Bergkarabach: Alles andere als ein „ruhender Konflikt"

Schon auf die Krise in der Ukraine hat die EU keine effektive Antwort gehabt. Der erneut aufgeflammte Konflikt im Südkaukasus um Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien zeigt, dass noch weitere regionale Konfliktherde die Aufmerksamkeit Europas fordern.

Die To-do-Liste des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016 enthält eine Reihe beachtlicher Herausforderungen. Eine davon ist die neueste Entwicklung im Südkaukasus, die zeigt, dass nationale Grenzen in post-sowjetischen Raum, und damit die Sicherheitslage, nach wie vor alles andere als stabil sind. Trotz der geografischen Nähe zur EU und der unmittelbaren Gefahr für die europäische Sicherheit hat sich die EU mit einer effektiven Antwort auf die politische und militärische Krise in der Ukraine und den Krieg in der Ostukraine nach der Annexion der Krim durch die Russische Föderation im Jahr 2014 sehr schwer getan.

Jetzt erinnert der erneut aufgeflammte Konflikt im Südkaukasus um Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien daran, dass es noch weitere regionale Konfliktherde gibt, die die Aufmerksamkeit Europas erfordern und in denen die Reaktion Europas nicht weniger wichtig ist als im Ukraine-Konflikt. Da der Bergkarabach-Konflikt häufig als „eingefroren“ oder „ruhend“ bezeichnet wurde, ist die Illusion entstanden, in der jüngsten Vergangenheit sei vor Ort nicht viel passiert.

Laut Jahresbericht 2013 der OSZE wurden 2012 fünf Zivilist/innen und 32 Soldat/innen angeschossen, weitere 14 Soldat/innen wurden getötet. Nach dem jüngsten OSZE-Jahresbericht "meldeten die Behörden fast täglich … Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens“ für 2014. Der so genannten Viertage-Krieg Anfang April forderte bereits wesentlich mehr Opfer: 60 Soldat/innen wurden in Kampfhandlungen getötet, und aller Wahrscheinlichkeit nach gab es mehrere zivile Todesopfer.

Beobachter wie der von Jerewan aus arbeitende Analyst Richard Giragosian zeigen sich besorgt, dass Russland versuchen könnte, die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan anzuheizen und den Konflikt so zu einem „heißen Krieg“ zu eskalieren, was Russland die Möglichkeit gäbe, seinen „Einfluss und seinen Spielraum“ in der Region auszuweiten.

Ursprünge des Konflikts

Der Bergkarabach Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wurzelt in der komplexen Geschichte der Region Karabach vor der Entstehung der UdSSR. Der Konflikt ruhte zu Sowjetzeiten zwischen 1923 und 1991 mehr oder minder, als das Gebiet autonomer Oblast (Verwaltungsbezirk) der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik war. Allerdings kam es bereits 1988 zu massiven Auseinandersetzungen, als die Regierung von Bergkarabach formell die Vereinigung mit der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik forderte. Thomas de Waal, Senior Associate bei Carnegie Europe, und Autor des 2003 erschienen Buchs "Black Garden: Armenia and Azerbaijan Through Peace and War" beschreibt die Situation in Karabach wie folgt:

„Wenn ich die Ursache des Konflikts mit einem Begriff beschreiben sollte, würde ich ‚beidseitige Unsicherheit‘ sagen. Weder die Armenier noch die Aserbaidschaner vertrauten darauf, dass die andere Seite die eigene Sicherheit garantieren würde. Daher entschieden sich beide zu ihrem eigenen Schutz für eine nationalistische Politik und für bewaffnete Männer ihrer eigenen ethnischen Gruppe"

Nach dem Kollaps der Sowjetunion brach der Krieg endgültig aus. Seit dessen Ende 1994 ist Karabach ethnisch fast ausschließlich armenisches Gebiet. Die Aserbaidschaner, die in den letzten Jahren der Sowjetunion mindestens 20 Prozent der Bevölkerung in der Region ausgemacht hatten, flüchteten nach Aserbaidschan – was dort wiederum ein enormes humanitäres Problem von Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons – IDPs) schuf. Der Status von Bergkarabach wurde nie vertraglich festgelegt und anders als im Falle von Abchasien und Südossetien, die 2008 formell von Russland anerkannt wurden, wurde die de-facto-Republik Karabach nie anerkannt – noch nicht einmal von Armenien.

