Je nach Baggertyp können einzelne Schichten direkt voneinander getrennt werden. Meist wurden sie aber miteinander vermischt, so dass giftige Substanzen an die Oberfläche kamen, auf denen keine Pflanzen wachsen konnten. Auf manchen Kippen stand nach vierzig Jahren noch kein einziger Grashalm. In meiner Doktorarbeit habe ich die Ursachen ermittelt und neue Methoden für den Bergbau entwickelt. Die Arbeit wurde als Buch veröffentlicht.

„Allgemeine Darstellung des Problems der Wiederurbarmachung und spezielle Untersuchun-gen im Lausitzer Braunkohlebergbau“. Es ist erschienen im VEB Deutscher Verlag der Wis-senschaften, Berlin 1959.

Man wusste, dass extreme Säure für das Pflanzenwachstum schädlich ist. Es ging also darum, die Säure mit Kalk zu neutralisieren. Ich hatte eine Versuchsreihe aufgebaut, aber das Verrückte in den Ergebnissen war: Die Bodenproben wurden trotz Kalkzusatz saurer. Dann habe ich herausgefunden, dass sie Schwefel-Eisen enthielten. Wenn sich das unter Sauerstoffeinfluss zersetzt, entstehen Schwefelsäure und Eisensulfat. Beide Substanzen sind so sauer, dass nichts wachsen kann.

Hast du die Dissertation in Berlin geschrieben?

Ja, an der Humboldt-Universität Berlin habe ich 1951 mit dem Thema meiner Dissertation angefangen. Ich habe viele Versuchsflächen mit diversen Baum- und Straucharten angelegt, aber meine Leitfrage war: Was muss man tun, damit überhaupt etwas wachsen kann? Erst musste ich herausfinden, was die einzelnen Schichten für Eigenschaften haben und wie sie sich entwickeln. Es gab keine Erkenntnisse darüber, es war wirklich reine Pionierarbeit. Ich teilte die Bodenschichten nach ihrer späteren Nutzungsmöglichkeit ein: Kulturwert, „für Landwirtschaft gut geeignet“, „für Landwirtschaft noch geeignet“, „für Forstwirtschaft geeignet“, „für eine Bodennutzung ungeeignet“. Meine Ergebnisse zeigten: Erst wenn man der frisch von der Baggerfront geholten Probe das Zehnfache der von den Bodenkundlern berechneten Menge von Kalk zusetzte, wurde deren Säure ausreichend neutralisiert, so dass Pflanzen wachsen konnten.

Werden deine Erkenntnisse heute berücksichtigt, wenn die Bagger die Erde ablagern?

Drei mal Ja und vielfach Nein. Zu Beginn der DDR gab es eine kurze Zeit, in der volkswirtschaftlich gedacht wurde. Nach dem Motto: Wir sind nicht auf Profit angewiesen, wohl aber darauf, dass hier langfristig etwas wachsen kann. Das vergiftete Abraummaterial wurde deshalb möglichst nicht an die Oberfläche gebracht. Sowohl die Humboldt-Universität als auch einzelne Bergbaubetriebe haben meine Forschung in der DDR unterstützt, obwohl ich mich nicht politisch angepasst verhielt. So bin ich nicht zur Wahl gegangen und habe die Leute, die mit der Wanderwahlurne kamen, nicht rein gelassen, sondern das Licht ausgemacht. Das war ein Hindernis für eine weitere wissenschaftliche Karriere. Schon von der DDR aus habe ich versucht, Auslandskontakte zu schmieden.

Carl Alwin Schenck, der Gründer der ersten amerikanischen Forst- oder Forsthochschule, hat mich an einen ungarischen Kollegen vermittelt, der in Ohio im Rekultivierungsbereich arbeitete. Von ihm erhielt ich schließlich eine Einladung. 1962 habe ich die Kohleregionen der Oststaaten bereist und deren Rekultivierungspraxis studiert. Meine Erkenntnisse habe ich in Fachvorträgen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen (Benchmark Papers on Energy, Coal Part 1) und Gutachten in die Diskussion eingebracht und damit die Novellierung der dortigen Umweltgesetze beeinflusst. Eine ähnliche Kooperation habe ich mit den tschechischen Kollegen aufgebaut. Im Rheinland sorgten die Aufsichtsbehörden für entsprechende Abläufe und selbst in den USA fielen meine Vorschläge auf fruchtbaren Boden.
Das „Nein“ bezieht sich auf die spätere DDR, besonders nach der Ölkrise, und all die welt-weit vielen Fälle, in denen der Drang, Kohle möglichst billig zu fördern, alles andere überwiegt.

