"Wir brauchen einen Dialog zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Marokko"

AMDH und Protestierende der "Bewegung 20. Februar" am fünften Jahrestag der Bewegung im Februar 2016
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AMDH und Protestierende der "Bewegung 20. Februar" am fünften Jahrestag der Bewegung im Februar 2016

Aziz Rhali hat mehr als 25 Jahre Erfahrung in der zivilgesellschaftlichen Arbeit in Marokko. Er engagiert sich in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, unter anderem ist er Mitglied im Zentralbüro der Marokkanischen Menschrechtsorganisation AMDH und Mitglied im Präsidium des „Espace associatif“. In seinem beruflichen Leben ist Aziz Rhali Apotheker. Anja Hoffmann aus dem Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Marokko traf Rhali zum Interview.

Anja Hoffmann: Vielen Dank erst einmal, dass Sie sich zu diesem Interview bereit erklärt haben. Meine erste Frage ist eine sehr offene: Wird auf die marokkanische Zivilgesellschaft Druck ausgeübt? Und wenn ja, woran ist dies erkennbar?

Aziz Rhali: Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sollten wir einen Blick auf die Geschichte der marokkanischen Zivilgesellschaft werfen. Ohne dies lässt sich das Aktionsfeld der Zivilgesellschaft Marokkos schwer verstehen und die Frage auch nicht beantworten. Was kennzeichnet also die Geschichte der marokkanischen Zivilgesellschaft?

Wir können dabei drei Phasen unterscheiden: Die erste umfasst die Mitte der 1980er Jahre, als die so genannten Strukturanpassungen mit dem Plan Hassan II Wirkung zeigten und Vereine entstanden, die die Arbeit des Staates ersetzen sollten. Dies taten in Marokko vor allem Entwicklungshilfeorganisationen.

In der zweiten Phase, zwischen 1993-95 wurde die Übergangsregierung vorbereitet. Gleichzeitig erfolgte eine Öffnung in Richtung Zivilgesellschaft, weshalb damals eine ganze Reihe von Vereinen und Organisationen entstanden.

Phase 3 steht für einen interessanten Zeitraum: In den Jahren 2004 und 2005 wurde die Nationale Initiative für Humane Entwicklung (INDH) sowie viele weitere Organisationen gegründet. In Marokko gibt es derzeit 115.000 Vereine. Verglichen mit Frankreich, wo es 1.300.000 Vereine gibt, erscheinen die 115.000 nicht viel. Doch fast die Hälfte (45 Prozent) aller Vereine wurde 2005 gegründet. Sie stehen also unmittelbar mit dem INDH im Zusammenhang. Diese Vereine wurden vom Staat gegründet, um das Geld der Weltbank zu verwalten, den Projektkontext zu organisieren und einkommensfördernde Maßnahmen zu schaffen.

Fragen wir also, ob die marokkanische Zivilgesellschaft einem Druck ausgesetzt wird, sollten wir uns zuallererst die Frage stellen, von welcher Zivilgesellschaft wir überhaupt sprechen. Meinen wir die Zivilgesellschaft, die vom System selbst im soeben beschriebenen Zusammenhang geschaffen wurde? Wohl nicht, denn da wurde nicht besonders viel auf die Beine gestellt. Dazu kommt ein weiterer Aspekt, nämlich die Art der Organisationen und ihr Aktionsradius. In Marokko sind 42 Prozent aller Organisationen lokal angesiedelt, also kleine Vereine, während die landesweit agierenden Vereine lediglich 8 Prozent ausmachen. Fragen wir also nach Druckmitteln gegenüber marokkanischen Vereinen, können wir sagen, dass Vereine auf Landesebene mit ihrem 8-Prozent-Anteil durchaus staatlichem Druck ausgesetzt sind. Lokale Organisationen hingegen, die die staatlichen Programme ausführen, arbeiten ohne größere Herausforderungen.

Am meisten vom Druck betroffen sind Menschenrechtsorganisationen, also Vereine mit allgemeiner Ausrichtung wie beispielsweise der AMDH, die Marokkanische Menschenrechtsorganisation, und einige Vereine in deren Umfeld sowie all jede, die zu Persönlichkeitsrechten tätig sind. Vor allem das Vereinsumfeld rund um die LSBTTI bekommt in seiner Arbeit staatliche Druckmittel stark zu spüren. Diese Vereine versuchen, ihren Spielraum weiter auszubauen, doch kürzlich haben wir beobachtet, dass selbst die Tätigkeit von Transparency Marokko verboten wurde. Landesweit agierende Organisationen sind starken Repressalien ausgesetzt.

