Die Seele der Grünen

Eva Quistorp in Lubmin/Greifswald im Jahr 1990 vor dem Atomkraftwerk
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Eva Quistorp vor dem Atomkraftwerk Lubmin/Greifswald im Jahr 1990

Eva Quistorp kämpfte seit den 1970er Jahren in der Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung. Ihr feministisches Anliegen war es, die Frauenbewegung mit der Friedens- und Ökologiebewegung zu vernetzen. Diesem Ziel galt auch ihr Engagement als grüne Abgeordnete im Europaparlament.

„Frauen - Politik - Alternativen. Eva Quistorp in einem biografischen Gespräch“ lautete der Titel des Zeitzeuginnengesprächs, das an zwei Abenden, am 1. Oktober 2009, dem 17. Todestag von Petra Kelly, und am 12. Januar 2010, dem 30. Jahrestag des Gründungsparteitags der Grünen in Karlsruhe, im Archiv Grünes Gedächtnis stattgefunden hat. Tina Hüttl hat dankenswerterweise die Gespräche für die Veröffentlichung bearbeitet. Das Interview erschien im Jahrbuch Grünes Gedächtnis 2010.

Christoph Becker-Schaum: Liebe Gäste, ich möchte Sie herzlich begrüßen zu unserem biografischen Gespräch mit Eva Quistorp. Ganz besonders willkommen heiße ich natürlich Eva Quistorp, die das Entstehen und Gedeihen der Grünen entscheidend mitgeprägt hat. Vor kurzem bist Du 64 Jahre alt geworden, vieles kriegen wir ja doch noch mit....

Eva Quistorp: [lacht] Nicht alles. Je älter ich werde, desto mehr werde ich auch eine sehr seltene Pflanze, weil viele die Gründung der Grünen gar nicht miterlebt haben. Die spannende Frage ist ja, wieso das eigentlich möglich war. Am Anfang stand der berühmte Europa-Wahlkampf der Grünen im Frühjahr 1979. An ihm lässt sich nicht nur messen, wie sehr sich die Grünen geändert haben, sondern auch die Art, Politik zu machen und sich zu engagieren.

Christoph Becker-Schaum: Stimmt, als Du die Grünen mitaufgebaut hast, war ich noch nicht dabei. Wir sind uns etwa erst 15 Jahre nach Gründung der Grünen begegnet, anfangs immer zufällig, später dann öfters.

Robert Camp: Wir haben uns schon ein paar Jahre früher kennen gelernt. Es müsste so 1981 gewesen sein...

Eva Quistorp: ...zur Zeit der Friedensbewegung.

Christoph Becker-Schaum: Heute geht es jedoch nicht nur um diese konkrete Episode in Deinem Leben, sondern um das ganze Lebenswerk. In unserem Gespräch wollen wir eine Tour d’Horizon machen. Deswegen gehe ich ganz an den Anfang und frage: Wer ist eigentlich diese Eva Quistorp und woher kommt sie?

Ich bin in der Nachkriegszeit groß geworden, nicht in der Großstadt Berlin, sondern in drei Kleinstädten am Niederrhein in einem Pfarrhaus mit Garten, weil mein Vater Pfarrer war.

Christoph Becker-Schaum: Der Name Quistorp kommt ja vom Vater und ist auch durch ihn bekannt. Es hieß sicherlich öfters: Guck mal, ist das nicht die Tochter vom Quistorp?

Ja, mein Vater stammt aus einer alten Gelehrtenfamilie der Hansestädte wie Rostock. Meine Mutter musste die Schule früh abbrechen und hat mir trotzdem außer Renoir und Rembrandt die verbotene Kunst, Kirchner, Klee, Nolde, Kandinsky nahe gebracht. Ich hatte einen Bruder und eine Schwester, die für mich sehr wichtig, aber die jünger waren. Also fühlte ich mich lange als einzige Pfarrerstochter in der Stadt - und die Mehrheit in der Gegend waren Katholiken. Von daher musste ich ganz früh üben, in der Minderheit zu sein. Ich musste immer grüßen auf der Straße, ich durfte in der Pubertät nicht irgendwie rummuffeln, weil die Nachbarn mich ja erkennen können. Daher verband ich mit dem Namen nicht so sehr Stolz oder Fröhlichsein, sondern eher Ansprüche und auch Kontrolliert-Werden.

Dann kam noch dazu, dass ich die Einzige in der Schule mit roten Haaren war. Das war sozusagen dann noch mal ein ganz anderes Markierungszeichen, das in Richtung Hexe losging. Das Wort Rassismus kannte ich damals noch nicht. Also alle diese Begriffe, mit denen wir heute so umgehen: Antisemitismus, Toleranz, Anderssein - hat Mitte der 1950er Jahre keiner benutzt. Von daher bekam ich mit dem Namen und den Haaren ein bisschen von der Erfahrung mit, wie sie auch heute noch oder wieder einige Juden, Schwarze, Muslime oder ältere Frauen und Punks machen: ein Gefühl von Abgestempelt-Sein oder Herausgefordert-Sein, sich nicht so leicht verstecken können. Diese Erfahrung ist in mein Leben eingegangen.

Christoph Becker-Schaum: Was hast Du von Deinen Eltern mitbekommen? Dein Vater engagierte sich in der Zeit des Nationalsozialismus aktiv in der Bekennenden Kirche.

Viel über Kirchenmusik, Bach, Mozart, Vivaldi und das Musizieren, die Festtage, die Predigten, die ethischen Grundhaltungen zu Frieden und Gerechtigkeit, auch über Literatur wie das Tagebuch der Anne Frank, Max Frisch und Dürrenmatt, Goethe und Brecht.

Dass meine Eltern in einer illegalen Organisation gegen die Nazis waren, das begreife ich jetzt erst. Leider kann ich mit Ihnen nicht mehr darüber reden. Damals als 68erin verehrte ich Che Guevara, Rosa Luxemburg, später Bertha von Suttner. Meine Eltern habe ich geachtet, aber sie fielen für mich irgendwie nicht unter die Kategorie Idole. Sie waren für mich keine Helden, nichts Besonderes, weil sie ja weder Kommunisten gewesen waren noch Sozialisten, kein bewaffneter Kampf, kein 20. Juli, in keinem Schulbuch.

Das dazu, wie wenig man im Grunde oft auch als Kind oder Jugendliche und dann auch als Rebellin von seiner eigenen Familien- und Vorgeschichte weiß, auch wenn mir der Bezug zu Niemöller und Bonhoeffer klar war und mein Vater fast jeden Sonntag über die wichtigen Traditionen der Juden als unsere Wurzeln und das Verbrechen ihrer Vernichtung im Holocaust predigte, womit er in einer Zeit, als der deutsche Widerstand noch verpönt und unbekannt war, aneckte.

Christoph Becker-Schaum: Wie sehr haben sie Dich religiös geprägt?

Ich war natürlich jeden Sonntag im Gottesdienst, und wir beteten immer Mittags und Abends zu Tisch. Ich denke, ich habe das mit der Luft aufgesogen - dieses Protestantische, dass es Situationen gibt, in denen das Gewissen entscheiden und in denen man der Wahrheit zum Zuge verhelfen sollte. In meinen Aktionsjahren hatte ich oft Angst vor dem Knast oder Schlimmerem, aber ich wollte wenigstens immer riskieren, die Wahrheit zu sagen, auch alleine und eventuell gegen einen Gruppendruck [vereinzelt Applaus].

Christoph Becker-Schaum: Du bist ja 1965 nach Berlin gekommen, nicht zum Studieren, sondern zunächst zum freiwilligen sozialen Jahr.

Das war im Grunde der erste Protest gegen meinen Vater und seine Ansprüche, weil ich natürlich studieren sollte. Eigentlich muss ich ihn loben - außer dass er die Gestapo-Verhöre überstand und immer in die Gemeinden ging, in denen gerade sein Vorgänger nach Buchenwald deportiert worden war - für ihn war es vollkommen selbstverständlich, dass seine Tochter studiert.

Natürlich können Frauen studieren. Erst später bekam ich mit der Frauenbewegung und mit der Realität in Universitäten und weiblichen Berufskarrieren mit, welche Hindernisse es für Frauen auf ihrem Berufs- oder Lebensweg gibt. Aber mein Vater legte mir, was das angeht, überhaupt keine Steine in den Weg.

Christoph Becker-Schaum: Trotzdem hast Du Dich zunächst gegen das Studium entschieden, warum?

Ich wurde so erzogen, bloß nicht arrogant zu sein, weil ich Pfarrerstochter bin. Also Ehrgeiz – und das ist vielleicht ein Unterschied zu Petra Kelly - ist mir überhaupt nicht beigebracht worden, teilweise sogar das Gegenteil, so dass ich später deshalb an bestimmten Stellen auch Schwierigkeiten bekam.

Auf die Idee, ein freiwilliges soziales Jahr in Berlin zu machen, brachte mich meine Mutter. Als Jugendliche war ich ein bisschen weltfremd und schüchtern und eigentlich musikalisch begabt. Ich hätte außer Mathematikerin auch Pianistin werden können. Aber wenn ich vorsang, sagten immer alle: „Schön, aber viel zu leise.“ Ich grübelte, vielleicht solltest Du eher was Soziales für die Menschheit tun. Tief mitgegeben war mir auch: Skepsis gegenüber Eliten wie Massen. Nach dem Nationalsozialismus einfach nur an die Uni gehen und Professorin werden - die deutsche Universitätselite, die Wissenschaftselite hatten damals ja auch schwer versagt -, fand ich schwierig.

