Verschwundene Studierende in Mexiko: Schwere Vorwürfe gegen den Staat

Vater eines verschwundenen Studenten von Ayotzinapa
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Vater eines des verschwundenen Studenten von Ayotzinapa

Im September 2014 verschwanden 43 Studierende aus dem mexikanischen Ort Ayotzinapa. Nun liegt der der 608-seitige Abschlussbericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission vor und liefert neue Erkenntnisse zu der Gewalttat.


„Geht nicht weg! Lasst uns nicht allein!“ – „No se vayan! No nos dejen solos!“: Mit diesem Ruf werden die fünf Vertreter/innen der Interdisziplinären Gruppe Unabhängiger Expert/innen (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) am Sonntag, den 24. April 2016, im Innenhof der historischen Universität im Zentrum von Mexiko-Stadt empfangen. Familienangehörige der Verschwundenen, Vertreterinnen und Vertreter der mexikanischen und internationalen Zivilgesellschaft, Journalistinnen und Journalisten warten dort gespannt auf die Verkündung der Untersuchungsergebnisse der Internationalen Expert/innengruppe zum Fall Ayotzinapa.


Die reservierten Plätze für Regierungsmitglieder in der ersten Reihe jedoch bleiben leer. Auch niemand von der Nationalen Menschenrechtskommission ist anwesend.


Es war der Tag, an dem die Interdisziplinäre Expert/innengruppe (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ihren Abschlussbericht über die Untersuchungsergebnisse im Fall der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa vorstellte. Der Bericht markiert das Ende ihres Aufenthaltes in Mexiko, denn die Regierung hat sich gegen eine erneute Verlängerung ihres Mandates ausgesprochen. Am 30. April mussten sie abreisen und die Familienangehörigen ohne Gewissheit über den Verbleib ihrer Kinder zurücklassen.


Im September 2015 hatte die GIEI die sogenannte „historische Wahrheit“ der mexikanischen Staatsanwaltschaft demontiert, nach der die Studenten auf der Müllhalde der Ortschaft Cocula verbrannt worden sein sollten.


Der 608-seitige Abschlussbericht liefert zahlreiche neue Erkenntnisse über die Geschehnisse der Nacht des 26. September 2014, rekonstruiert die verschiedenen Gewaltszenarien und gibt Auskunft über die Beteiligten. Er geht auf unter Folter erlangte Aussagen vor der Staatsanwaltschaft ein, beschreibt die Suchaktionen nach den Verschwundenen und die Betreuung der Opfer. Wichtiger Bestandteil des Berichtes sind auch Anmerkungen zur Gesetzesinitiative zum gewaltsamen Verschwindenlassen in Mexiko.


GIEI-Untersuchung: Fakten und Zusammenhänge


Interdisziplinäre Gruppe Unabhängiger Expert/innen (GIEI) stellt Abschlussbericht vor
Untersucht und beschrieben wurden Überfälle auf Busse und Angriffe auf zu Hilfe eilende Personen in der Nacht des 26. September 2014, eine Schießerei während einer Pressekonferenz von Mitgliedern der pädagogischen Hochschule Ayotzinapas, die sich aufgrund der Geschehnisse in Iguala versammelt hatten, sowie die Verfolgung, brutale Folterung und Ermordung des Studenten Julio César Mondragón. Festgestellt wurde, dass bei allen Angriffen Mitglieder lokaler Drogenkartelle sowie munizipale, bundestaatliche, nationale Polizeieinheiten und Militärs involviert waren.


Die GIEI spricht von einer weitreichenden territorialen Koordination von Seiten der Aggressoren. Signale von mindestens sieben Handys der Studenten konnten in der Nacht registriert werden. Die GIEI nutzte diese Informationen, um die Wege der Verschwundenen nachzuverfolgen. Weiterhin ging die Kommission der Rolle des mysteriösen fünften Busses nach, dessen Existenz ebenso wie die Handysignale nicht in den Ermittlungsberichten der Staatsanwaltschaft auftauchten. Der Fernbus soll regelmäßig Drogen von Iguala nach Chicago transportiert haben, was den Angriff auf die Studenten in diesem Bus erklären könnte. Die Expert/innen empfehlen den mexikanischen Behörden dringend die Durchführung einer kontextuellen Analyse von Drogenanbau und -schmuggel in der Region und den finanziellen Strukturen lokaler Behörden. Dies sollte in enger Zusammenarbeit mit dem FBI aus den USA geschehen, die sie bereits initiiert haben. Bisher ist die Staatsanwaltschaft jedoch nicht darauf eingegangen.


Staatsanwaltschaft: Untersuchung in der falschen Richtung


Die mexikanische Staatsanwaltschaft versucht nach wie vor, die Untersuchung auf die Müllhalde in Cocula zu lenken und veranlasste eine Neuuntersuchung des Ortes. Das Ergebnis wurde ohne Absprache mit der GIEI veröffentlicht. Die These lautete erneut, dass ein Großfeuer in Cocula stattgefunden habe, was aber weder wissenschaftlich noch technisch belegt werden kann. Das Gutachten besteht aus nur neun Seiten, von denen lediglich drei relevant sind, mit einem Google-Earth-Foto der Müllhalde. Gegenüber dem Untersuchungsbericht der forensischen Anthropologen (EAAF), der auf 350 Seiten forensische, kriminalistische, botanische, biologische, ballistische und geografische Fakten liefert, sowie dem Gutachten der GIEI sind die neun Seiten der Staatsanwaltschaft kaum ernst zu nehmen.