Spaltende Rhetorik

Bis heute trennt der Konflikt die armenische und aserbaidschanische Gesellschaft. Die öffentliche Rhetorik ist gespickt mit unversöhnlichen und hoch nationalistischen Narrativen, ganz im Sinne der halb-demokratischen und autoritären Regierungen, denn sie einen die jeweilige Bevölkerung gegen den „gemeinsamen Feind“ und lenken ab von den notwendigen Opfern, die auf dem Weg zu inneren Reformen gebracht werden müssen.

Ein extremes, wenn nicht gar absurdes Beispiel dieser entmenschlichten „Feind“-Rhetorik ist der Fall des Aserbaidschaners Ramil Safarov, der 2004 während des NATO Partnership for Peace Trainings in Budapest einen Armenier getötet hat. Safarov saß in Ungarn acht Jahre in Haft, bevor er 2012 nach Aserbaidschan ausgeliefert wurde, wo er jedoch seine lebenslange Gefängnisstrafe nicht fortsetzte, sondern Arbeit und eine Wohnung bekam und als Nationalheld gefeiert wurde. Wenn solche Geschichten politisch instrumentalisiert werden, geht es im Allgemeinen darum, das eigene Land als Opfer und den anderen als den Aggressor darzustellen, der die gesamte Verantwortung für den Konflikt trägt.

Der Konflikt: Von lauwarm bis heiß?

Nach einer Phase relativer Stabilisierung des Konflikts ist die Entwicklung seit 2013 alarmierend. Eine Rüstungsspirale ungeahnten Ausmaßes dreht sich, befeuert vom Ölboom in Aserbaidschan, der damit einhergehenden wirtschaftlichen Stabilisierung und der neuen Strategie Russlands, beide Parteien mit Waffen zu beliefern (traditionell war Russland Armeniens Waffenlieferant und Sicherheitsgarant).

Das Militärbudget Aserbaidschans liegt um eine Milliarde US-Dollar über dem armenischen Staatshaushalt. Laut Thomas de Waal haben Bergkarabach, Kaschmir und Nordkorea die weltweit am stärksten militarisierten Grenzen. Die Waffenstillstandslinie, die sog. line of contact, ist laut de Waal „eine furchterregende, Narbe auf der Landkarte, mehr als 200 km lang, waffenstarrend, mit Schützengräben wie aus dem Ersten Weltkrieg".

Im Januar 2014 wurden mehrere Soldaten und Zivilisten Opfer der Eskalation entlang verschiedener Grenzabschnitte. Aserbaidschan antwortete mit Luftwaffeneinheiten. 2015 stabilisierte sich die Lage etwas, aber es kam doch „sporadisch zu bewaffneten Zusammenstößen“ und „sowohl Jerewan als auch Baku berichteten von getöteten Soldaten".

Armenien und Aserbaidschan meldeten Hunderte von Verletzungen des Waffenstillstands im Laufe des vergangenen Jahres. Leider sind die Informationen über die Geschehnisse in hohem Maße unzuverlässig. Es gibt keine dauerhafte und unabhängige Monitoring-Mission und die OSZE führt lediglich kleine ad-hoc-Missionen mit sehr wenig Personal durch.

2013 erfolgten 16 solcher Missionen an der Waffenstillstandslinie und neun an der Grenze. Berichten zufolge wurden fünf Zivilist/innen und 32 Soldat/innen angeschossen, 14 weitere wurden getötet. 2014 gab es 17 Monitoring-Einsätze an der Waffenstillstandslinie und sieben an der Grenze.