Christoph Becker-Schaum: Du hast dann in einem evangelischen Krankenhaus gearbeitet.

Ja, ich bin froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Zuerst dachte ich, ich werde Ärztin, weil ich da überall gebraucht werde. Und dann arbeitete ich im Martin-Luther-Krankenhaus von morgens sechs Uhr bis ich weiß nicht wann. Das ist ein vollkommen anderer Blickwinkel auf die Medizin, als wenn man Fachbücher liest oder unter Medizinstudenten verkehrt. Von den Ärzten nahm sich niemand Zeit für die Patienten.

Damals gab es zwar noch nicht so viel Apparatemedizin, aber Tabletten verteilen gab es auch schon. Ich fand das immer brutaler, seelenloser, je länger ich da war. Von daher konnte ich nicht mehr Ärztin werden und habe mich dann für Germanistik und Theologie entschieden. Das war schon eine Resignation, so nach dem Motto: Mathe nicht, Musik nicht, Medizin nee. Dann das, was meine Tanten schon studiert hatten, Germanistik und Theologie, 68 kam dann die Politologie am OSI noch dazu.

Christoph Becker-Schaum: Den Beruf der Lehrerin zu ergreifen, das geschah aber wohl kaum aus reiner Resignation?

Eigentlich wollte ich nie im Leben Lehrerin werden, weil mir diese Hierarchiesituation und der Gedanke nicht gefiel, eventuell etwas durchpauken zu müssen, das mir viel zu entfernt ist vom wirklichen Leben. Über den Umweg der 68er-Bewegung bin ich es dann doch geworden.

Zwar hatten wir uns alle irgendwie was Wilderes oder Schickeres gedacht. Aber wir diskutierten eben auch ganz konkret über eine Veränderung der Berufspraxis und eine Demokratisierung des Bildungssystems. Und der Weg dazu führt nicht nur über Parteien und über Wahlen, sondern über die alltägliche Lebens- und Berufspraxis. Dazu gehört, alternative soziale und kulturelle Lebensräume zu schaffen, und damit Möglichkeiten, sich anders zu verhalten, anders zu kaufen, anders zu arbeiten, auch wirklich solidarisch sein zu können.

In Westberlin Anfang der 70er Jahre, so zwischen 1971 und 1974, bildeten sich auf ganz vielen Feldern langsam Alternativen, kritische Juristen, Ärzte und Journalisten und auch liberale Schuldirektorinnen, eine alternative Kultur- und Stadtteilszene, zu der ich gehörte.

Christoph Becker-Schaum: Die Freie Universität lag im Epizentrum dieser neuen kritischen Bewegung. Du hast dort studiert, wie sehr warst Du involviert?

Das erste Mal an die FU geraten bin ich auf Klassenfahrt im Juni 1963, als Kennedy hier war. Ich, aus einer Kleinstadt, wusste nicht, wer Kennedy ist - so dumm war ich. Jedenfalls standen wir da, so zehn Leute, und Kennedy wollte mir die Hand geben. Und da gab ich ihm nicht die Hand, weil ich doch von Zuhause gelernt hatte, die Mächtigen nicht zu verehren. Aber immerhin blieb so die FU bei mir hängen. Die Nachricht von Kennedys Ermordung hat mich tief getroffen.

In Berlin zu studieren, war für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Es gab noch keine Studienberatung, keine Frauenstudienberatung, keine Kindergartenplätze, überhaupt nichts. Die Studentenbewegung empfand ich auch deshalb so spannend, weil ich da sofort Leute traf und gleich in einer Gruppe aufgehoben war. Es gab Teach-ins, Sit-ins. Sit-ins fand ich schön, weil das auch die Trennung von Leben und Akademischem aufhob. So wahnsinnig ernst würde ich unser politisches Engagement nachträglich also nicht sehen.

Es war aber immer themenbezogen: Demokratisierung der Universität und gegen den Vietnamkrieg. Meine Radikalisierung geschah durch die Ermordung von Benno Ohnesorg beim Schahbesuch, wo ich vor der Deutschen Oper mit demonstrierte und am nächsten Tag seine Frau Christa kennen lernte.

Robert Camp: Während Deiner Studienzeit in Berlin wohntest Du - zumindest zeitweise - im Haus der Familie Gollwitzer, wo auch die Wortführer der 68er ein- und ausgingen. Wie kam es dazu? Das Ehepaar Gollwitzer gehörte ungefähr zehn Jahre später zu denen, die mit ihrem Namen für die Gründung der Grünen standen.

Gollwitzers haben ja auch zur Bekennenden Kirche gehört und natürlich meine Eltern gekannt. Aber dass ich auf die theologische Vorlesung von Helmut Gollwitzer stieß, war Zufall. Ich kannte den Namen gar nicht, fand diesen rundlicheren, älteren Mann mit seiner sehr menschlichen Ausstrahlung einfach angenehm. Und man merkte an seiner Sprache, dass seine Theologie in der Gegenwart verhaftet ist und sogar auch Lebensfragen der Studenten anspricht. Am Ende der Vorlesung fragte mich eine junge Frau, Marianne Freudenberg, die, wie sich herausstellte, die Nichte von Frau Gollwitzer ist, ob ich nicht mit ihr nach Hause kommen wolle. Ja, und das war das Haus Gollwitzer.

Robert Camp: Wie war Dein Verhältnis zu ihm?

Gollwitzer war mein theologischer Lehrer, aber auch so was wie ein zweiter Vater von mir. Er hatte ein schönes kleines Haus mit Garten in der Nahe von der Uni, da haben alle vom AStA verkehrt. Da er keine Kinder hatte, lud er die Studenten - besonders die von der Bildzeitung als Penner, Langhaarige, Revoluzzer und Rote-Fahne-Träger und was sonst noch verschrien wurden - einmal im Jahr zu sich ins Haus ein, meistens die Kinder, deren Eltern er kannte. Daran merkte man, dass ein paar in der Studentenbewegung aus der Bekennenden Kirche kamen.

Gollwitzer hatte einen Weinkeller. Ich bin ja im strengen protestantischen Haus aufgewachsen, keine Zigarette, kein Wein, keine Disco, kein Tanzunterricht. Und bei ihm lernte ich dann das bayerische Luthertum kennen. Mittags hieß es: „Ach, vielleicht nicht doch noch einen Weißherbst trinken?“

Robert Camp: Dort bist Du auch der Familie Dutschke näher gekommen, die Gollwitzer ebenfalls beherbergte.

Wir waren immer so 20 oder 25 Leute, angeblich habe ich dort einmal sogar zusammen mit Gudrun Ensslin Kaffee getrunken. Ich habe das in dem Moment nicht gemerkt, aber natürlich war ich in dem Milieu, wodurch ich dann auch Rudi Dutschke und Gretchen und ihren ersten Sohn Hosea sehr persönlich kennen lernte - sozusagen in der Küche oder im Wohnzimmer, wenn Gretchen sich da breit machte [lacht]. Gretchen war so anders als der Rudi: so eine leicht amerikanisch-chaotische Hippie-Art, während Rudi etwas streng protestantisch-leninistisches in seinem Charakter hatte, nicht in seinem Denken.

Das war irre, dieses Paar. Rudi immer am arbeiten. Und dann saß ich mit Gretchen in der Küche, und Rudi kommt rein, legt fürsorglich seinen Arm um Gretchen und fragt: „Gretchen, willst du nicht zur SDS-Vollversammlung mitkommen?“ Und Gretchen sagt: „Ach, nein, ich rede hier lieber mit Eva. Eure Themen sind ja nicht die einzig wichtigen.“ Sie sagte das überhaupt nicht wie eine Emanze oder wie man sich so im Zerrbild Emanzen vorstellt. Damals war ich ja noch keine Feministin, aber es bahnte sich langsam an.

Christoph Becker-Schaum: Wie aktiv warst Du selbst in der Studentenbewegung? Du fuhrst ja dann quasi im Auftrag Dutschkes nach Lateinamerika.

Das hört sich jetzt ein bisschen komisch an, weil ich war wirklich keine Führungsfigur von 68. Ich fühlte mich da als fröhliche, kritische, mitdenkende, auch sehr aktive Basis. Ich war mehr oder weniger bei jeder Aktion dabei, habe aber keine Steine geschmissen, auch Gewalt gegen Sachen war ein Tabu für mich. Aber da ich eben diesen Kreis kannte – ich gehörte praktisch zum Freundeskreis der AStA-Chefs und SDS-Führer in diesem Geflecht zwischen Jürgen Treulieb, Sigrid Fronius, die Tomatenwerferin, Rudi Dutschke, Gollwitzer – bekamen sie irgendwie mit, dass ich Interesse hatte, nach Lateinamerika zu fahren. Dann haben sie gesagt: „Ja, Rudi ist doch eigentlich nach Chile eingeladen. Dann muss Eva jetzt in Vertretung von Rudi dahin fahren.“ Und wie man damals sagte: „Und dann muss sie da die Genossen treffen“ [Lachen im Publikum].

Christoph Becker-Schaum: Welche Erfahrungen hast Du dort gemacht? Du bist 1972 gereist, also noch zur Amtszeit von Allende und seinem Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren.