Dass die „historische Wahrheit“ inszeniert und gestellt wurde, macht ein Video deutlich, das die Expert/innen der GIEI am 24. April 2016 präsentierten.


Die Staatsanwaltschaft hatte am 29. Oktober 2014 den Fund von Tüten mit Knochenresten im Fluss San Juan bekanntgegeben, nicht weit entfernt von der Müllhalde Coculas. Anhand der Analyse der Knochenreste konnte lediglich die DNA von Alexander Mora identifiziert werden, einem der verschwundenen Studenten.


Ein Video und Fotomaterial eines Journalisten zeigen jedoch, dass bereits einen Tag vorher Gutachter/innen der Staatsanwaltschaft in der Gegend Inspektionen durchführten und Knochenreste am Flussufer fanden - ob es sich dabei um menschliche Reste handelt, ist nicht bekannt. Der Fund taucht in keinem offiziellen Dokument auf. Auch sieht man zwei zerrissene Tüten am Flussufer - dieselben, die am nächsten Tag auf offiziellen Fotos der Staatsanwaltschaft auftauchen und in denen sich die Knochenreste befunden haben sollen.


Besonders kennzeichnend ist jedoch, dass der Chef der Kriminalabteilung der Staatanwaltschaft, Tomás Zerón, gemeinsam mit Augusto García Reyes am Untersuchungsort auftaucht. Augusto Reyes war vorher festgenommen worden und hatte gestanden, bei der Verschleppung der Studenten mitgewirkt zu haben. Gemeinsam laufen sie das Gebiet ab. Wenig später kommen die argentinischen Forensiker/innen am Ort an und es ist zu sehen, wie ihnen der Zugang verweigert wird.


Das Video ist von höchster Relevanz, da es einen Beweis für eine Vorbereitung und Manipulation des Szenarios durch Einheiten der Staatsanwaltschaft sowie die Unterschlagung von wichtigen Funden liefert. Die GIEI macht darauf aufmerksam, dass bei Augusto García Reyes Spuren von Folter entdeckt wurden. Er ist nicht der Einzige.


Folter von vermeintlichen Tätern und die Suche nach den Verschwundenen


Die Expert/innen veranlassten eine medizinische Untersuchung an 17 vermeintlichen Tätern, die vor der Staatsanwaltschaft ausgesagt hatten und damit der „historischen Wahrheit“ eine Grundlage lieferten. Sie wurden vor ihrer Festnahme, kurz vor ihrer Aussage und während ihres Arrests gefoltert. Durch wen, muss dringend untersucht werden.


Doch jegliche Informationen werden gezielt zurückgehalten oder sind laut der Staatsanwaltschaft nicht Teil der offiziellen Unterlagen und damit wertlos. Im März dieses Jahres waren 50 Prozent der Anfragen der GIEI nicht beantwortet worden. Von einer Unterstützung der GIEI kann nicht einmal annähernd gesprochen werden: z. B. wurden eine Untersuchung verschiedener Krematorien in Iguala und Umkreis nicht durchgeführt, technologische Hilfsmittel wie Satelliten oder Infrarotkameras bisher nicht angeschafft.


Während der verschiedenen Suchaktionen wurden mehrere Massengräber entdeckt, die jedoch nichts mit den 43 verschwundenen Studenten zu tun haben. „Das, was wir hier in Mexiko erleben, haben wir noch nirgendwo anders gesehen“, sagen die argentinischen Forensiker/innen, die bereits seit Jahren auch in anderen Regionen des Landes arbeiten, um Opfer von Massakern zu identifizieren (72 Migranten aus San Fernando im August 2010, 193 Personen aus geheimen Massengräbern auch aus San Fernando im April 2011, Überreste von 49 Personen in Nuevo León im Mai 2012).


Kriminalisierung der Opfer und Diffamierungskampagnen gegen die GIEI


Die GIEI machen des Weiteren auf die Kriminalisierung der Opfer aufmerksam. Den Familienangehörigen werden in diversen Medien Verbindungen zur Organisierten Kriminalität nachgesagt oder politische Radikalität vorgeworfen. So auch ihrem Anwalt Vidulfo Rosales vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan in Guerrero, Partnerorganisation der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko.


Schutz- und Betreuungsmaßnahmen werden nicht eingehalten und versprochene Gelder für medizinische und psychologische Betreuung nicht gezahlt. Die Bürokratie mache einen der Situation angepassten Umgang mit den Familienangehörigen unmöglich, so Carlos Beristain während der Präsentation. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Exhumierung von Julio César Mondragón hin, dem Studenten, der mit Spuren von Folter tot aufgefunden wurde. Die GIEI-Expert/innen hatten eine erneute Obduktion veranlasst aufgrund von Inkonsistenzen im Protokoll. Drei Monate mussten sie sich durch den Bürokratie-Dschungel kämpfen.