Verschiedene Expert/innen warnen regelmäßig, dass angesichts der angespannten Lage schon kleinere Zwischenfälle das Streichholz an der Lunte sein könnten. So schrieb Laurence Broers, Experte für Friedensbildung in der Region, im Februar 2014:

„Die Konfliktparteien stehen der Vertrauensbildung feindseliger gegenüber als je zuvor – sie wird instrumentalisiert und als Nullsummenspiel wahrgenommen. […] Das politische Umfeld für den Friedensprozess ist weniger günstig als vor fünf Jahren und viel schlechter als zwischen 1998 und 2001".

Zwei Infrastrukturprojekte sind weitere Konfliktquellen. Armenien möchte Flüge von Jerewan zum kürzlich umgebauten, wenn auch noch nicht eröffneten Flughafen in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, einrichten. Aserbaidschan hat gedroht, die Flugzeuge zur Landung zu zwingen, da sie ohne Genehmigung in den aserbaidschanischen Luftraum eindringen. Darüber hinaus hat Armenien mit dem Bau der Autobahn Vardenis-Martakert begonnen, die die wirtschaftlichen und humanitären Bedingungen in der Region verbessern soll. Aserbaidschan fürchtet, damit konsolidiere Armenien seine Kontrolle und könne die Straße potenziell für Truppenbewegungen nutzen. Daher ist davon auszugehen, dass die Infrastrukturprojekte die Spannungen vor Ort weiter verschärfen.

Der Status des Friedensprozesses

Der Friedensprozess für Karabach findet unter dem gemeinsamen Vorsitz von Frankreich, der Russischen Föderation und den USA statt, den Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der OSZE, die 1994 eingerichtet wurde und der ursprünglich Weißrussland, Deutschland, Italien, Schweden und Finnland, die Türkei, Armenien und Aserbaidschan angehörten. Allerdings wurde sehr wenig erreicht. Auch wenn sich die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans kürzlich zu persönlichen Gesprächen trafen, was in der Tat bemerkenswert ist, glaubt niemand ernsthaft daran, dass die Konfliktparteien bereit sind, Zugeständnisse zu machen.

Die Madrider Grundsätze, die die Ko-Vorsitzenden 2007 formuliert haben, schlagen eine Beilegung des Konflikts vor, die auf der Rückgabe der Territorien an Aserbaidschan basiert, gefolgt von einer rechtlich bindenden „Willenserklärung“ für Karabach, die den künftigen Status der Region festlegt. Die Grundsätze sprechen explizit das Recht der Binnenvertriebenen an, in ihre Heimat zurückzukehren, sowie internationale Sicherheitsgarantien und die Schaffung einer Friedenssicherungsmission.

Allerdings haben weder Armenien noch Aserbaidschan den Madrider Grundsätzen zugestimmt, denn Armenien möchte Karabach „nicht aufgeben“, ohne ein konkretes Datum für ein Referendum, was Aserbaidschan wiederum ablehnt. Ganz allgemein ist es sehr unwahrscheinlich, dass Aserbaidschan die Abtretung Karabachs in der nahen Zukunft formell akzeptieren wird.

Es ist offensichtlich, dass nach dem jüngsten Viertage-Krieg im Südkaukasus eine neue Dynamik mit einer neuen Druckkonstellation entsteht. Der US-amerikanische Diplomat Ronald Asmus betitelte sein 2008 erschienenes Buch zum russisch-georgischen Krieg über Südossetien "A Little War that Shook the World: Georgia, Russia, and the Future of the West".

Wenige Tage nach der Einstellung der Kampfhandlungen in Karabach sind die Druckwellen des erneut explodierten Konflikts auch im Nachbarstaat Georgien deutlich zu spüren. Den europäischen Kontinent – der verzweifelt versucht, den Druckwellen der Kriege in der Ukraine und in Syrien standzuhalten – haben die Druckwellen der Explosion in Bergkarabach noch nicht erreicht. Noch nicht.

 

Die Autorin dankt Sonja Schiffers und Shota Papava für ihre Beiträge zu diesem Artikel. Er erschien zuerst auf der Seite unseres Büros Südlicher Kaukasus. Übersetzung von Annette Bus.

Weitere Hintergründe finden Sie in unserem Dossier "Bergkarabach: Ein schwelender Konflikt".