Am Tag bevor ich losfuhr, legte ich mein Staatsexamen ab und stieg dann mit einer kleinen Gruppe von Studenten in den Flieger nach New York. Dann ging es mit dem Auto nach Miami und von dort nach Barranquilla in Kolumbien und weiter mit dem Klapperbus nach Chile. Es war die schönste und größte Reise meines Lebens. Lateinamerika als Ganzes war für mich eine wahnsinnige Weltöffnung.

Heute haben wir einen Dialog der Kulturen, die Globalisierung, wir reden von interkultureller Erziehung und cross-cultural Identities. Damals war das noch ein richtiger Kulturschock, aber im positiven Sinne. Natürlich war ich auch geschockt, das erste Mal krasse Armut zu sehen in bestimmten Gegenden. Aber auf den Straßen war Musik zu hören. Und bei einer Arbeiterversammlung in einem Barrio beeindruckte mich diese Ernsthaftigkeit. Den Leuten ging es um die Existenz. Sie hatten schon ein politisches Leben gelebt, wussten, was Armut ist, wussten, was sozialer Kampf ist, und haben für mich eine irre Würde ausgestrahlt. Dass ich zwischen ihnen sitzen und mit ihnen reden durfte, war soviel unmittelbarer, als ich es je in der Universität oder im Film erleben konnte.

Christoph Becker-Schaum: Wie sehr veränderte sich dadurch Deine politische Haltung?

Meine Lateinamerikareise hat sowohl meinen, sagen wir mal, rebellischen und gesellschaftskritischen und emanzipativen Elan gerade auch in Richtung Frauenbewegung gestärkt und aufleben lassen. Sie hat mir dafür viel Lebenskraft und Ideen gegeben.

Aber es ist nicht alles romantisch. Es gibt auch ein paar Widersprüche. Das war ja dann meine ganz harte Lehre aus Chile, dass ich die Streitigkeiten der linken Gruppen - von den christlichen Linken über die Sozialisten, die sozialdemokratische Linke, dann die kommunistische Partei, dann maoistische Gruppen und dann die linksradikalen MIR - als so unproduktiv erlebte.

Vielleicht sind die Differenzen in den Linken auch manchmal schuld daran, dass ein Diktator siegt. Durch die chilenische Tragödie habe ich viel gelernt für den Versuch, anders Politik zu machen.

Robert Camp: Du sprichst jetzt den Putsch in Chile im Sommer 1973 und Pinochets Sieg an.

Ja, danach war ich schwer krank, weil ich diese Erfahrung, wie dieser furchtbare Pinochet-Putsch passieren konnte, und dass ich so wunderbare Menschen traf, die jetzt eventuell gefoltert werden, nicht verkraften konnte. Ich entschied mich damals auch bewusst dafür, Reformpolitik zu machen und nicht nur radikal, sondern auch pragmatisch zu denken. Dies resultierte neben so intellektuellen Debatten und Vorbildern wie Gollwitzer, Heinemann oder Petra Kelly als Freundin, die ja auch eine radikale Reformerin war, unmittelbar aus meinen Lateinamerika- und Chile-Erfahrungen.

Natürlich bin ich keine vollkommen nüchterne Pragmatikerin geworden, aber durch Chile ein Stück weit geheilt. Dass Begeisterung und Leidenschaft und Hoffnungen auch im Sinne von Martin Luther King, Gandhi und Dorothee Sölle nötig sind, ist mir klar. Aber ich habe mich schon gefragt: War das verantwortlich, was die verschiedenen linken Parteien, Gruppen und Forscher gesagt haben? Habe ich mir oder haben wir uns denn wirklich ernsthaft überlegt, wie man eine Infrastruktur, wie man Geld organisiert, so dass man Schwächeren keine falschen Hoffnungen macht?

Robert Camp: Du hast also an das Schicksal der einfachen Menschen gedacht?

Sagen wir mal so: Ich habe dort schnell gelernt, was konkrete Soziologie ist und was konkrete Lebensverhältnisse sind. Und dass man sich anders organisieren muss. Es ist eigentlich immer die Verantwortung, sich als Intellektuelle zu fragen: Ja, aber wie geht es mit dem Schicksal dieser Menschen weiter? Wer organisiert sie denn? Wer schützt sie auch vor ihren Illusionen, und wer hilft ihnen, sich zu verteidigen ganz praktisch?

Wenn man es wirklich ernst meint mit „eine gerechtere Welt schaffen“, im Sinne von „eine andere Welt ist möglich“, dann darf man eben nicht nur auf der Straße revoltieren und die Menschen für irgendwelche politischen Scharmützel oder großartige revolutionäre Ideen ideologisieren. Man muss konkrete Schritte entwickeln, es braucht Konzepte zur Selbstorganisation, die kurzfristige, mittelfristige und langfristige Ziele kennen – sei es in einer Frauengruppe, sei es in der grünen Gruppe, sei es in einer Attac-Gruppe oder später dann in einem Koalitionsvertrag. Und man muss sich genau überlegen, wie man zu einem Gleichgewicht kommt, bei dem noch genug Träume und Ideen bestehen, deren Umsetzung aber auch sehr nüchtern, ernsthaft und verantwortlich durchdacht ist.

Dafür braucht man viele Fachkenntnisse und muss man auch kluge Bündnisse eingehen. Und die politischen Bündnisse in Chile vor dem Putsch waren einfach nicht klug und vernünftig. Von daher müssen auch Linke sich immer fragen - das ist übrigens schon die Frage in den 20er und 40er Jahren gewesen: Hat dieser Kampf zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten nicht auch dem Aufstieg von Hitler geholfen? Muss man nicht außer guten Zielen ein intelligentes und kreatives Nachdenken über Bündnisstrategien haben?

Christoph Becker-Schaum: Was mir dabei einfällt, ist: Du bist ja ab 1977 viel in Gorleben gewesen und hast dort mit Marianne Fritzen und vielen anderen enge Kontakte geschlossen. Sind Deine Lehren aus Chile in Gorleben eingeflossen?

Ja, im Grunde ist das – wunderbar, genau – für mich selbst, was ich gerade als großen Anspruch formuliert habe, in Gorleben im Kleinen praktisch passiert. Nach der Erfahrung von Lateinamerika und Chile bin ich Referendarin am Gymnasium geworden. Gorleben ab Frühjahr 77 war wie eine zweite Jugend, ein Aufleben von Hoffnung und Freude. Da war ich einerseits Lehrerin, habe also die Berufspraxis und Gewerkschaftsarbeit in der GEW mit angefangen, und am Wochenende habe ich auf dem Lande gelebt.

Gorleben war ein Sommerlager und ich dachte, wir machen jetzt alles neu: Wir machen Lehmbau – vollkommen neu. Wir sammeln Kräuter – vollkommen neu. Wir backen selber Brot – vollkommen neu. Später stieß ich dann darauf, dass wir im Grunde die Reformbewegung aus den 20er Jahren gelebt haben, die durch den Nationalsozialismus abgebrochen wurde.

Marianne Fritzen und ihr Mann, das war eine irre Begegnung. Er Asienwissenschaftler, dem seine Kenntnisse über den Buddhismus auch geholfen haben, ab und an seine Frau zu beraten und ihr irgendeinen Sinnspruch mit auf den Weg zu geben, wenn sie wieder eine Auseinandersetzung mit der Polizei hatte. Wir sind alle möglichen kreativen Bündnisse eingegangen. Ein Bündnis mit der Grafenfamilie, mit einem Pfarrer und seiner Frau, ein Bündnis mit den Bauern. Und dann muss man auch mal ein Loblied singen auf diese Frauen...

Zuruf aus dem Publikum: Oh ja, die Frauen, die in Gorleben wohnten...

Eva Quistorp: ...ja, diese sogenannten Nur-Hausfrauen entpuppten sich alle als pfiffiger, als ich als städtische Feministin dachte. Gorleben lag wirklich am Ende der Welt, da war ganz wenig los. Darum sollte ja auch der Atommüll dahin, einmal, weil da die Mauer war – so als ob die Strahlung nicht durch Mauern gehen würde - und weil man nicht mit großem Widerstand der Bevölkerung rechnete, weder quantitativ noch qualitativ.

Doch die Frauen dort hatten die tollsten Widerstandsideen. Ich glaube, das hat uns sehr geholfen, dass wir linken Studenten oder linken Feministinnen dort auf „normale Menschen“ trafen. Sie waren natürlich einfacher gekleidet, nicht so schräg wie wir Großstädter aus Berlin, Frankfurt oder Köln. Und sie waren auch nicht so laut wie wir. Sie hatten ihre einfachen Kleider, waren verheiratet, und nach einem gemeinsamen Tee kam dann immer eine irre Widerstandsidee. Zum Beispiel die Rose Fenselau hatte die Idee einer Telefonkette für Atomstromboykott. Bis dahin hatte ich noch nie von einer Telefonkette gehört. Jetzt gibt es sie in allen möglichen Widerstandsbewegungen.

Im Grunde ist das die alte Form des Flashmob gewesen. Oder jetzt E-Mail versenden. Es gab also eine irre Kreativität im gewaltfreien Widerstand. Ich kannte das nicht, weil ich die Studentenbewegung nicht als explizit gewaltfreie Bewegung erlebt hatte, sondern mich da oft auch etwas einsam zurückziehen musste.

Christoph Becker-Schaum: Es trafen ja die unterschiedlichsten Milieus in Gorleben zusammen. Gab es da nicht auch Spannungen über den richtigen Weg?