Du hast zwei Bäume aus den USA im Vorgarten stehen. Wie lange hast du sie?

Seit 1967. Als ich den Mammutbaum pflanzte, waren die Chancen für einen Nadelbaum, im Ruhrgebiet groß zu werden, äußerst dürftig. Sie sind kaum gewachsen, weil die Luft so belastet war. Dank verbesserter Luftqualität wächst er heute so, wie es sich für einen Mammutbaum geziemt. Er kann bis 90 m hoch werden.

1959 bin ich aus der DDR geflüchtet. Die Wohnung war schon ausgeräumt, meine Familie war im Westen, teils legal, teils illegal. Meine Frau erwartete ihr viertes Kind und durfte in den Westen fahren, um sich gesundheitlich zu erholen. Ein Kind durfte sie mitnehmen, zwei haben wir schwarz rüber fliegen lassen. Ich selbst habe in der Wohnung mit vielen leeren Kleiderbügeln ausgeharrt. Mein Manuskript für das erste Handbuch der Rekultivierung im Braunkohlebergbau lag zur Veröffentlichung bereit, aber der Druck verzögerte sich. So hoffte ich, dass das Buch herauskam, bevor meine Flucht bekannt wurde. Das ist zum Glück der Fall gewesen, sonst hätte man vielleicht meinen Professor als Verfasser eingesetzt. So habe ich immerhin diese Spur hinterlassen.

Warum hast du die DDR verlassen?

Mein Ältester kam in die Schule. Für uns Eltern war es ein Graus, dass die Kinder dann in der Schule anders reden mussten als zu Hause. Außer der ideologischen Be-vormundung hatten wir die schlechte Versorgung und die Zuteilung in den Läden satt.

Schließlich waren meine Berufschancen in der DDR denkbar schlecht. Ich gehörte zwar zum wissenschaftlichen Nachwuchs, aber als nicht konformer Mensch hätte ich keine großen beruflichen Chancen gehabt. Die Genossen haben meine fachlichen Leistungen zwar anerkannt, aber sie hätten mich nicht weiter hoch kommen lassen. Der wissenschaftliche Nachwuchs musste auch eine gesellschaftswissenschaftliche Prüfung ablegen.

Die Prüfer stellten mir die Fangfrage: „Wie vereinbart sich der Ausspruch Lenins ‚Imperialismus bedeutet Krieg’ mit den Worten Stalins ‚der Friede kann erhalten bleiben, wenn die Völker die Sache des Friedens in ihre Hand nehmen’?“ Jede Antwort musste mich als Gegner Lenins oder Stalins entlarven, doch ich fand blitzschnell einen Ausweg. Ich antwortete dreist: „Wenn man diese Frage Friedrich Engels stellte, hätte er sie als willkommenen Anlass genommen, einen dialektischen Essay zu schreiben, wie man eigentlich Unvereinbares vereinbaren kann.“ Mich selbst mit Engels zu vergleichen, war für die Prüfer natürlich mehr als anmaßend.

Hast du dann unmittelbar in Hamburg beim Institut für Weltforstwirtschaft angefangen?

Mein Start als Flüchtling war sehr schwierig. Von meinen acht, neun Jahren Berufserfahrung wurde für den Forstdienst nichts angerechnet. Nichts! Bezahlung sollte ich während einer Referendarzeit von drei Jahren keine bekommen. „Und bilden Sie sich bloß nicht ein“, sagte der zuständige Oberforstrat, „dass Sie eingestellt werden, wenn Sie das alles geschafft haben“. Mein Diplom wurde nicht anerkannt, der Doktor schon. Da bekam ich zum Glück ein Angebot von Professor Weck in Hamburg vom Institut für Weltforstwirtschaft des Bundes. Ich sagte zu und begann meine zweite Stelle in Westdeutschland. Vorher war ich zwei Jahre Geschäftsführer beim Deutschen Pappelverein.

