Boko Haram ist noch immer Teil der Gegenwart

Verwüstung durch  Boko Haram in Maiduguri, der Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Boko und Hochburg der islamistisch-terroristischen Gruppierung Boko Haram
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Um sich gegen die Boko Hama zu verteidigen, sind einige junge Leute mit dem ausgestattet, was sie gerade zur Verfügung haben. Somit bewaffnet und manchmal unter Drogen gesetzt, sind sie zivile Milizen, die auf den Straßen und in den Nachbarschaften Kontrollposten stellen

Außenminister Steinmeier in Nigeria, der nigerianische Präsident Buhari in Deutschland: Anfang Oktober drehte sich das Karussell der deutschen Afrikapolitik um die sogenannten Fluchtursachen in Westafrika, insbesondere Nigeria. Dabei ist die Flüchtlingskrise innerhalb des Landes weitaus größer als zwischen Nigeria und Europa: mehr als zwei Millionen Menschen sind auf Grund des Terrorkrieges von Boko Haram intern vertrieben. Mausi Segun, Leiterin von Human Rights Watch in Nigeria, warnt im Interview mit der HBS vor einer weiteren Eskalation des Konflikts -  trotz der Erfolgsbekundungen der nigerianischen Regierung im Kampf gegen Boko Haram.

Mausi Segun: Allein wegen der Anzahl der Betroffenen müssen wir den Konflikt mit Boko Haram in die höchste globale Kategorie der Flüchtlingskrisen einstufen. Es geht nicht um das ganze Land Nigeria, aber der Konflikt im Nordosten reicht bis in die Nachbarländer hinein. Flüchtlingsströme bewegen sich zwischen Nigeria, Niger, Chad und Kamerun. Boko Haram und die Taktik der „verbrannten Erde“ – der Zerstörung von allem, was einem Gegner dienlich sein könnte, Anm. d. Redaktion - der Armeen dieser Länder zwingen viele Menschen in die Flucht und in die Flüchtlingscamps. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Hungertod auch sie bedrohen wird.  

Wie sieht die in den internationalen Medien zitierte Hungersnot vor Ort aus?

Die Hungersnot im Nordosten ist gravierend. Ich traf eine Mutter mit ihren vier Kindern in einem Camp für intern Vertriebene, die ihre Schüssel Mais nach vier Tagen geleert hatte und nicht wusste, wann die nächste Schüssel kommen würde – vielleicht am nächsten Tag, vielleicht auch in der nächsten Woche. Schlimmer sind die Alleinstehenden dran, denn sie bekommen eine kleinere Ration. Die Waisenkinder, die ohne Erwachsene sind, bekommen oft gar nichts - weil man jemanden kennen muss, um das Ticket für die Nahrungsausgabe zu bekommen. Die Regierung ist erst kürzlich dazu übergegangen, die Nahrungsmittel nicht an Familien und Gemeinden, sondern an individuelle intern Vertriebene auszuhändigen.

Die VN-Organisationen sprechen von circa 65,000 Menschen, die in Gefahr sind, an Hunger zu sterben. Es könnten noch mehr sein. Wo soll man die Grenze ziehen? Denn Menschen, die nicht an Hunger sterben, schaffen es vielleicht gerade noch, zu überleben. Es sind nicht nur die Binnenflüchtlinge, sondern eben auch die aufnehmenden Gemeinden, Dörfer und Familien, die ihr Weniges mit den Flüchtlingen teilen und sich dadurch der Hungergefahr aussetzen. Nigeria braucht viel mehr Kapazitäten, um ein Problem dieser Größe zu bewältigen.

Was unternimmt die nigerianische Regierung?

Die nigerianische Regierung spielt die Krise bewusst herunter, weil sie vor Ort keine Beobachter haben möchte, die herausfinden, was wirklich los ist. Der Konflikt ist nicht zu Ende. Wenn auch die Intensität des Konfliktes nachgelassen hat, greift Boko Haram weiterhin an und kontrolliert auch noch Gebiete, besonders im Norden des Bundesland Borno.

Es ist kein politischer Wille vorhanden, wirklich mit der humanitären Krise umzugehen und sie zu lösen. Schauen Sie sich die Reaktion der Regierung auf die Sicherheitslage in Maiduguri (Hauptstadt des Bundeslandes Borno, Anm. d. Red.) an: seit einem Jahr sind die intern Vertriebenen hier förmlich in den umzäunten Camps eingeschlossen – wie in einem Gefängnis. Ihre Bewegungsfreiheit ist beschränkt, sie dürfen die Camps oft nicht verlassen und andere Leute werden nicht hineingelassen. Durch das „Wegschließen“ der Flüchtlinge soll sich für den Rest der Stadt ein Bild des Friedens und der Normalität ergeben. Das Narrativ der Regierung ist, dass der Konflikt eigentlich beendet ist – aber für viele Menschen ist das nicht so. Sie sind weiterhin und kontinuierlich den Angriffen von Boko Haram ausgesetzt.