Die Vielfalt und Andersartigkeit von Menschen, wie Marianne Fritzen, Lilo Wollny, Rebecca Harms oder die von Adel, Bauern, Bürgerinitiativen und Künstler kennen zu lernen sowie ihre unterschiedlichen sozialen Milieus, politischen Denkweisen und Lebenserfahrungen, und daraus dann ein politisches Bündnis zu schmieden - das habe ich in Gorleben gelernt. Wir hatten eine gemeinsame Sache: gemeinsam gegen den Atommüll, gemeinsam gegen die Castor-Transporte, da ist ein wunderbarer Prozess daraus entstanden.

Aber natürlich gab es immer auch Konflikte. Dann kamen beispielsweise immer die städtischen Gruppen, da kamen die K-Gruppen aus Hamburg und Göttingen. Und die hatten ihren Arbeiterkampf dabei. Ich wollte lieber kein Propagandamaterial verteilen und „meine“ Frauen und Bauern davon verschonen und dachte doch, dass es besser wäre, einen Steckrübeneinsatz zu machen [lacht].

Christoph Becker-Schaum: Du hast ja Dein Engagement in Gorleben stark mit dem Frauenthema verknüpft und die Gorleben-Frauen und andere Frauengruppen gegründet. Warum?

Im Februar 73 hatte ich im ID gelesen: „Frauen erklären Atom und Blei den Krieg!“ Das war auf Marckolsheim und Fessenheim im Elsass bezogen. Dann kamen die Aktionen im Wyhler Wald und in Kalkar. Sieben Jahre hatte bei mir die Anti-Atombewegung die volle Priorität, ich bin stur an diesem Thema drangeblieben. Sieben Jahre Anti-Atom-Initiativen, dann mehrere Jahre nur gegen Atomwaffen. Ich kannte alle möglichen Orte, wo Atomwaffen lagerten, wo Proteste waren. Ich hatte meine eigene innere Landkarte, wusste, welche Gruppen man miteinander vernetzen muss. Aber das Thema war für mich immer damit verbunden, die Frauen darin zu stärken. Das war von Anfang an für mich auch ein Frauenthema, weil es dabei nicht nur im mütterlichen Sinne ums Überleben von uns allen geht, sondern auch um Kritik an der Technokratie, Technikentwicklung und Wissenschaftsentwicklung als einer Form von Männerherrschaft. So haben wir das damals diskutiert.

Das ist jetzt leider ganz weggefallen. Aber wenn man die Entwicklungsgeschichte der Atomenergie, der Gentechnologien, der Informations- und Kommunikationstechnologien, der Medienbranche und jetzt der Nanotechnologie betrachtet, ist es auch ein Machtbereich von großen Konzernen und eben auch von Männern. Meist werden die sozialen, kulturellen und ökologischen Folgen von Technik und Wissenschaft nicht ausreichend analysiert.

Auf die starken Frauen bin ich übrigens schon 1972 in Chile gestoßen, auf die Sängerinnen Violetta Parra und Mercedes Sosa, auf diejenigen, die Mütterzentren organisiert haben, auf Frauen in der Gewerkschaftsbewegung oder auf die Frauen in den politischen Parteien in Chile. Als ich zum Beispiel auf Marianne, Rebecca und Lilo in Gorleben traf, dachte ich: Oh, drei so tolle Frauen aus drei Generationen. Die muss ich doch mal für die „Courage“ interviewen, damit die „Courage“-Leserinnen erfahren, was für tolle Frauen es im Wendland gibt. Dadurch gab es das allererste Mal ein Frauentreffen in Gorleben, weil sie sich vorher ja nie als Frauen getroffen hatten.

Christoph Becker-Schaum: Die „Courage“ war ja auch so eine Art intellektuelles Begleitorgan für die Entwicklung der Frauenpolitik bei den Grünen.

Ja, ich denke immer, dieses Interview mit den Dreien muss ich Rebecca Harms noch mal kopieren. Vielleicht ist es für sie als Fraktionsvorsitzende in Straßburg spannend zu lesen, was sie vor 32 Jahren gesagt hat. Die „Courage“, deren Herausgeberin Sibylle Plogstedt war, hatte zwar bis damals überhaupt nichts zur Ökologie drin, aber es kamen Themen der Frauenbewegung vor, also das Gesundheitsthema von wegen Schwangerschaft, Abtreibung, Wechseljahre, Frauenärztinnen, unsichtbare, vergessene Frauenarbeit und Geschichte. Von daher, würde ich sagen, war in der neuen Frauenbewegung doch ein Stück grüne Frauenpolitik vorbereitet. Die Courage hat übrigens auch Hannah Arendt für die undogmatische Frauenbewegung rehabilitiert, die vorher wegen ihrer Totalitarismustheorie in der Berliner Linken verpönt war.

Robert Camp: Du bist 1978 nach Dublin gereist zur großen Antiatomkonferenz, wo Du Petra Kelly kennen lerntest. Wie kam es dazu?

Schon 68 hatte ich mich für Film und Kunst interessiert, kannte einige aus der Szene und so traf ich eines Tages auf der Straße auf die Filmemacherin Susanne Beyerle. Als ich sie fragte, was sie gerade mache, sagte Susanne: „Ich fahre morgen nach Irland.“ „Was, Irland?“ „Ja, da ist eine Antiatomkonferenz.“ Und kaum hatte sie „Antiatom“ ausgesprochen, war ich natürlich schon dabei, alle meine Pläne umzuschmeißen, weil ich ja eventuell gebraucht werde, was organisieren oder international vernetzen kann.

Das hat mir 68 beigebracht bis heute - dieser Internationalismus und dieses international Vernetzen. Ja, und dann erzählte sie, sie würde dort Robert Jungk filmen. Petra Kelly war auch in Dublin, nur kannte sie zu der Zeit hier niemand. Aber Robert Jungk war für mich natürlich ein Star. Er hatte in den 60er Jahren das Buch „Heller als tausend Sonnen“ geschrieben...

Robert Camp: ... eine aufrüttelnde Arbeit über die Entwicklung der Atombombe und das Schicksal der beteiligten Forscher.

Ja, ich habe meine zweite Staatsexamensarbeit über Heinar Kipphardts Buch „In der Sache Robert Oppenheimer“ geschrieben. Ich wusste aber erst seit Dezember 1979 und dem NATO-Doppelbeschluss, dass nach Hiroshima so viele Atombomben gebaut worden waren. An der Uni hatte ich davon nie was gehört. Das muss man schon mal sagen: Die Studentenbewegung hat die Antiatom- und die Ökologiefrage voll verpennt. Die Frauenbewegung war international der wichtige Zwischenschritt, das ist meine These. Sie war der wichtige Zwischenschritt, damit es ein offeneres Denk- und Handlungsfeld geben konnte für Friedens- und Ökologiebewegung. Das sollten auch die Friedens- und Ökologiebewegung heute nicht vergessen.

Und auch Alice Schwarzer muss ich manchmal daran erinnern, dass es nicht um die Frauenbewegung oder Friedensbewegung und die Frauenbewegung oder Ökologiebewegung ging. Ein paar Jahre lang warf sie mir vor, ich würde die Frauen in die Frauenfriedensbewegung weglotsen, und das wäre ein Rückschritt in der Emanzipation. Ich denke, dass das Frauen-, das Ökologie- und das Friedensthema essenziell und strukturell zusammengehören. Ich habe auf der ersten Frauen-Uni, die war 1977/78, meinen ersten Workshop zur Alternativenergie gemacht. Zur Alternativenergie! Komisch, was? Die haben mich angeguckt, so nach dem Motto: Wie kann man denn von der Frauenfrage zur energiepolitischen Frage kommen?

Robert Camp: Petra Kelly hat, das lässt sich nachlesen, die Energiewirtschaft oder Energiepolitik in den gleichen Verflechtungen und unter den verschiedenen Aspekten gesehen und analysiert, wie Du das vorhin vorgestellt hast. Noch einmal zurück zur Irland-Konferenz. Wie kam es zum ersten Treffen?

Das Atomthema ist ja ein globales Thema, bei dem man gleichzeitig lokal handeln kann. Deshalb musste ich da einfach mit. Susanne Beyerle brachte mich also irgendwie in ein kleines irisches Bauernhaus, wo wir übernachteten. Ich weiß gar nicht, wen ich zuerst entdeckte. Es war nämlich praktisch ein Wespennest von Koryphäen der Atomkritik. Da war Ernest Sternglass aus den USA, die Britin Alice Stewart, die später den Alternativen Nobelpreis bekam, Helen Caldicott, eine Kinderärztin aus Australien, Kritiker aus Wien und dann eben Petra Kelly. Sie fiel mir auf, weil sie irre schnell redete und vom fließenden Englisch in fließendes Französisch und in fließendes Deutsch wechselte. Das hatte ich noch nie erlebt. Ich kam mir dagegen wie ein kleines Westberliner Licht vor. Aber dann dachte ich, ich brauche jetzt nicht eingeschüchtert sein, sondern: Frauen gemeinsam sind stärker, also werde ich Petra jetzt unterstützen.

Robert Camp: Wie sehr habt Ihr Euch gegenseitig beeinflusst oder befruchtet?