Das ist Begrüßungskultur.

In einem anderen Land anzukommen, ist - damals wie heute - schwierig. Mit dem beruflichen Einstieg hatte ich die größte Hürde überwunden, so war die Existenz unserer Familie gesichert. Es war interessant, über Wald und Wasser in weltweiten Trockengebieten zu forschen. Wir sollten eigentlich in den Irak, nach Mossul, gehen, wo eine Forstschule gegründet wurde. Aber meine Frau hat sich geweigert. Unser Ältester hatte Toxoplas-mose und brauchte eine kompetente medizinische Behandlung. Ich war nur wenige Jahre in Hamburg und habe dort meine Forschung auf dem Gebiet der Rekultivierung von Industrie-Ödland und hinterlassenen Arealen des Steinkohlenbergbaus fortgesetzt. So besuchte ich England und die USA mehrmals und studierte dort die Rekultivierung.

Warum bist du schließlich aus Hamburg weg?

Ich hätte länger bleiben können, aber Professor Weck, bei dem ich habilitieren wollte, verstarb leider. Sein Nachfolger setzte andere Schwerpunkte. Da erreichte mich ein Anruf von der Landesanstalt für Immissionsschutz. Sie suchten dringend einen Forstmann, der die zunehmenden Umweltschäden aufnahm und diese Fragen auch öffentlich vertreten konnte. So fing ich als Oberregierungsrat in Essen an. Mein Ziel war die Langzeitwirkung von Luftverunreinigungen zu erforschen. Zusätzlich konnte ich Anfragen des Ministeriums durch kurzfristige Untersuchungen beantworten.

1966 habe ich über die Luftverunreinigung in den USA und ihre Folgerungen für Deutschland einen Aufsatz geschrieben. Es hatte sich herausgestellt: Mit hohen Schornsteinen ließ sich die Luftverunreinigung nicht so verteilen, dass Schäden vermieden wurden. Vielmehr können die vielen Rauchfahnen aus den Industriegebieten zusammen einen sauren Niederschlag bilden, durch die der Wald abstirbt, mindestens aber bedroht ist.

Was hast du gegen diese Hohe-Schornstein-Politik unternommen?

Mich leitete die Frage: Wie wirkt sich die Luftverunreinigung aus und was können wir dagegen machen? Ich habe dazu ein landesweites Messnetz etabliert, um die Belastung der Wälder zu erfassen. Die Forstämter hatten zusätzlich zu ihrer zehnjährigen Inventur der Forsteinrichtung auch den Gesundheitszustand der Fichten erfasst. Sie haben an deren Benadelung und den schadstoffempfindlichen Flechten nach Hinweisen auf Luftverunreinigungen gesucht. Die Nadeln können Schadstoffe wie Schwefel, Fluor, Blei und Kadmium anreichern. Ozon dagegen schädigt zwar das Chlorophyll der Pflanzen, aber es gibt keine Akkumulation von Schadstoffen. Die Pflanzen wachsen einfach weniger oder der Baum geht ganz ein.

Mit Hilfe des Messnetzes und unseren Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass viele Wälder auch außerhalb der Industriegebiete ernstlich bedroht sind, so dass zusätzliche Maßnahmen der Luftreinhaltung notwendig sind. Ursprünglich hatte man nur Passivmaßnahmen geplant. Man wollte Bäume anbauen, die die Schadstoffe besser vertragen, und dachte nicht daran, die Schadstoffe generell zu reduzieren. Mit meiner Arbeit konnte ich dazu beitragen, das zu ändern.

1966 bist du aufgrund dieser Fragen erneut in die USA gereist.

Ich hatte damals zwei Gutachten zu erstellen, eins für das US-Innenministerium zur Verhütung saurer Bergbauabwässer und das andere für das US-Gesundheitsministerium zur Beurteilung der amerikanischen Forschung über die Wirkung von Luftverunreinigungen auf Pflanzen aus europäischer Sicht. Diese Arbeit wirkte als Impuls zur verstärkten internationalen Diskussion besonders zwischen Europa und den USA.