Welcher Art sind diese Druckmittel und wie werden sie eingesetzt?

Die erste Rechtsverletzung besteht im Verbot der Vereinsgründung. Einige Vereine haben bis jetzt noch nicht ihre Gründungspapiere erhalten, sprich: Der Staat erkennt ihre Arbeit nicht an. In diesem Zusammenhang ist sogar ein Netzwerk entstanden, RAVI, das Netzwerk der verbotenen Vereine (Réseau des Associations Victimes d’Interdiction). Dort organisieren sich die betroffenen Vereine. Im Netzwerk finden sich Menschenrechtsorganisationen, Jugendorganisationen der politischen ja selbst der verbotenen Parteien, sowie Gewerkschaften.

Das Verbot bezieht sich zum einen auf die Ausübung der Vereinstätigkeit, die zweite Repressalie besteht darin, Räumelichkeiten zur Durchführung von Vereinsaktivitäten zu verwehren, was einer Behinderung der Vereinstätigkeit gleichkommt. Das geht so weit, dass Hotels keine Räume für Vereinstätigkeiten mehr zur Verfügung stellen, also selbst der Privatsektor macht dabei mit.

Außerdem haben wir es mit sagen wir "chronisch gewordenen Druckmitteln" zu tun, nämlich dem Recht auf öffentlichen Zugang zu den Medien. Und auch hier kann ich von einem Rechtsverstoß sprechen, denn die Zivilgesellschaft gibt es ja. Und genau darin besteht das Paradoxe der marokkanischen Gesellschaft. Sie versucht immer in einem guten Licht dazustehen, doch in Wirklichkeit ist nicht viel dahinter. Sehen wir uns einmal die Verfassung von 2011 an. Darin findet sich ein großer Absatz zur Zivilgesellschaft. Doch die Frage ist, welche Zivilgesellschaft das System überhaupt haben will. Beim Lesen der marokkanischen Verfassung entsteht der Eindruck, dass sich die marokkanische Zivilgesellschaft in einem paradiesischen Zustand befindet, alle Zeit der Welt hat und in die Auswertung und Beobachtung der staatlichen Politik integriert ist. Wenn einer der Vereine also aktiv werden möchte, z.B. Transparency Maroc eine Aktivität zu lokalen Budgets (Bezirkshaushalte) durchführen möchte, bekommt es dafür zunächst keine Räume und dann wird die Aktivität selbst verboten.

Die Zivilgesellschaft ist also weit davon entfernt, die Rolle zu spielen, die ihr verfassungsmäßig zusteht. Vorgestern zum Beispiel, am 20. Juli hat das Verfassungsgericht eine Verordnung in Bezug auf den Artikel 15 oder 16 der Verfassung erlassen, wonach alle Vereine Vorschläge für diese einbringen können, also Gesetzesentwürfe. Das ist erst einmal gut und schön, denn dies befördert die partizipative Demokratie. Als dann das Gesetz verabschiedet wurde, hat es gewissermaßen die Seele der partizipativen Demokratie erstickt. Zum einen war darin festgelegt, dass es 25.000 Unterschriften bedarf, um einen Gesetzentwurf einzubringen zu können. Diese Unterschriften müssen in den Wählerlisten registriert sein. Wenn Menschen also die Wahlen boykottieren, dürfen sie sich an derartigen Aktionen nicht beteiligen. Des Weiteren muss eine Initiative, selbst wenn sie die 25.000 Unterschriften zusammen hat, eine parlamentarische Gruppe zur Unterstützung der Initiative finden. Ohne Unterstützer/innen im Parlament gibt es also keinen Gesetzesentwurf.

Von außen erscheint also ein ansehnliches Bild - dahinter sieht es jedoch ganz anders aus, und die Zivilgesellschaft wird ausgebremst.

Welche Strategien werden von den Akteur/innen der Zivilgesellschaft zur Überwindung dieser Herausforderungen genutzt?