Eine Fähigkeit von Petra war, dass sie bestimmte Leute an verschiedenen Brennpunkten der Welt kannte und sehr gezielt danach schaute, ob sie gewaltfrei waren und keine Ideologen. Das musste sich bei mir erst noch ein bisschen mehr – wie soll ich denn sagen? – aussortieren. Ich war dagegen mehr von der akademischen oder intellektuellen kritischen Theorie geprägt als Petra.

Petra ist nie so in der Basisbewegung gewesen, in der man sich gegenseitig sagte, dass jeder ersetzbar sei. Sie hatte einen anderen Sinn für „einzelne Personen sind an bestimmten Stellen wichtig“. Und zwar nicht im Sinne von Ausnutzung und Instrumentalisieren, sondern aus einer idealistischen Haltung heraus: An verschiedenen Stellen der Welt versuchen wir, die Welt in die richtige Richtung zu schieben. Dafür müssen wir miteinander kommunizieren. Das hat sie viel früher global gemacht als ich. Sie fand es selbstverständlich, jemanden in Palästina, jemanden in Japan, jemanden in Südafrika, jemanden in den USA an der Uni zu kennen. Das habe ich mir abgeguckt über die Jahre. Heute geht mit dem Internet natürlich alles einfacher. Ich glaube, in der Bundesgeschäftsstelle, wo der Europawahlkampf gemacht wurde, hatten wir nicht mal ein Kopiergerät.

Robert Camp: Wir nähern uns nun 1979, also dem ersten Auftreten der grünen Partei mit der Europawahl. Wenn ich das richtig weiß, hat Petra Kelly Dich auch angesprochen, ob Du nicht kandidieren möchtest.

Die Grünen als nationale bundesweite Partei sind erst am 12./13. Januar 1980 gegründet worden...

Christoph-Becker-Schaum: ...also heute genau vor 30 Jahren - mit ein Anlass, um sich zu diesem Gespräch zu treffen. Wenn ich einmal auf die Uhr schaue, jetzt, um 17:20 Uhr, hatten Die Grünen es geschafft, die Präambel der Satzung verabschieden. Aber eigentlich sind Die Grünen neun Monate vorher als „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“ mit dem Ziel einer Kandidatur zum Europaparlament entstanden. Soweit ich weiß, hattest Du nie das Ziel, Politikerin zu werden, ich nehme mal an, Parteipolitikerin schon gar nicht.

Ja, aber Petra rief mich an. Sie und Roland Vogt wollten mich als Kandidatin für den dritten Listenplatz. Den dritten habe ich aber abgelehnt, um nicht zu sehr in der Parteipolitik zu landen. Ich konnte nur deswegen zum Mitmachen überredet werden, weil es europäisch anfing. Von Petra hatte ich zuvor gelernt, dass man nicht nur theoretisch international denken muss: Europa, Plutoniumkreislauf, La Hague, Gorleben. Man muss auch europäisch organisieren, sonst kommt man da nicht raus. Sonst wird der ganze Atommüll nach La Hague transportiert, dann laufen hier die Atomkraftwerke weiter. Es ergab sich also eine neue Logik zur Europapolitik bei mir durch die Antiatomfrage. Das Tolle an der Gründungsgeschichte der Grünen ist für mich, dass wir europäisch das erste Mal zur Wahl angetreten sind, teilweise in kleinen Formationen und lokal – das passt ja auch gut zu den Grünen – aber gleich europäisch.

Robert Camp: Ja, leider wird das oft vergessen.

Eigentlich muss ich das auch noch dreimal laut sagen: Der Anfang der Grünen war europäisch. Auf der These bestehe ich auch. Der Anfang der Grünen war europäisch, und zwar gesamteuropäisch. Darauf bin ich auch stolz. Und ich hoffe, ihr tragt das weiter, auch gegen die Bücher, die es da alle gibt. Der Anfang der Grünen war gesamteuropäisch.

Mir fällt gerade ein, diese Partei, meine geliebte, aber auch ab und zu von mir erlittene Partei [lacht] besaß ja die Großzügigkeit, an 30 Jahre Europawahlkampf nicht zu erinnern. Das Ufa-Gelände ist 30 geworden und hat gefeiert, die tageszeitung ist 30 geworden und hat gefeiert, Fahrradläden sind 30 geworden und haben gefeiert. Aber merkwürdigerweise ist dieser Europawahlkampf, was ich als Theologin und Germanistin die Ursprünge nennen würde, oder wo die Bäche das erste Mal in ein gemeinsames Flussbett geflossen sind, etwas abgeschnitten.

Christoph Becker-Schaum: Welche Erinnerungen hast Du an die Monate des Wahlkampfs bis zur Europawahl am 10. Juni ?

Ich habe ja mehrere Europawahlkämpfe aktiv mitgestaltet, aber das war der schönste. Also die Universitätsveranstaltungen mit Petra Kelly links von mir, Rudi Dutschke und Joseph Beuys rechts von mir, waren wirklich Kultur- und Politikereignisse, aber von keiner bundesweiten Zeitung berichtet. Es war ja sozusagen die letzte Tätigkeit von Rudi Dutschke, den ich im Dezember 1979 das letzte Mal traf. In der Geschichtsschreibung wird er ja nur als der 68er-Rudi vereinnahmt.

Rudi ist aber mehr oder weniger auch Gründungsmitglied der Grünen und hat mit mir in Tübingen, Kassel und hier in Berlin in der TU Europawahlkampf auf dem Podium mitgemacht. Er war da nicht der Star, und Petra war auch nicht der Star. Wir hatten am Anfang nicht so etwas wie einen Star. Für mich war auch die Anwesenheit von Joseph Beuys ganz wichtig. Daher rege ich mich auch immer auf, wenn ich auf einer Webseite oder so lese: „Petra Kelly und Bauer Springmann waren wichtig für die Gründung der Grünen.“ Da ist einfach Bauer Springmann vollkommen übergewichtet.

Meine These ist, dass sie alle, die neue Ökologiebewegung, die neue Frauenbewegung, die Alternativszene, liiert mit dem Kunstmilieu, dabei wichtig waren. Es war diese Mischung, die wichtig war. Das ist nicht einfach nur ein Wurmfortsatz von 68 gewesen. Wir waren auch nicht alle gleich, aber das war eine wunderbare Teamarbeitszeit. Vielleicht glorifiziere ich ein bisschen, das könnte sein. Wir haben das damals ja gar nicht Team genannt. Wie hieß die Parole? Einheit in der Vielfalt. Das war die Geisteshaltung.

Hat denn jemand von Euch an der Wahl 1979 teilgenommen?

Antwort aus dem Publikum: Es ist schon lange her, aber wir haben die Grünen, sobald sie irgendwo auftauchten, gewählt. Aber ins Parlament seid Ihr doch erst 1983 gekommen?

Christoph Becker-Schaum: Das erste Mal war 1979 in Bremen.

Ja, 1979 sind wir von 0 auf 3,2 gekommen. Rudi Dutschke hat mich immer nachts im Keller der Bundesgeschäftsstelle angerufen, da hatten wir unser Büro, unsere „Kampa“. Und es gab keine einzige Kopiermaschine, kein Handy, keinen Computer, die Telefonate musste ich alle selber bezahlen. In der Zeit haben die Medien überhaupt nichts über uns geschrieben. Das ist auch sehr spannend. Wir haben sozusagen die Wahlergebnisse um 300 Prozent erhöht fast ohne irgendeine Berichterstattung in den Medien. Nicht einmal eine negative, weil eine negative, habe ich später gelernt, ist ja auch eine. Der „Spiegel“ hat sogar nach den 3,2 Prozent, obwohl so interessante Personen wie Joseph Beuys, Rudi Dutschke und Carl Améry dabei waren, nichts, andere einseitig und tendenziös berichtet.

Christoph Becker-Schaum: Woran liegt das Deiner Meinung nach?

Ich denke, einer der Gründe, warum nicht nur die Medien, sondern auch die Partei selbst ihre Gründerinnen und Gründer in den Schatten stellte, ist, - außer dass sie alle nicht dabei waren, die jetzt an der Spitze sitzen - dass die Linken damals fast alle gegen die Grünen waren. Mich hat keiner beklatscht dafür, weil ich bei einer Parteigründung mitgemacht habe. Ich konnte mich kaum in Kneipen sehen lassen, ohne böse Blicke abzubekommen. Eigentlich hat ein bestimmter Teil der Linksintellektuellen die Grünen erst akzeptiert, als sie 1998 in die Regierung gingen. Das muss man sich klarmachen.

Ein anderer Teil aus dem Frankfurter Milieu wie Joschka und Dany, die 1983 auf Bundesebene dazukamen, haben auch nicht das ganze Alternativmilieu mitgezogen. Es haben sich immer einige bedeckt gehalten. Die Berichterstattung über die Zeit ist teilweise sehr einseitig. Johano Strasser aber hat mit mir schon im Europawahlkampf 1979 an der Uni Aachen recht respektvoll diskutiert, als ich vorschlug, ein rot-grünes statt ein sozial-liberales Bündnis zu machen: Mehr Demokratie wagen!

Christoph Becker-Schaum: Wie müsste für Dich die Parteigründung eigentlich dargestellt werden? Oder auch anders gefragt: Was ist für Dich die Seele der Grünen?

„Das Grün bricht aus den Zweigen.“ Die Hoffnung, ein schöpferischer Prozess, an dem viele mitwirken. Als Intellektuelle habe ich gelernt, nicht so sehr in Klischees und Schemata zu denken, sondern in gesellschaftlichen, soziologischen, ökonomischen und politischen Veränderungen, auch geistigen Zusammenhängen. Ich tendierte stets zu denen, die sagten, Geschichte wird nicht von großen Männern an einem ganz bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit gemacht - und sie haben alles entschieden.