Ich kenne von dir eine lange Literaturliste. Stammt die aus deiner Zeit in Essen?

Zum großen Teil sind die Arbeiten in dieser Zeit entstanden, einige später, in der Landesanstalt für Ökologie NRW in Düsseldorf bzw. Recklinghausen, in der ich bis zu meinem Einzug in den deutschen Bundestag 1987 tätig war.

Du warst also ein Vierteljahrhundert in Essen?

Eigentlich wollte ich alle sieben bis zehn Jahre wechseln, um mich weiterzuentwickeln, doch das konnte ich auch in den 49 Jahren meiner Zeit im Ruhrgebiet. Der Einstieg in die Politik stellte viele neue Anforderungen. Die Grünen haben gegenüber rein hierarchischen Parteistrukturen den großen Vorzug, dass man Debatten argumentativ führt und nicht nach Ordre de Mufti entscheidet.

Die Ökologen der 1980er Jahre hatten in erster Linie ein Generalinteresse. Wie war das bei den Verbänden der 1960er Jahre? Vertrat der Pappelverband zum Beispiel Pappelbesitzer mit ökonomischen Interessen?

Träger des Pappelvereines waren Baumschulen, die ihre Produkte vermarkten wollten und auf eine Qualitätssicherung angewiesen waren. Auch die Waldbesitzer-Verbände hatten ökonomische Interessen, leisteten aber gleichzeitig entscheidende Hilfe, denn sie haben den Schutz des Waldes als wichtiges Thema benannt. Auch in der Wissenschaft gab es Partikular- und Allgemeininteressen. Nur einzelne Forscher haben Umweltthemen als ihre Hauptaufgabe angesehen.

Die Zurückhaltung Vieler beruhte auf der ungenügenden Anerkennung als wissenschaftliche Disziplin, denn für den Umweltschutz gab es damals keine Lehrstühle und damit keine Karrierechancen. Die Zeit war noch nicht reif. Auch deren Verbände haben sich auf die Diskussion völlig ungenügend eingelassen. Ausnahmen waren Dr. Karl Friedrich Wentzel sowie die Professoren Bernhard Ulrich aus Göttingen und Peter Schütt aus Saarbrücken, der den Begriff des Waldsterbens geprägt hat und damit versuchte, das Umweltthema als wissenschaftliche Disziplin mit zu begründen. Die Vorläufer der Grünen waren in der Regel keine Wissenschaftler, sondern von Verkehrs-projekten Betroffene und Menschen aus der Anti-Atombewegung, die etwas Einblick in die Langzeitfolgen einer Nutzung von Radioaktivität hatten.

In den frühen 1970er Jahren kam das Thema in der Bundesregierung an. Genscher, als In-nenminister für Umwelt zuständig, legte den ersten Umweltbericht der Regierung vor.

Das bedeutete eine politische Anerkennung! Wir haben aber auch viel den Amerikanern zu verdanken. Es war Jimmy Carter, der den Begriff „Environmental Protection“, also Umweltschutz, in die politische Diskussion einbrachte. 1969 wurde dort die „Environmental Agency“ gegründet. Bedauerlich ist, dass damals das von Deutschen Geleistete nicht so recht durchgedrungen ist: Ich hatte schon zwei Jahre vor der Gründung des Club of Rome herausgefunden, dass sich die exponentielle Zunahme der Verunreinigung nicht durch lokale Maßnahmen aufhalten lässt. Die Tragweite dieser These wurde 1966 nicht erkannt.

Kooperation mit ausländischen Kollegen war für mich immer sehr wichtig. 1970 habe ich in Essen ein internationales Symposium durchgeführt, in dem erstmals amerikanische Forstwissenschaftler gleichzeitig mit osteuropäischen ihre Beiträge über die Wirkung von Luftverunreinigungen abgeben konnten. Das war ein großer Fortschritt, weil so die Forschung auf einen die Nordhemisphäre überspannenden Bereich ausgedehnt wurde. Mein Versuch, in Essen ein internationales Kompetenzzentrum aufzuziehen, scheiterte an mangelnder Unterstützung.

