"Menschen haben plötzlich Macht verspürt"

Kommentar

2019 gab es in Russland zahlreiche Protestinitiativen von Bürgern. Viele von ihnen hatten in begrenztem Umfang Erfolg und fanden Unterstützung in der Gesellschaft. Wie wirkte sich diese Erfahrung auf die russische Protestbewegung aus? Wie reagiert der Staat darauf? Einige Akteur/innen und Beobachter/innen der Proteste diskutierten darüber bei einer Konferenz, die die Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit Solidarus e.V. in Berlin organisierte.

«Menschen haben plötzlich Macht verspürt»: Zwei Zivilisten kauern an einer Hauswand, rechts von ihnen stehen Polizisten in Kampfmontur.

Lada Zazykina hat zwei Leben. In ihrem ersten Leben ist sie Redakteurin bei einem Verlag, in zweiten aber ist sie Aktivistin. Sie kämpft gegen den Bau einer Müll-Deponie an der Bahnstation Schies in der Nähe des nordrussischen Archangelsk. Lada Zazykina wohnt dort mit ihrer Familie und ist darüber empört, dass man hinter dem Rücken der Einheimischen eine Deponie für den Abfall aus dem weit entfernten Moskau baut.

 "Wir stehen für unser Land"

Lada hat früher nie an Protesten teilgenommen. Schies ist für sie und für viele andere Einwohner/innen zu einem Wendepunkt geworden. Sie begannen, sich zur Wehr zu setzen, und wurden wegen ihrer ständigen Proteste unter Druck gesetzt. Gegen die Umweltaktivisten wurden Straf- und Verwaltungsverfahren eingeleitet, einige verloren ihre Arbeit, andere erhielten Drohungen, dass man ihnen ihre Kinder wegnehme. Aber je mehr Druck ausgeübt worden sei, desto mehr Menschen hätten sich dem Protest angeschlossen, erzählt Zazykina. Schließlich wurde ein Zwischenerfolg erreicht: seit einiger Zeit sind die Bauarbeiten angehalten.

Die Leute von Schies seien fest entschlossen, ihren Kampf weiterzuführen, sagt Lada Zazykina: sie fordern, dass der Bau komplett gestoppt wird. Rund um die Uhr halten die Aktivisten weiterhin Wache neben der Baustelle und protestieren parallel im Zentrum von Archangelsk. "Wir stehen für unser Land, wir wollen die Erde für unsere Kinder retten. Schies gehört uns, und wir geben nicht auf", so Lada Zazykina.

Erfolge in Moskau und Jekaterinburg

Viele Protestbewegungen in Russland 2019, die als Reaktion auf das Vorgehen der russischen Behörden ihren Anfang nahmen, erzielten Erfolge: Der Investigativjournalist Iwan Golunow, fälschlich des Drogenhandels beschuldigt, wurde nach Protesten und Solidaritätsaktionen aus dem Gefängnis entlassen. In Jekaterinburg am Ural wollte die Russisch-Orthodoxe Kirche eine neue Kirche in einem öffentlichen Park im Zentrum der Stadt errichten. Nach heftigen Protesten der Einwohner musste die Kirche ihre Pläne aufgeben. Der Park bleibt unberührt.

Im Sommer 2019 gab es in Moskau zahlreiche Protestaktionen gegen die Nichtzulassung von Kandidaten zu den Kommunalwahlen. Zehntausende Menschen gingen für das Recht auf faire Wahlen auf die Straße mit der Forderung: "Lasst sie zu!". Zwar blieb diese Forderung unerfüllt, doch wurden durch die Proteste viele mobilisiert, sich am "intelligenten Wählen" zu beteiligen und durch bewusste Wahlentscheidung die Regierungspartei zu schwächen. Das Ergebnis war bemerkenswert: 20 von 45 Sitzen im Moskauer Stadtparlament gingen an unabhängige oder oppositionelle Kandidaten.

Der 21-jährige Student Ilya Lvov hat in Moskau das Projekt "Raum Politik" ins Leben gerufen: junge Menschen treffen sich, um politische Ereignisse zu diskutieren. Lvov hat an den Aktionen zur Unterstützung von Golunow und an den Protesten wegen der Wahlen in Moskau teilgenommen. "Zuerst hat es Spaß gemacht, es war wirklich cool. Aber nach den Verhaftungen sind die Menschen wütend geworden", so Ilya Lvov. Allein bei der Protestaktion am 27. Juli wurden in Moskau 1373 Menschen festgenommen, das war eine Rekordzahl.

Alle festgenommenen Teilnehmer wurden von Anwälten und Mitarbeiter/innen von OVD-Info unterstützt. Diese Organisation wurde 2012 von jungen Aktivist/innen und Menschenrechtler/innen gegründet und dokumentiert seither landesweit politisch motivierte Verhaftungen. Im Sommer 2019 haben sich besonders viele Anwälte und Freiwillige OVD-Info angeschlossen. Nach den Protesten habe die Organisation rund 200 Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, so die Juristin von OVD-Info Ekaterina Selezneva. Während gegen die meisten Protestierenden nur Ordnungsstrafen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht verhängt wurden, wurde gegen einige Demonstranten ein Strafverfahren eingeleitet. Koordinierter öffentlicher Druck führte zur Freilassung von 20 von 31 Verhafteten. "Das ist unser Erfolg. Menschen haben Macht verspürt", sagt Alexandra Krylenkowa aus dem Projekt "Arrestanten des Verfahrens 212".

Wunsch nach Gerechtigkeit

"Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich im Vergleich zu 2011-2012 geändert. Alle Aktionen der letzten Monate - die Proteste in Shies, Jekaterinburg, Moskau - haben starke Unterstützung in der Gesellschaft gefunden. Und das nicht nur da, wo sie stattgefunden haben. Anders als noch 2011/12, gelten repressive Maßnahmen in der Gesellschaft heute als illegitim", so Grigory Yudin, Soziologe und Professor an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die Menschen fordern kommunale Selbstverwaltung und Dezentralisierung, sie protestieren gegen die Ungleichheit, sagt der Soziologe.

"Ungerechtigkeit" sei in letzter Zeit das am meisten verwendete Wort, so Alexandra Krylenkowa. Die Solidarität in der russischen Gesellschaft wachse, während der staatliche Druck noch zunimmt. "Die häufigste Strafe für die Teilnahme an Protesten ist eine Geldstrafe. Im Jahr 2012 betrug die durchschnittliche Geldstrafe 600-700 Rubel (10 Euro). Man konnte es sich durchaus leisten, auf die Straße zu gehen. Im Jahr 2018 stieg dieser Betrag auf 17 Tausend Rubel (ca. 250 Euro). Für Moskauer Verhältnisse ist dies eine ziemlich beträchtliche Summe, von den Regionen ganz zu schweigen", so die Analystin von OVD-Info Ekaterina Borovikova.

"In Russland interessieren sich die Menschen kaum für Politik. Laut Umfragen glauben die meisten Russen, dass sie die Situation im Land nicht beeinflussen können. Auf die Frage «Magst du Putin?» antworten Russen weder mit «Ja» noch mit «Nein», sondern mit «Lass mich in Ruhe». Eine klare Agenda gebe es auch derzeit nicht. Doch die allgemeine Unzufriedenheit und der Überdruss an den herrschenden Eliten nimmt zu", sagt Yudin. Es entstünden immer mehr Bürgerinitiativen. “Diese Entwicklung wird die nahe Zukunft bestimmen“, so der Soziologe.