Also nach dem großen Mythos 68 gab es viele dezentrale Initiativen in den 70er Jahren. Es wurde neu nachgedacht und es hat sich viel bewegt - in Bochum, Dortmund, Freiburg, Tübingen, Köln, also nicht nur in den großen Uni-Städten Berlin, Frankfurt, München, Hamburg. Man lebte eigentlich schon etwas Dezentrales, etwas Kreativeres und etwas, bei dem nicht mehr zwei, drei große Männer oder ein Beschluss des Kabinetts, eine bestimmte Denkschule, ein bestimmter Kirchenlehrer, eine Führerin der Frauenbewegung oder eine Redakteurin bestimmten, wo es langgeht. Meine These ist ja gegen die meisten Bücher, die bisher über die Anfänge der Grünen geschrieben worden sind, dass es zwar stimmt, dass die AUD dabei wichtig war...

Christoph Becker-Schaum: ... August Haußleiters Ökopartei mit dem Namen Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher....

... ja, die AUD habe ich praktisch erst am 18. März 1979 auf dem Gründungskongress der SPV kennengelernt und mich ehrlich gesagt auch nicht sehr viel darum gekümmert. Ich habe ab und zu deren Zeitschriften gelesen, weil sie informativ waren. Aber ich stieß ja aus einer eher undogmatischen Alternativszene dazu - mit dem Lebensgefühl: „Wir sind jetzt ganz viele, und ganz viele von uns sind anders, und wir machen jetzt ganz viel anders in diesem Land.“ Dieses Element von mir wollten ja auch Petra Kelly und Roland Vogt unbedingt drin haben. Von daher habe ich zwar gesehen, wie auf der einen Seite die K-Gruppen in ihren drei oder vier verschiedenen Variationen relativ einflussreich waren und auf der anderen Seite die AUD, aber wichtig war auch, dass durch die Frauen- und Alternativbewegung zu der Zeit bereits alternative Institutionen, alternative Zeitschriften und alternative Orte bestanden.

Christoph Becker-Schaum: Okay, halten wir fest: Zur Entstehung gab es breite Netzwerke. Da gab es die AUD und der GAZ von den älteren Herren August Haußleiter und Herbert Gruhl, dazu die Grüne Liste Umweltschutz, die Grüne Liste in Rheinland-Pfalz, die ganz viel mit der Antiatombewegung gegen Mülheim-Kärlich zu tun hat, und die Grüne Liste Schleswig-Holstein - sie und all die anderen Alternativbewegungen wie Wohngemeinschaften, Nachbarschaftszentren sind der Bodensatz, auf dem das Ganze gedeihen konnte.

Ja, es existierte eigentlich immer so eine dezentrale Infrastruktur für das Entstehen der ersten grünen Listen, aus der kritischen Gesundheits-, Stadtplanungs- und Verkehrspolitik, aus dem Protest gegen „die Unwirtlichkeit der Städte“, dann um die Erweiterung von Flughäfen und Umweltskandale herum, also wegen Lärmschutz, Luftverschmutzung, Kohlekraftwerken. Das waren neben dem – wie sollen wir den nennen? – mehr wertkonservativ traditionelleren Parteiansatz und neben dem linken Parteiansatz die Kerne und die Szenen, wo Proteste gegen Umweltsünden, gegen Atomanlagen, gegen Parteispendenskandale laut wurden. Das waren die neuen sozialen und politischen Bündnisse. Das war die Kombination von Pfarrfrauen, Pfarrern, Grafen, Bauern und mittelständischen Unternehmern, städtischen Feministinnen und junger Antiatomszene. Sie entstand da, wo die regionalen Auseinandersetzungen waren, wie zum Beispiel in Gorleben, und war dann auch generationsübergreifend.

Christoph Becker-Schaum: Du hast jetzt wunderbar plastisch geschildert: das alternative Milieu auf der einen Seite, die Parteien von Haußleiter und Gruhl auf der anderen, die organisationspolitisch wahrscheinlich eine große Rolle gespielt haben. Die Gründung erfolgte auf der ersten Bundesversammlung am 17. - 18. März 1979 in Frankfurt-Sindlingen als SPV, als „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“.
 
Der Name war lange umstritten. Über solche Sachen stritt man sich damals unheimlich. Jeder verband etwas anderes damit. Einige waren für „Die Alternative“. Petra, Roland und ich waren unabgestimmt voneinander sofort für den Namen „Die Grünen“ und die Sonnenblume, weil uns das als sinnlicher, konkreter und einfach anders erschien. Wir haben 1980 dann über den Namen erneut gestritten. Man muss sich klar machen: Das Neue hat zwischen Ende 1978 und März 79 angefangen. Der Gründungsprozess der Grünen dauerte aber ein Jahr bis zum März 80. Es ist ja auch nicht alles in Karlsruhe entschieden worden.

Dieser Gründungsprozess wurde ja von einer vielfältigen partizipativen Forschung begleitet, die aber die Rolle der Frauen, den Zusammenhang von Frauen-, Friedens- und Umweltfragen vollständig ausgeblendet hat. „Das sind doch kleinbürgerliche Elemente“, schrieb Enzensberger. Einige linke Politologen haben sofort nach dem braunen Fleck bei den Grünen gesucht. Mir wurde ja auch in der Frauenszene gesagt: „Eva, wie kannst du überhaupt das Wort Frau und Natur in einem Satz zusammen in den Mund nehmen? Das ist doch faschistoid!“

Robert Camp: Erst nach der Europawahl mit ihrem sehr guten Ergebnis von 3,2 Prozent beschlossen viele, sich am Gründungsprozess aktiv zu beteiligen. Ich möchte, dass wir noch kurz auf den von Dir erwähnten Karlsruher Parteitag im Januar 1980 kommen, oder genauer gesagt: Die Gründung der Grünen fand eigentlich auf drei Parteitagen statt. In Karlsruhe wurde nur die Satzung verabschiedet. Bis zum Programm oder Vorstand kam man nicht mehr. Das Programm wurde dann auf dem folgenden Parteitag in Saarbrücken beschlossen. Du hast für den Bundesvorstand kandidiert.

Im Grunde wurde ich von den Bremer Grünen und von Rudi Dutschke persönlich im September 1979 eine Nacht lang beredet, in den Bundesvorstand der Grünen zu gehen. Rudi sagte: „Eva, wir brauchen Dich und Delphine Brox im ersten Bundesvorstand der Grünen, weil wir brauchen bei der Parteigründung jetzt antiautoritäre Personen.“ Brox war eine geistreiche linkskatholische Französin, die ich aus den Gorleben-Camps kannte. Und Rudi hat „antiautoritär“, wie ich jetzt nachträglich weiß, so verstanden: auf jeden Fall nicht leninistisch, auf jeden Fall nicht stalinistisch und nicht die traditionellen linken bürokratischen Parteiorganisationen. Er wollte Charaktere, die für die Sache und für die Bewegung arbeiten, nicht für ihre eigene Karriere und nicht für ihre Macht im Apparat. Die linke Szene war ja ziemlich hart. Es hat auch viel Kraft gekostet, gegen diese linken Truppen anzustehen. Wir hatten in Bremen mehr oder weniger beschlossen, dass wir gegen Doppelmitgliedschaften sind.

Zuruf aus dem Publikum: Eine Ergänzung, weil es gerade passt. Ich gehörte ja zu einer K-Gruppe und war auch Doppelmitglied. Das ist auf dem Parteitag im März aufgehoben worden. Ich fand das strategisch sehr klug, weil damit das Lernprogramm für uns Ex-Maoisten begann. Ich habe bei den Grünen gelernt zu verstehen, was an meinem Weltbild vielleicht nicht tragfähig ist, und warum man sich so auf ein neues Projekt einlassen kann.

Eva Quistorp: Ja, die Geschichte der Parteibildung habe auch ich als Prozess erfahren, wie wir vom Begriff „Revolution“ zum Begriff „Reform“ und vom Begriff „Widerstand“ zum „Umbauprogramm“ kamen. Leider, aber vielleicht geht es auch nicht anders, ging das nicht immer schnell genug, auch nicht immer freundlich genug und auch nicht unbedingt linear, sondern mit Rückschritten.

Intern bildeten sich so etwas wie Führungscliquen heraus, die dann auch entschieden, wer redete oder wer einen Gegenantrag stellt. Man musste damals ideologisch gestählt sein und schmerzfrei, auch dass man weiß, es gibt Hinterzimmer und Gruppentreffen. Ich war dann immer noch schockiert bei den Grünen. Ich habe bei einem dieser Treffen eine halbe Stunde geweint, weil ich die Atmosphäre so schrecklich empfand und dachte: „Wir sind doch jetzt Bürgerinitiative, wir sind doch jetzt Frauenbewegung. Was sind das hier für schreckliche Kämpfe? Im Grunde entscheiden hier nur wieder vier Leute hinter den Kulissen und wieder nur linke harte Männer.“

Robert Camp: In Karlsruhe hast Du die Frauenquote gefordert, Deine Idee?