„Es gibt Sektoren und Akteure, die unsere Arbeit behindern, die den Fall fragmentieren, Untersuchungen anderer Verdachtshypothesen behindern oder gar versuchen, den Fall als abgeschlossen darzustellen“, so Angela Buitrago von der GIEI. Seit Anfang des Jahres versuchten regierungsnahe Medien immer wieder, Mitglieder der GIEI die Legitimation abzusprechen.


Zu Anfang richteten sich diese Angriffe gegen Angela Buitrago aus Kolumbien und Claudia Paz y Paz aus Guatemala. Buitrago trug als Richterin in Kolumbien zu der Verurteilung verschiedener Militärs aufgrund gewaltsamen Verschwindenlassens bei. So auch Claudia Paz y Paz, die in dem Gerichtsprozess gegen Efraín Ríos Montt, dem ehemaligen Diktator Guatemalas mitwirkte. Doch auch die anderen Mitglieder blieben nicht verschont. „Hier wird gezielt Information manipuliert und falsch dargestellt“, so Buitrago. Sogar der Generalsekretär der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, Emilio Álvarez Icaza, wurde bezichtigt, die Gelder des mexikanischen Staates, die für die GIEI bestimmt waren, zu hinterziehen.


Bezeichnend ist, dass nicht nur am Tage der Präsentation des Abschlussberichtes kein Regierungsvertreter anwesend war, sondern ebenfalls die Einladung zu einer Vorpräsentation der Ergebnisse des Berichtes einen Tag zuvor im UN-Kommissariat für Menschenrechte durch die mexikanische Regierung ignoriert wurde.


Wie geht es weiter?


Die Veranstaltung endete mit der Überreichung des Berichtes an die Familienangehörigen und an den Berichterstatter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission für Mexiko, James Cavallaro. „Die Interamerikanische Kommission bedauert zutiefst, dass der mexikanische Staat einer Verlängerung des Mandats der GIEI nicht nachkommt und den Vertrag auflöst, obwohl seine Zielsetzung nicht erreicht ist, insbesondere die Studenten zu finden. Als Berichterstatter Mexikos bedauere ich auch, dass die staatlichen Behörden heute nicht anwesend waren, um diesen Bericht anzuhören.“ Er appelliert an Präsident Peña Nieto, den Fall weiterzuverfolgen und dafür zu sorgen, dass die Behörden den Empfehlungen der GIEI nachkommen. Er versichert, der Fall werde weiter beobachtet. Regelmäßige Besuche von internationalen Expert/innen sollten das überprüfen.


Nach der Präsentation des Abschlussberichtes werden Schilder hochgehalten: "Danke GIEI"
Gegen Ende der Präsentation ist große Fassungslosigkeit zu spüren. Es stehen viele Fragen im Raum. Wie kann es sein, dass die Staatsanwaltschaft und die Regierung keinen Willen zeigen, den Fall aufzuklären, internationale Expert/innen an ihrer Ermittlung hindern und Informationen manipulieren? Wie soll es weitergehen?


Die Expert/innen verfolgen mit ihrem Bericht die Absicht, eine Grundlage für politisches Handeln zu schaffen und Einfluss auf Regierung und politische Institutionen auszuüben. Es liegt nun an der mexikanischen Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft, Druck auf die mexikanische Regierung auszuüben, den Fall weiterzuverfolgen, damit er nicht zu den Akten der zahlreichen Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens im Land gelegt wird. „Ayotzi vive, la lucha sigue!“ – „Ayotzi lebt, der Kampf geht weiter.“ Es ist inzwischen nicht nur ein Kampf der Eltern der verschwundenen Studenten aus der kleinen Gemeinde Guerreros, sondern ganz Mexikos um Gerechtigkeit.


Erste internationale Reaktionen


Die erste internationale Reaktion auf den Bericht der GIEI kam von der US-Botschafterin der UN, Samantha Power, sowie vom Sprecher des US-Außenministeriums, John Kirby. Beide rufen die mexikanische Regierung dazu auf, die Empfehlungen der Expert/innen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ernst zu nehmen und Mechanismen zu implementieren, um der Arbeit der GIEI Kontinuität zu verleihen.


Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, äußerte seine Besorgnis über die vielen „Probleme und Hindernisse“, die es bei der Untersuchung durch die GIEI gab, und forderte die mexikanische Regierung auf, die Empfehlungen der GIEI entschieden zu verfolgen und die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) angekündigten Kontrollmechanismen zu unterstützen. Der Fall Ayotzinapa zeige die hohe Bedeutsamkeit der internationalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Straflosigkeit in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen. Der Hochkommissar hob die unschätzbare Arbeit der Expert/innengruppe hervor, und betonte, dass der Fall Ayotzinapa nicht nur in Mexiko, sondern weltweit Aufmerksamkeit erfahren habe. Er forderte von der mexikanischen Regierung: „Das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und ihren Familien muss garantiert werden.“


  • Hier geht es zur Pressemitteilung der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko nach der Veröffentlichung des GIEI-Berichts.