Die Geschwindigkeit, mit der die Regierung versucht, Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten wieder „nach Hause“ abzuschieben, steht nicht im Einklang mit den militärischen Vorbereitungen für ihre Heimkehr. Denn manchmal existieren ihre Dörfer gar nicht mehr. Ironischerweise evakuiert das Militär ganze Dörfer und Gemeinden, um es Boko Haram Kämpfern unmöglich zu machen, sich zu verstecken und von dort Angriffe auszuüben. Human Rights Watch untersucht gerade Anschuldigungen, dass die Armee in den von ihnen zurück eroberten Dörfern absichtlich Häuser zerstöre und in Brand setze. Bei den Erfolgsmeldungen der Armee im Fernsehen sieht man dann oft Feuer im Hintergrund, während der Sprecher erklärt, die Gegend sei von Boko Haram befreit worden. Ich würde nur zu gerne die Gründe für diese Strategie der „verbrannten Erde“ kennen: Nicht nur wird dadurch der Wiederaufbau verzögert und verteuert. Falls sich die Anschuldigungen bestätigen, könnten solche Vorkommnisse auch als Kriegsverbrechen eingestuft werden.

Immerhin hat sich die Situation in der Stadt Bama etwas verbessert, seit Ärzte ohne Grenzen  im April diesen Jahres die dortige Hungersnot publik machte und den humanitären Hilfsaktionen durch das Militär der Zugang zu Bama ermöglicht wurde. Auch verhalf die Armee humanitären Organisationen beim Zugang zu einem weiteren vom Hunger bedrohten Dorf im hohen Norden vom Bundesland Borno, Dikwa.

Aber was passiert außerhalb dieser Städte - da wo das Militär die Leute evakuiert hat, um sie in sogenannten temporary satellite centers anzusiedeln? Wer hat hier Zugang? Wer identifiziert die Bedürfnisse der Menschen hier? Ein Bericht von den Vereinten Nationen (VN) und der von ihnen finanzierten und koordinierten Borno Protection Sector Working Group vom April 2016 prangerte nicht nur die humanitären Mängel, sondern auch die Menschenrechtssituation in den nördlichen Bundesländern an. Dieser Krisenlage kann man nicht allein mit Geld begegnen.

Die Mehrzahl der Flüchtlinge befindet sich nicht in den Camps…

Es befinden sich nur acht bis zwölf Prozent der Flüchtlinge in den Camps. Das größere Problem besteht in den Gemeinden und Dörfern, die die fast zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben, die nicht in den Camps leben. Sie wissen oft nichts von humanitären Hilfsaktionen und die Hilfsorganisationen wissen nichts von den Flüchtlingen. Es gibt anscheinend kein Mapping, keine zentrale Erfassung. Der Mangel an Koordinierung beeinträchtigt das Erreichen von Flüchtlingen außerhalb der Camps in gravierender Weise.

Welche Art von Koordinierung braucht es?

Es arbeiten eine Menge Akteure in der Region: Geberorganisationen, nigerianische Regierung, internationale humanitäre Hilfsorganisationen und auch die VN, aber es kommt sehr wenig bei den Opfern der Krise an, besonders in den Aufnahmegemeinden.

Die Nahrungsmittelknappheit in den Camps ist fürchterlich, die Menschen haben nichts. Gleichzeitig wird berichtet, dass die Vorratslager der Nothilfeagentur des Bundesstaates Borno, die für die Verteilung der Nothilfsgüter zuständig ist, bis zum Dach mit Reis, Getreide und sogar Bettdecken und Hygieneartikeln gefüllt seien. Anderen Berichten zufolge kam es zum Verkauf eben dieser Hilfsgüter auf den lokalen Märkten. Solange die Regierung diese Situation nicht unter Kontrolle hat, sollten Gelder nicht über Regierungskanäle abgewickelt werden, sondern über andere Hilfsorganisationen, die direkt mit den Flüchtlingen arbeiten. UNICEF (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen) und der UNFPA (Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen) sind vor Ort und arbeiten mit lokalen Mitarbeiter/innen, aber auch hier fehlen noch Gelder. Ich war in einem IDP-Camp in Maiduguri und traf dort eine UNFPA-Krankenschwester, die in einer neu gebauten Krankenstation ohne jegliche Medizin oder Materialien arbeiten sollte. Für eine akut kranke Frau mussten wir jemanden in die Stadt schicken, um Medizin zu kaufen, mit unserem eigenen Geld.