Glücklicherweise gibt es zum einen das Internet. Zahlreiche Organisationen versuchen also teilweise über das Netz zu arbeiten und ihre Aktivitäten darüber zu verbreiten. Zum zweiten sind da auch einige freie Medien mit Journalist/innen, die die Arbeit dieser Akteur/innen verfolgen. Und drittens, wenn wir das Beispiel von AMDH nehmen, die ja am meisten von diesen Repressalien betroffen sind, da wird versucht, Aktivitäten in den eigenen Räumen stattfinden zu lassen. Und da wären wir bei den positiven Aspekten dieser Einschränkungen, wenn wir in diesem Zusammenhang überhaupt von Positivem sprechen können. Glücklicherweise richten diese Organisationen ihren Blick inzwischen auch etwas nach außen, zum Beispiel auf die Menschenrechtsmechanismen der Vereinten Nationen. Die AMDH hat versucht, Kontakt zum dortigen Sonderbeauftragten in Bezug auf das Recht auf Vereinsbildung aufzunehmen. Weitere Menschenrechtsvertreter/innen der Vereinten Nationen wurden zu dieser Fragestellung kontaktiert. Dort kommt es also zu einer Öffnung in Bezug auf diese Mechanismen, zuvor wurden diese nicht genutzt.

Einige Vereine haben aber auch ihre Aktivitäten heruntergefahren, bei anderen wiederum kam es zu leichten Veränderungen ihrer Arbeitsschwerpunkte. Einige Vereine hatten zur Sensibilisierung über Menschenrechte gearbeitet und haben ihren aktuellen Fokus auf Verteidigungsfälle gelegt, wofür sie keine Räume mehr anmieten müssen, die aber trotzdem intellektueller Fähigkeiten bedürfen.

Sie sprachen bereits über Hilfe aus dem Ausland, wie durch die Vereinten Nationen. Wann ist diese Unterstützung Ihrer Ansicht nach hilfreich und wann stellt sie eher ein Hindernis dar?

Die Hilfe aus dem Ausland hat sich verändert: In den 1990er Jahren brauchte die Zivilgesellschaft vor allem finanzielle Unterstützung. Damals ging es zuallererst um die Professionalisierung der Zivilgesellschaft. Viel wichtiger ist jedoch Hilfe in politischer Hinsicht. So sollten beispielsweise die Europäische Union und die Länder, die die Demokratie verteidigen, Druck auf den marokkanischen Staat ausüben, damit dieser die marokkanische Zivilgesellschaft in Ruhe arbeiten lässt.

Seit den 1990er Jahren haben Geldgeber/innen und die Europäische Union große finanzielle Mittel für den Ausbau der Zivilgesellschaft in Marokko zur Verfügung gestellt. Sollen wir nun, nach all dieser bereits geleisteten Arbeit und den erfolgten Investitionen, dem Staat das Feld überlassen, damit dieser der Zivilgesellschaft wieder den Hahn abdreht? Wohl kaum. Da sind der Staat und die Organisationen moralisch in die Pflicht zu nehmen. Sie haben jetzt das Recht, über ihre politische Unterstützung zu sprechen, mehr noch als über die finanzielle oder dergleichen. Die Zeit ist gekommen, dass die marokkanische Zivilgesellschaft die ihr übertragene Rolle vollends erfüllen kann; gerade was auch die brenzligen Fragen angeht, wie die der Demokratie.

Einige Geldgeber/innen oder Staaten knüpfen ihre Hilfe für die Zivilgesellschaft an die Abarbeitung bestimmter Themen, die sich auf deren Tagesordnungen befinden. So verhält es sich mit einigen europäischen Staaten beim Thema Migration, denn Europa ist davon am stärksten betroffen. Diese Staaten bieten verschiedenen Organisationen dort Unterstützung an, wo vor Ort Fragen der Integration subsaharischer Geflüchteter in die marokkanische Gesellschaft bearbeitet werden. Sie arbeiten aber nicht mit den Organisationen zusammen, die vom Freizügigkeitsrecht ausgehen, das besagt, dass jeder Mensch das Recht hat, seinen Lebensort selbst zu bestimmen. Selbst die europäischen Staaten, die sich für die Demokratie einsetzen, nehmen wir immer noch das Beispiel der Europäischen Union, versuchen Marokko in gewisser Weise einzuschränken, auch in Bezug auf das Recht auf Information. Sie sind inmitten der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen, da geht es um jedes Detail. Es läuft die sechste Runde, doch bisher sind noch nicht viele Informationen über die Verhandlungen in Umlauf. Meiner Ansicht nach benötigt die Zivilgesellschaft zumindest diese Informationen, auch über die Ergebnisse dieser Diskussionen, damit sie ihre Rolle frei ausüben kann.

Vielen Dank.

Übersetzt von Anja Reefschläger.

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus unserem Dossier: "Es wird eng – Handlungsspielräume für Zivilgesellschaft".