Wie habt ihr als Wissenschaftler wahrgenommen, dass der Gegenstand eurer Arbeit zuneh-mend gesellschaftliches Thema, ein Politikum, wurde? Gab es Debatten zwischen euch darüber?

Debatten gab es, aber auch Reglementierungen kritischer Wissenschaftler. Schon bei der Landtagsanhörung 1976 wurde meine offene Kritik an der veralteten radioakti-ven Überwachung der Kernkraftwerke als störend empfunden. Als ich dann 1982 Sprecher der Grünen Partei wurde, sahen der Umweltminister NRW und manche Vorgesetzte in meiner Person parteipolitische Konkurrenz.

Als der Landtag NRW wegen der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung des Umweltschutzes und des Waldsterbens zusätzliches Personal bewilligte, kamen die Leute aber nicht zu meiner Arbeitsgruppe. Das war 1982/83. Der Präsident der Landesanstalt für Ökologie Albert Schmidt bildete stattdessen eine neue Gruppe „neuartige Waldschäden“. Völlig widersinnig! Als ich ihn darauf ansprach, sagte er: „Ich kann doch nicht zulassen, dass Sie täglich im Fernsehen sind.“

Es gab also die Sorge, dass das Thema jetzt von mir beziehungsweise den Grünen besetzt würde. Ich hatte der Aussage des Arbeitsministers, dass nicht Schwefeldioxid, sondern nur Ozon für die Waldschäden verantwortlich sei, in einem Interview mit der WAZ widersprochen. Daraufhin verpasste man mir einen Maulkorb. Ich durfte nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Präsidenten mit Medien sprechen. Man wollte verhindern, dass ein „Grüner“ sich mit wissenschaftlichen Fakten politisch profilierte.

Die gesellschaftliche Notwendigkeit eurer Forschung war also überall anerkannt, nur nicht bei den Spitzen des Instituts?

Es zeigte sich: Politische Beschlüsse können nur politisch aufgehalten werden und nicht durch wissenschaftliche Gutachten. Das war für mich der entscheidende Grund, mich dringend um eine Umweltpartei zu bemühen. Präsident Schmidt vertrat die Ansicht, die Landesanstalt sei dem „Staate verpflichtet“ und nicht „irgendwelchen anderen Werten wie Natur“. Sie haben meinen Wirkungsbereich begrenzt und meine Mitarbeiter aufgehetzt, mich dazu zu bringen, die politische Tätigkeit einzustellen.

Wo hast du Unterstützung erfahren?

In dieser Zeit mehr bei den Bürgerinitiativen, etwa gegen den Autobahnbau der A31. Das war toll, die Initiativen von Bottrop und Oberhausen bis Siegburg zu einem schlagkräftigen Verbund zu führen. Wir sammelten 100.000 Unterschriften dagegen und überreichten sie feierlich im Ministerium.

Du hast die Grüne Liste Umweltschutz Nordrhein-Westfalen mit ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?

Es kamen Gerüchte auf, dass in einer Düsseldorfer Bahnhofsgaststätte eine Umweltpartei gegründet werden sollte. Ich fuhr hin und wurde als gelernter Ökologe gerne als Gründungsmitglied beteiligt. Etwa 20 Leute waren dabei. Das war 1978.

Und du warst anderthalb Jahre Vorsitzender der GLU Nordrhein-Westfalen?

Bis zu ihrem Aufgehen in den Grünen. Die wichtigste Aufgabe der Grünen Liste Umweltschutz NRW (GLU) war es, die lokalen Gruppen enger zusammenzuführen. Wir brauchten etwas, das uns nicht nur ideologisch, sondern auch per Organisation verband. Es war klar: Nur wenn sich auch unterschiedlich Denkende zusammenfinden, sind wir stark genug, um uns zu behaupten. Die Unterschiede waren so groß, dass eine Zusammenarbeit zunächst unmöglich erschien. Beim Gründungsparteitag der Grünen NRW im Dezember 1979 habe ich dann durch die „Zollstock-Legende“ geholfen, dass diese Unterschiede in den Hintergrund getreten sind. Ich habe dafür plädiert, statt Links–Rechts–Mitte einen ökologischen Maßstab, quasi einen ökologischen Zollstock, anzulegen. Das ermöglichte die gemeinsame Arbeit ansonsten unterschiedlicher Kräfte. In Erinnerung daran hat mir der Landesverband 2014 einen vergoldeten Zollstock geschenkt.