Ehrlich gesagt, habe ich dort das Wort „Frauenquote“ selbst das erste Mal gehört. Haußleiter hat damals einen Deal mit den K-Gruppen-Leuten gemacht, und ich meldete mich dagegen zu Wort. Petra bekam das mit und sagte: „Eva, sag Frauenquote!“ [lacht]. Meine These ist, dass es dieses Wort in der Bundesrepublik vorher nicht gab. Was ist das jetzt schon wieder, was Petra da aus den USA mitbringt? In den JEF-Papieren in Brüssel hatte das Wort auch noch nicht dringestanden. Da stand etwas von Gleichberechtigung, gleicher Lohn für Frauen. Das hatte Petra mir schon 1978 gezeigt. Sie machte sich schon ganz früh daran, auch die EU und Europapolitik zu nutzen, um die Bundesrepublik zu moderni-sieren. Also fing ich an, die Frauenquote umzusetzen. Und das hat dann dazu geführt, dass bei der Bundesvorstandswahl in Saarbrücken 1980 eben nicht nur eine Frau drin war - und auch nicht nur Petra.

Christoph Becker-Schaum: Ich würde gerne in Richtung Friedensbewegung weitersteuern, einem weiteren Strom, aus dem sich die Grünen speisten und wo es ähnlich harte Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen gab. Streitfragen dort waren: Wie halten wir es mit dem KOFAZ, dem Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit? Gibt es eine blockübergreifende Friedensbewegung? Du warst in der Geschäftsführung des Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung. Wie war das?

Das war schon eine schwierige Bündnispolitik. Der Koordinierungsausschuss ist um den Kirchentag im Sommer 1980 in Hamburg gebildet worden, und ich bin aus der Frauenbewegung, aus der Antiatombewegung und aus dem ersten Europawahlkampf der Grünen heraus als Sprecherin und Gründerin der „Frauen für Frieden“ hinein gewählt worden.

Ich würde mal sagen, ich war die Einzige, die klar blockunabhängig und gleichzeitig noch frauenpolitisch zum Thema Krieg, Frieden und Sicherheit orientiert war. Dabei haben mich Lukas Beckmann, Jo Leinen, Klaus Vack und Manfred Kühle von der Graswurzelwerkstatt manchmal unterstützt. Die politische Kultur hat sich seitdem enorm verändert. Dazu haben auch die „Frauen für Frieden“ beigetragen...

Christoph Becker-Schaum: ...ein Gruppe, die Du ins Leben gerufen hast.

Zweimal im Leben wurde ich von anderen angerufen und gefragt: „Eva, willst Du das nicht gründen?“ Diesmal von der taz, die fragte: „Eva, hier ist ein Aufruf von skandinavischen Frauen für Frieden. Willst Du das nicht mal machen?“ Jedenfalls habe ich es dann gemacht. In einer Küche in Westberlin haben wir „Frauen für Frieden“ und die „Anstiftung der Frauen zum Frieden“ am 27. Februar 1980 gegründet - zu viert. Innerhalb von drei Monaten sind wir aber – jede Nacht, keine Kopiermaschine, Telefon hatten wir, aber auch nur eins in der Wohngemeinschaft – gewaltig gewachsen.

Christoph Becker-Schaum: 1981 hast Du die große Friedensdemo in Bonn mitorganisiert. Wie kam es dazu?

Das ging Schlag auf Schlag. Anfang Dezember 1979 habe ich die Antiatomdemo hier in Berlin gegen die Atompolitik der SPD noch mitorganisiert. Irgendwie kam Rudi Dutschke vorbei und sagte, ich solle mitkommen und Willy Brandts Abschlussrede beim Parteitag der SPD hören. Ich wusste gar nicht, was ich da soll. Ich war so auf Europa und Grüne fixiert. Und dort hörte ich vom NATO-Doppelbeschluss, von dem ich bis dato nicht wusste, was das ist. Und dann dachte ich: Was, Atomwaffen jetzt auch noch? Und davon wollen die noch mehr?

Mir hat das ja schon gereicht mit Atomanlagen. Ich fand schon schlimm genug, dass die ganze Welt damit verseucht wird. Ich hatte so eine innere Landkarte, wo überall auf der Welt Uranabbau ist, Atommüll gelagert wird, Atomtests stattfinden und Atomanlagen sind. Die Gefahr der Proliferation von Atommaterial an Terroristen, die haben wir schon damals erkannt. Und dann hat wieder ein Journalist von der taz, die taz-Gründerszene kannte mich, gesagt, ich solle was gegen den NATO-Doppelbeschluss machen. Und ich habe dann - nach einer Lern- und Lesephase, um mich in das Thema einzuarbeiten - Frauenfriedensmärsche durch Europa und die riesigen Demos in Bonn mit organisiert...

Christoph Becker-Schaum: ...die immer größer wurden.

Ja, der erste Durchbruch der neuen Friedensbewegung - die ich „neue“ nenne, aber sie war natürlich eine Mischung von alter und neuer mit den DKP- und KOFAZ-Strukturen - war am 10. Oktober 1981 im Hofgarten. Da verantwortete ich zum ersten Mal in meinem Leben eine bundesweite Demonstration mit und hatte das Gefühl: Oh mein Gott, wenn die schief geht, und da was Falsches über dich in der „Bild“-Zeitung steht, dann ist aber deine Berufskarriere überall vollkommen vorbei. Und dann saß ich das erste Mal im Leben neben Spitzenvertretern der DKP, der SPD und der Gewerkschaften.

Christoph Becker-Schaum: Der Koordinierungsausschuss war ja ganz fein so zusam-mengesetzt, dass die verschiedenen Gruppen dort in einem wohl austarierten Verhältnis saßen. Aber es gab verschiedene Spektren von Unabhängigen, es gab ein feministisches Spek-trum, es gab ein Parteienspektrum, es gab das KOFAZ, die DKP. Über was wurde diskutiert?

Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie lange wir über Aufrufe und Sprache diskutierten. Wir hatten ja schon in der Studentenbewegung versucht, Justiz und Lehrkörper vom Nazi-Jargon zu reinigen. Dann kam noch mal eine Welle, die Sprache daraufhin durchzugucken, ob sie friedensgemäß ist. Man durfte keine Feindbilder mehr haben.

Wir hatten im Koordinierungsausschuss schon Entscheidungsgewalt, nämlich wer bei den Großdemos redet, wie man die organisiert. Und wir mussten das Bündnis zusammenhalten. Aber die Friedensbewegung hatte auch ein Element der Alternativbewegung: es gab wahnsinnig viel dezentrale Aktivität von unten. Die organisierten Kerne der DKP, die ihre Fäden bis zu Journalisten und Wissenschaft hatten, haben natürlich versucht, die Kontrolle zu behalten - etwa wie ein Aufruf formuliert wird.

Sie wollten, dass an möglichst wenig Stellen SS 20 erwähnt werden und an keiner Stelle „Wir sind gegen die Atomwaffen von beiden Supermächten“ oder „Schwerter zu Pflugscharen“. Das haben sie auch an einigen Stellen geschafft, und zwar deswegen, weil ein Teil der Friedensbewegung „naiv“ war. Aber es ist vollkommen überschätzt, wenn man meint, SED und DKP hätten ins Gehirn und in die Seele von allen reingeguckt und jede Aktion koordiniert und bestimmt.

Robert Camp: Die Abgrenzung gegen den Einfluss der DDR war eine Seite, die Umkehrung ins Positive aber auch. Zum ersten Mal wurde auf blockübergreifende Ansätze gesetzt. Das hat sich, glaube ich, fokussiert im END-Prozess. Die Kampagne „European Nuclear Disarmament“ verstand sich ausdrücklich als prozesshaft, als offene Struktur, und eine, die auch in Organisationsformen ost- und westeuropäische Leute zusammen zu bringen versuchte.

Ja, das war auch 1980, das Jahr, als Solidarność entstand, deren Vertreter Tadeusz Mazowiecki ich dann als Europaabgeordnete am 1.9.1989 auf der Westernplatte traf. Wenn ich das noch einfügen darf? END ist in England entstanden. 1980 haben wir in einem Keller in Brüssel das europäische END-Netzwerk gegründet. Da waren außer mir noch Rudolf Bahro, Mary Kaldor, Edward Thompson und seine Frau Dorothy dabei, die schon in den 50er Jahren Frauenfriedensfahrten durch Europa gemacht hat.

Robert Camp: END basierte auf einem Aufruf, der atomwaffenfreie Zonen und die Abrüstung von Atomwaffen in Osteuropa und Westeuropa forderte. Der END-Appell verstand sich explizit als Alternative zum Krefelder Appell, der sich nur an die USA und an die Westseite wandte. 1980 fand die erste von elf Conventions statt - so hießen die Zusammenkünfte. Die erste Convention war in Brüssel, dann kam, ich bin nicht ganz sicher, Berlin.

Berlin war im Mai 1983 im ICC. In der Zwischenzeit hatte sich irre viel entwickelt. György Konrád und György Dalos waren inzwischen bekannt. Solidarność, die Charta 77 und Frauen für Frieden aus der DDR waren, ohne anwesend sein zu können, aber über Exilierte immerhin, unsere indirekten Mitdiskutanten. Jürgen Fuchs und auch die ersten Ausgereisten aus der Friedensbewegung der DDR nahmen daran schon teil.

Robert Camp: Was genau ist auf der Berliner END-Convention passiert?