Internationale Geber und Regierungen, die Gelder für die Nothilfe anbieten, sollten auf einem effektiven Monitoringsystem bestehen. Die Gelder müssten ausschließlich an solche Organisationen gegeben werden, die wirklich vor Ort arbeiten. Dazu gehören nationale und internationale, wie z.B. die VN, das Rote Kreuz und nigerianische NROs. Seit dem Protest der Flüchtlinge über die mangelnden Hilfsgüter in Camps für intern Vertriebene im August hat die nationale Nothilfe-Agentur NEMA („National Emergency Management Agency“) beschlossen, Nahrungsmittel und andere Materialien nicht mehr über die Landesregierung von Borno weiterzuleiten, sondern direkt an die Flüchtlinge auszuteilen. Dies ist Zeichen des Versagens der Länderregierung.

Ist die Freilassung von 21 Chibok Mädchen eine gute Nachricht?

Natürlich! Und diese positive Entwicklung lässt auch die Hoffnung der Familien von allen anderen Mädchen, die weiterhin in Boko Haram Gefangenschaft sind, wiederaufleben. Andererseits – und ich möchte dies vorsichtig formulieren, was nicht leichtfällt – die Regierung beteuert, es habe für die Freilassung der 21 Chibok Mädchen keine Gegenleistung gegeben. Das kann aber nicht die ganze Wahrheit sein, denn Leute vor Ort bestätigen, dass mindestens vier hochrangige Boko Haram Kämpfer im Gegenzug freigelassen worden sind. So sehr wir alle möchten, dass alle Chibok Mädchen und die weiteren Hunderte von Mädchen und Frauen, die von Boko Haram entführt worden sind, freigelassen werden, müssen wir doch fragen: zu welchem Preis? Wenn diese vier Kämpfer als Gegenwert zu den Mädchen freigelassen worden sind, werden sie sich sicherlich nicht dem „Deradikalisierungs-Programm für Überläufer“ von Boko Haram unterziehen. Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach wieder kämpfen und den Konflikt weiter schüren. Wie kann die Regierung das Leben von 21 Chibok Mädchen auf die eine Waagschale legen, und zukünftige Opfer auf die andere? Sie hat eine Entscheidung getroffen, die zum jetzigen Zeitpunkt ihr Image ins positive Licht rückt.

Wie schätzen Sie die Zusammenstöße zwischen der Shiiten Gruppe Islamic Movement of Nigeria (IMN) und Ordnungskräften/Teilen der Zivilbevölkerung in einigen Städten Nordnigerias ein?

Das Verhalten gegenüber den Shiiten ist ein Zeichen der wachsenden Intoleranz in Nigeria. Wir haben das schon bei den Reaktionen der Regierung auf die Biafra Demonstranten im Südosten des Landes gesehen und im Dezember 2015 bei den anfänglichen Zusammenstößen zwischen der Armee und dem Islamic Movement of Nigeria, der Dachorganisation der Schiiten in Nigeria, bei denen 347 Mitglieder des IMN und ein Soldat getötet wurden. Seitdem stehen fast 200 IMN Mitglieder wegen des Todes des Soldaten vor Gericht, während für das Sterben der IMN Mitglieder niemand vor Gericht steht. Laut  der gerichtlichen Untersuchungskommission, die von der Regierung des Bundesstaates Kaduna ins Leben gerufen worden war, haben die Shiiten den Tod ihrer Mitglieder selbst verursacht. Der Anführer sitzt seit den Zusammenstößen im Dezember 2015 in Haft, ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren. Anfang Oktober – gerade vor dem jährlichen Fest der Shiiten – wurde die IMN in Kaduna verboten. Dies lässt sich jedoch mit der Verfassung Nigerias, die Religionsfreiheit verspricht, nicht in Einklang bringen.

Zum Zeitpunkt des religiösen Festes Mitte Oktober gab es in mehreren Bundesländern Zusammenstöße, nachdem die dortigen Landesregierungen zwar nicht die Organisation der Shiiten, wohl aber deren religiöse Prozessionen verboten hatte. Es sieht so aus, als würden die Länderregierungen auf der populistischen Welle der Intoleranz der mehrheitlich sunnitischen Muslime Nordnigerias gegen die Minderheit der Shiiten reiten. Damit wird riskiert, diese Gruppe in den Untergrund und in die Radikalisierung zu treiben. Hierbei muss man bedenken, dass einer der Faktoren, der die anfängliche Rekrutierung von Boko Haram vorantrieb, der Groll der Anhänger und ihr Gefühl war, ungerecht behandelt worden zu sein von einer Regierung, die mit harter Hand und Waffengewalt gegen sie vorging. Der damalige Anführer Mohammed Yusuf wurde 2009 zusammen mit Hunderten von Anhängern in Polizeigewahrsam getötet. Ich hoffe, dass auch die deutsche Regierung Präsident Buhari dazu bewegt, zu verstehen, dass die gewaltsame Niederschlagung von Protesten und Andersdenkenden nicht funktioniert. Es ist an der Zeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Boko Haram gehört noch nicht der Vergangenheit an, sondern ist Teil der Gegenwart!

Das Interview führte Christne K, Büroleiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Nigeria, Abuja.