Im Oktober 1980 war Bundestagswahl. Hast du kandidiert?

Ja. Das Ergebnis war erbärmlich: 1,5 Prozent. In diesem Tief der Grünen habe ich 1982 auf dem Parteitag in Hagen als einer der Sprecher kandidiert und bin dort ge-wählt worden. Joseph Beuys hatte mich dringend gebeten zu kandidieren.

Berufstätig zu sein und dann noch einen missgünstigen Arbeitgeber zu haben, das war bestimmt verdammt hart, oder?

Das war Wahnsinn. Als Sprecher der Bundespartei kriegte ich keinerlei Bezüge. Allein die dreifache Aufgabe als Wissenschaftler in Recklinghausen, Politiker in Bonn und Familienvater in Mülheim an der Ruhr war extrem belastend. Länger als zwei Jahre hätte ich das nicht durchgehalten. Aber in meiner Zeit als Parteisprecher sind die Grünen ins Europaparlament und in den Bundestag eingezogen.

Damals war die „Hohe Zeit“ der Friedensbewegung gegen die Aufstellung der neuen Pershing II-Raketen bzw. die Zeit des verschärften Ost-West-Gegensatzes. Du hast dich damals klar zur Solidarität mit der Solidarność ausgesprochen.

Ich hatte schon in den 1960er und 1970er Jahren gute Verbindungen zu polnischen, tschechischen und auch westlichen Fachkollegen, die sich mit den Wirkungen von Luftverunreinigungen auf Wälder befassten. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, die Ausbreitung der Waldschäden außerhalb Deutschlands zu studieren und gleichzeitig auch die politische Entwicklung in Polen zu beobachten. Beschwingt vom Gründungsprozess der ersten Grünen Parteien in Deutschland mischte ich mich dann 1979 auf einer UN-Umwelttagung in Warschau sogar in die polnische Innenpolitik ein.

Auf Drängen polnischer Freunde sprach ich die Umweltprobleme Polens auf dem vollbesetzten Festbankett der Tagung ganz offen an und suchte gleichzeitig inoffiziell nach Kontakten zu KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbei-terrechte), einem Vorläufer von Solidarność. Nach Verbot dieser Gewerkschaft unter Ausrufung des Kriegsrechts beteiligte ich mich an der Mobilisierung von Unterstützern dieser Op-position in Westdeutschland. So habe ich auf der grünen LDK in Bochum durch das Tragen eines doppelten Pappschildes mit der Aufschrift „Freiheit für Solidarność!“ an Brust und Rücken auf das Thema „Freiheit und Menschenrechte“ aufmerksam gemacht.

Ich hatte mich mit dieser polnischen Freiheitsbewegung identifiziert und für deren Unterstützung durch die Grünen geworben. Es gab ja durchaus auch Gegenstimmen, da manchen Grünen Solidarność verdächtig vorkam, weil man dort wohl auch eine Unterstützung durch die NATO akzeptiert hätte. Meine Haltung bestärkte auch andere Grüne in ihrer Kritik an der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen. Später hat die Bundestagsfraktion eine Extrastelle für Osteuropa geschaffen und die engagierte Elisabeth Weber damit beauftragt. Sie erhielt ebenso wie ich für ihren Einsatz später den Verdienstorden der Republik Polen.

Den Abschlussbericht meiner zweijährigen Zeit als Bundessprecher der Grünen habe ich 1984 unter das Motto gestellt: „Für Ökologie und Menschenrechte“, beides gehörte für mich zusammen. Diese Einsicht hat sich bei den Grünen durchgesetzt und gehalten, auch wenn immer wieder Tagesthemen und politische Rücksichten zeitweilig andere Schwerpunkte setzten.

Drei Jahre später bist du selbst in den Bundestag eingezogen und warst in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“.