Dieser Kongress war programmatisch ganz toll. Da ging es um ein atomwaffenfreies Europa und Bürgerrechte in ganz Europa, um den Dialog mit Andrej Sacharow, Adam Michnik und anderen, mit der Charta 77, da ging es um den Aufruf von Peter Brandt, den ich unterstützte als einzige Grüne, für die europäische und darin die deutsche Einheit in einem demokratischen Europa. Wir waren danach in Paris, in Perugia, 1987 in Coventry. Im Grunde kamen dadurch die eurokommunistischen Parteien und deren Milieu in Europa langsam unter grünen Druck.

Christoph Becker-Schaum: Es gibt die Formulierung, dass die Grünen überhaupt nur als „Ökopaxe“ in ein so breites Spektrum ausstrahlen konnten, dass sie den Schritt in den Bundestag 83 vollziehen konnten.

Da hat sich die Kraft gebildet, die den Sprung über die 5%-Hürde schaffte, die zu Stammwählern der Grünen wurde, in dieser friedens- und umweltpolitischen Debatte und Bewegung, die stark von Frauen getragen wurde.

Robert Camp: Ich würde den Bogen schon gerne ein bisschen weiter spannen. Es ist ja auch nicht mehr viele Jahre hin bis zu Gorbatschow 1985. Wie würdest Du das im Rückblick sehen, wie dieser END-Prozess mit den Veränderungen der Sowjetunion und dann des ganzen osteuropäischen politischen Gefüges zusammenhängt?

Als Wechselwirkungen. Petra und ich haben Gorbatschow ja schon 1987 persönlich getroffen. Aber wir waren eine kleine Gruppe. Ich habe auch in meinem Leben gelernt, dass es kleine Gruppen und oft auch Minderheiten sind, die etwas anstoßen, was jedoch dem Zeitgeist entsprechen muss. Die Conventions waren von ein paar Hundert besucht, dann hier in Berlin ein paar Tausend. Ich glaube kaum, dass wir direkt Gorbatschow beeinflusst haben. Aber ich würde schon sagen, die END-Gruppe hat gezielt darauf hingearbeitet, dass 1989 irgendwie langsam wirklich wurde.

Es war eine Minderheit sowohl in der Frauenfriedensbewegung wie in der Ökologie-, wie in der Friedensbewegung, die wirklich sehr klar im Kopf war, wen man in Osteuropa zu unterstützen hatte. Die, die nicht nur klar im Kopf waren, sondern praktisch geholfen haben, das war schon eine Minderheit. Aber das ist immer so. Es war ja auch in Osteuropa eine Minderheit, die ganz klar durchgeblickt und ganz klar Mut hatte.

Christoph Becker-Schaum: Wir sind nun an verschiedenen Stellen, die wir bis 1989 hätten besprechen können, nur vorbeigeschrammt, vor allem an Deiner Arbeit im Bundesvorstand der Grünen - immerhin fallen der GAU von Tschernobyl und das Umbauprogramm, auf das Du angespielt hast, in diese Zeit, der Fundi-Realo-Streit, wo Du klar Position bezogen hast, und nicht zuletzt auch die Gründung unserer Stiftung. Beim Fall der Mauer und bis zum Krieg in Bosnien warst Du eine mutige Stimme für Frauen- und Bürgerrechte im Europaparlament. Wir kommen heute auch nicht mehr dazu, über Dein Engagement bei Attac und für Bürgerrechte in China und im Iran zu sprechen. Zum Abschluss möchte ich gerne noch auf Dein internationales Engagement in der UNO eingehen. Wie kam es dazu?

„Frauen für Frieden“ hat sich aus Skandinavien auf die UNO-Frauenkonferenz hin entwickelt. Innerhalb von drei Monaten entstanden bundesweit zig Grüppchen. Dann hatten wir 40.000 Unterschriften zusammen für die UNO, und so kam ich das erste Mal auf die UNO-Konferenz im Juni 1980 in Kopenhagen. Auch Petra war für eine Aktion dort. Von 1980 bis zu ihrem Tod 1992 haben Petra und ich unabhängig von Debatten im Bundesvorstand, in der Fraktion oder irgendwelchen Papieren parallel UNO-Frauenpolitik und UNO-Friedenspolitik gemacht. Nicht immer abgesprochen, aber wir wussten von einander. Ich habe viel von anderen Frauen gelernt und traf auf Vorbilder wie Bella Abzug, die mir zeigte, wie man bei der UNO auftreten kann.

Also ich habe den allerersten Workshop zu Frauen und Atomenergie und Alternativenergie in Kopenhagen gemacht. Und weil Kopenhagen mir so gefiel, fingen UNO-Konferenzen an, mich zu interessieren. Ich fand sie überhaupt nicht langweilig. Das linke Klischee dazu war ja, UNO ist nur Papiertiger und Gequassel. Aber ich traf dort Frauen aus Lateinamerika, aus Asien. Da merkte ich: Die UNO ist so organisiert, dass wir sie als einen Treffpunkt einer - heute würde man sagen - globalen Zivilgesellschaft nutzen können.

Christoph Becker-Schaum: Du hast durch Deine Arbeit dem Gender-Ökologie-Thema auf internationaler Ebene seine Brisanz verschafft und auch an der Resolution 1325 zu Frauen und Sicherheit mitgearbeitet. Wie hast Du das geschafft?

Der Aufbruch mit der UNO-Frauendekade seit Houston 1975 hieß für mich 1980 in Kopenhagen, Frauen und Ökologie, Frauen und Frieden in der UNO und der EU institutionell zu verankern und so die Basisbewegungen dazu weltweit zu stärken. Das Friedensthema war in der UNO voll von den sozialistischen Ländern und den ganzen Kadern okkupiert, beziehungsweise vom Kalten Krieg bestimmt, die weder die UdSSR, China oder Diktaturen in der arabischen Welt oder Afrika kritisierten, noch Frauen- und Menschenrechte überall unteilbar forderten.

Angeregt durch die amerikanische Frauenbewegung haben wir eine neue Frauenbewegung in die UNO reingebracht. 1985 in Nairobi habe ich das erste Mal eine Delegation der Grünen-Frauen bei einer UNO-Konferenz angestoßen. Da waren wir, glaube ich, nur fünf. Bei der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 jedenfalls habe ich mit 5 bis 15 Frauen, mehr waren das nicht, aus allen möglichen Ländern in fünf Tagen das Kapitel „Frauen und Umwelt“ geschrieben, haben mit vielen Feministinnen und Entwicklungspolitikerinnen die Rolle des IWF und der Weltbank kritisch unter die Lupe genommen.

Parallel dazu, was auch sehr wichtig ist, lief von der UNO der Bereich Frauen, Frieden, Entwicklung. Mein praktischer Lernprozess damit lief von der Gründung von „Frauen für Frieden“ am 27. Februar 1980 über die Friedensbewegung, END, Mauerfall, bis zu dieser UNO-Schiene „Frauen in Krisengebieten“ und zu meinem Engagement für Bosnien und medica mondiale seit 1992. Die Frauenbewegung und die Friedensbewegung, die Frauenfriedensforschung und die Friedensforschung nahmen immer mehr Einfluss auf diese Dokumente, so dass es jetzt ein Kapitel zur Konfliktlösung von Frauen in Krisengebieten, auf deutsch: in Kriegsgebieten, gibt. Das ging dann bis zur Resolution 1325, an der ich auch mitschreiben durfte. Da bin ich eine von 100 weltweit, die daran mitgelobbyt und mitgeschrieben hat.

Zuruf aus dem Publikum: Ich war im letzten Dezember beim Klimagipfel in Kopenhagen. Dort wurde Eva Quistorp als „Großmutter der internationalen Frauenökologiebewegung“ bezeichnet. Mich würden die Strategien zur Vernetzung der Frauen interessieren.

Eva Quistorp: Mit den Aktionen zu Frauen, Umwelt und Klima ging es 1973 und dann 1980 in Kopenhagen los, dann 1992 Rio, dann 1995 Berlin und Kopenhagen, als Angela Merkel Umweltministerin war und das Kyoto-Protokoll vorbereitete. Da haben wir eine internationale Frauenkonferenz zu Frauen und Klima gemacht. Seitdem ist das Netzwerk „Frauen und Klima“ global entstanden. Wir hatten am Anfang überhaupt kein Geld, das habe ich mit dem Rest meiner ersparten Diäten und Spenden finanziert.

Bei der UNO dürfen seit Jahrzehnten – das ist nicht der Erfolg der Grünen, das haben schon andere vor uns erreicht – immer Vertreterinnen der Kirchen und großer sozialer Gruppen reden. In Kopenhagen durfte nun die Gender- und Climate-Justice-Platform reden, meine Freundinnen Wangari Maathai und Vandana Shiva, die 1993 den Alternativen Nobelpreis bekommen hat. Das ist ein Beispiel, wie Netzwerke von Frauen in Entscheidungspositionen, die engagiert und verantwortlich zu Frauenrechten, Frauen und Klimawandel, Frauen und Entwicklung, Frauen und Frieden arbeiten, auch Erfolg haben. Es hat viel Kraft gekostet, aber es hat sich also doch gelohnt, vor 30 Jahren damit anzufangen.

Christoph Becker-Schaum: Das finden wir auch. Wir sind alle ganz beeindruckt.

Robert Camp: Ja, vielen Dank, vor allem für Deine Power, die Du auch in diesem Gespräch wieder einmal hingelegt hast.

Das Interview erschien im Jahrbuch Grünes Gedächtnis 2010.