Die Kommission wollte die Risiken einer Veränderung der Erdatmosphäre und die nötige Vorsorge ausloten. Alle beteiligten Wissenschaftler und Politiker waren hoch motiviert. Wir hatten hervorragende Arbeitsbedingungen. Wir konnten weltweit Experten und Betroffene einladen und befragen, sowohl Indios aus den Regenwäldern als auch amerikanische Vertreter der NASA.
Mit den Kollegen in der Kommission habe ich einen respektvollen Umgang gepflegt. Die Verbindung von überzeugenden Argumenten, Herausarbeitung gemeinsamer Ziele und persönlicher Achtung des Gegenübers haben in dieser Kommission mehrfach einstimmige Beschlüsse des Bundestages ermöglicht.

Wie war die Arbeit in der Kommission?

Sie war getragen von einer Bereitschaft aller, etwas erfahren zu wollen. Die Wissenschaftler betrachteten mich als ihren Kollegen. Sie konnten sich darauf verlassen, dass ich in der Kommission nur vorschlage, was ich auch wissenschaftlich vertreten kann. Dank meiner Studien und Reisen war ich auf dem neuesten Stand. Bei neun Abgeordneten und neun Wissenschaftlern in der Kommission konnte ich auch als einziger grüner Abgeordneter zusammen mit den Wissenschaftlern eine Mehrheit bilden. So wurden 80 Prozent meiner Vor-schläge akzeptiert. Der Vorsitzende Bernd Schmidbauer suchte einstimmige Ergebnisse, weil diese sowohl im Bundestag als auch in den Medien stärker beachtet wurden.

Dank dieses Einsatzes der Grünen forderte die Enquete-Kommission den Bundestag schließlich auf, eine 30-prozentige CO2-Reduktion zu beschließen. Das ging 1990 einstimmig durch, ein Riesenerfolg!

Du warst außerdem im innerdeutschen Ausschuss. Die Deutschlandpolitik hat dich natürlich sehr interessiert, zumal dann seit 1988 die Bürgerbewegung immer stärker auf den Plan trat.

Wir müssen über die Unterstützung der Umweltschützer und Bürgerrechtler der DDR durch die Grünen sprechen, denn diese war und ist Teil der Grünen Geschichte. Diese Unterstützung wurde arg behindert durch die Einreiseverbote der DDR gegen alle Grünen, abgesehen von Bundestagsabgeordneten. Die westdeutschen Grünen, vertreten durch einzelne grüne Politiker, waren die einzige Partei, die es in den 1980er Jahren gewagt hatte, eine nicht zugelassene Opposition in der DDR direkt zu unterstützen, so bescheiden diese Unterstützung auch ausfiel. Egon Bahr erklärte mir einmal, die SED würde erst dann wieder mit den Grünen über eine Aufhebung der Einreiseverbote reden, wenn diese ihre Beziehungen zu den unabhängigen Gruppen aufgeben, die in den Augen der Stasi zu den „feindlich-negativen Kräften“ gehörten.

Hier muss die Umweltbibliothek der Zionsgemeinde in Ost-Berlin als zentrale Kontaktstelle für den Ost-Ost und den Ost-West-Austausch genannt werden. Eine Aktion, an der ich aktiv beteiligt war, erlangte eine besondere Bedeutung. Roland Jahn hatte in West-Berlin eine Druckmaschine besorgt. Diese Maschine sollte unbedingt zur Umweltbibliothek in Ost-Berlin gebracht werden. Ich übernahm diese riskante Aufgabe als Kontaktmann, denn eine direkte Unterstützung durch Abgeordnete gehörte sicher nicht zum Status als „Diplomat“. Die Stasi entdeckte erst später, dass der Drucker von einem Wilhelm Knabe herüber geschmuggelt worden war. Mein Transport zur Umweltbibliothek ermöglichte den dortigen Freunden, in dieser politisch hochbrisanten Periode im Herbst 1987 ihre Öffentlichkeitsarbeit verstärkt fortzusetzen.

Das war wiederum der Anlass für einen von Minister Mielke gebilligten nächtlichen Überfall der Stasi auf das Gebäude der Zionskirche. Dabei wurden die in dieser Nacht aktiven Drucker festgenommen. Durch diesen Zugriff in einem kirchlichen Gebäude kam eine Lawine ins Rollen. Erstmals verlegten die Menschen ihren Protest vom Inneren der Kirche in die Öffentlichkeit vor der Kirche. Die erste Protestgruppe wurde noch von der Stasi „abgeräumt“, doch im Nu fanden sich andere, um den Protest am Leben zu halten. Der Staat gab auf, denn die Außenpolitik der DDR erschien gefährdet, hatte doch sogar die New York Times ein Bild der Kirche auf Seite 1 gezeigt.

Du warst bis 1990 im Bundestag. Vier Jahre später hast du wieder ein politisches Amt übernommen und bist Bürgermeister von Mülheim an der Ruhr geworden.

Ich war Zweiter Bürgermeister, von 1994 bis 1999. Der damalige Sprecher des grünen Kreisverbandes, Hartmut Kremer, hatte mich in die aktive grüne Politik zurückgeholt. In der Kommunalwahl erreichten wir ein gutes Ergebnis und konnten entscheiden, mit wem wir koalieren wollten.

Wie war die Konstellation nach der Wahl?

Die SPD war nach wie vor die stärkste Partei, aber die CDU hatte aufgeholt. Ich wollte mit beiden sprechen. Die Beton-SPD, die auf Straßenbau und Großindustrie setzte, beherrschte in Mülheim den öffentlichen Raum; es wurde im Grunde kein Hausmeisterposten ohne SPD-Parteibuch vergeben.

Wir Grüne einigten uns dann darauf, als erstes mit der SPD zu verhandeln. Die fragten uns: „Welche Posten wollt ihr haben, damit wir unsere Politik fortsetzen können?“ Mit der CDU dagegen sprachen wir über unser Programm. Wir hatten uns intern auf unsere grünen Schwerpunkte verständigt. Es gab auch bei der CDU einige, die für Umweltschutz eintraten, aber natürlich nur wenig durchsetzen konnten. Zusammen mit den Grünen war dies möglich. Die Prioritäten in der kommunalen Entwicklung konnten sich verändern.

Hat das im Kreisverband der Grünen zu Zerreißproben geführt?

Die Mehrheit der Fraktion hat das Bündnis getragen. Wir haben damals mit der CDU einen Waldentwicklungsplan verabschiedet, wir haben Container für Flüchtlinge durch normale Wohnungen ersetzt und wir haben erreicht, dass umweltgerechte Produktion und Energieeinsparung als Wirtschaftsziele der Energie-Unternehmen festgeschrieben wurden, soweit die Stadt Einfluss hatte. Die Minderheit der Grünen war grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit der CDU.

Nach fünf Jahren war es vorbei?

1999 kam der Knall. Die Schwarz-Grüne Koalition ist schließlich an einer Personalfrage gescheitert. Bei der Neuwahl des Rates kandidierte die Grüne Minderheit, die grundsätzlich gegen eine Koalition der Grünen mit der CDU war, als Bürgerinitiative MBI und nahm den GRÜNEN viele Stimmen weg. Als Folge wurden später all die positiven Veränderungen, die wir erreicht hatten, unter SPD/CDU-Stadtregierungen wieder abgeschafft.

Wir Gründer der Grünen waren erfüllt von dem brennenden Wunsch, die Erde für unsere Kinder zu retten. Dazu müssen wir das exponentielle Wachstum, das Ausufern der menschlichen Ansprüche an den Planeten begrenzen. Wenn wir dabei Kompromisse schließen, müssen wir in jedem Einzelfall prüfen, ob er uns einen Schritt näher an die formulierten Ziele unserer Präambel „Ökologisch – sozial – basisdemokratisch und gewaltfrei“ bringt oder davon wegführt.

Wir Grünen haben viel erreicht, doch es bleibt noch mehr zu tun. Die Kraft der Hoffnung wird uns helfen, diese Ziele zu erreichen.

Das Interview haben Christoph Becker-Schaum und Robert Camp am 24.-25.11.2014 geführt. Der Text wurde von Petra Kirberger redaktionell bearbeitet. Er erschien im Jahrbuch des Archivs Grünes Gedächtnis 2014/15.