"Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört"

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Fischer in Dakar: Etwa 600.000 Menschen verdienen in Senegal ihren Lebensunterhalt in diesem Sektor

Der Großteil der Fluchtursachen liegt nicht in den Ländern des Südens, sondern in Europa: Wegen Überfischung und Landgrabbing sehen immer mehr Menschen im Senegal keine Perspektive mehr und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand.

Verfolgt man die aktuelle Diskussion um Flucht und Migration, vor allem aus Afrika, bekommt man schnell den Eindruck, alle Migrationswege weltweit führten nach Europa. Das immer wieder bemühte Bild von „Flüchtlingsströmen“, die Europa zu „überschwemmen“ drohen, ist jedoch ein Zerrbild. Der Großteil weltweiter Migration findet innerhalb der Herkunftsländer der Flüchtenden beziehungsweise Migrant/innen statt oder hat die Nachbarländer als Ziel.

Die Aufrufe deutscher und europäischer Politiker, die Ursachen von Migration und Flucht zu bekämpfen, verschweigen einen entscheidenden Aspekt: Ein Großteil dieser Ursachen ist nicht in den Ländern des Globalen Südens zu finden, sondern in Europa. „Es ist nicht einfach, hier zu bleiben und nichts zu tun zu haben. Also habe ich Verantwortung übernommen und bin [mit dem Boot] aufgebrochen. Aber ich bin nicht gegangen, um zu sterben, sondern um erfolgreich zu sein“, erzählte mir Mamadou 2009 auf die Frage, warum er sein Glück mit der Bootsmigration auf die Kanaren versucht hatte.

Um zu verstehen, warum vor allem junge Menschen keine Perspektive im Senegal sehen und emigrieren, muss man sich in Fischerei und Landwirtschaft umschauen. Die Fischerei spielt für die Wirtschaft und Ernährungssicherheit des Senegal eine bedeutende Rolle. Zirka 600.000 Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt in diesem Sektor, gleichzeitig hat er mit illegaler Überfischung durch ausländische Flotten und mit senegalesischen Fischern zu kämpfen, die nicht zugelassen sind. Nach dem Regierungswechsel 2012 löste der neue Präsident Macky Sall zunächst sein Wahlversprechen ein und hob internationale Fischereiabkommen auf, die zu Überfischung geführt hatten.

Landnahme in großem Stil durch ausländische Investoren

Im Mai 2014 jedoch schlossen Senegals Regierung und die Europäische Union ein Fischereiabkommen, das diese Schritte des Präsidenten wieder zunichtemachte und von den senegalesischen Fischern massiv kritisiert wurde. Die EU hat sich in diesem Abkommen verpflichtet, innerhalb von fünf Jahren 15 Millionen Euro an den Senegal zu zahlen, und bekommt dafür die Rechte, 14.000 Tonnen Thunfisch pro Jahr vor der senegalesischen Küste zu fischen.

Adama Lam, Vizepräsident des Groupement des Armateurs et Industriels de la Pêche au Sénégal (GAIPS), greift diese Vereinbarung scharf an: „Die Senegalesen, die sich auf Thunfischfischerei spezialisieren möchten, bekommen keine Genehmigung, während wir eben diese Genehmigungen den europäischen Fischereiflotten erteilen. Wir verscherbeln unsere Ressourcen und erlauben die Rekolonisierung durch Europa in diesem [Fischerei-]Sektor.“ Bezeichnend ist, dass zum ersten Mal seit 1980 die senegalesischen Fischereiverbände nicht in die Verhandlungen einbezogen wurden.

Ein weiteres Problem, das die Wirtschaft und vor allem die Ernährungssouveränität der Senegalesinnen und Senegalesen massiv beeinflusst und so in Zukunft vor allem interne Migrationsbewegungen auslösen könnte, ist „Landgrabbing“, Landnahme im großen Stil durch ausländische Investoren. Verlässliche Zahlen, wie viele Hektar Land bereits zum Anbau von Biokraftstoffen, Reis, Erdnüssen oder anderen Lebensmitteln für den Export nach China oder Saudi-Arabien an ausländische Investoren vergeben sind, liegen derzeit nicht vor. Die Nichtregierungsorganisation ENDA Tiers Monde und andere wehren sich jedoch mit dem Slogan „Touchez pas ma terre, c’est ma terre.“ (dt. „Fasst mein Land nicht an, das ist mein Land.“) gegen den Ausverkauf ihres Landes.

Dieser aktuelle Kontext senegalesischer Migration muss auch vor der langen Migrationsgeschichte des Senegal und der Region gesehen werden. Erst wenn man sie vor Augen hat, versteht man, warum Menschen dort oft eher eine Perspektive im Ausland als im Senegal sehen. Das Land ist, wie die gesamte Region Westafrika, seit jeher von Mobilität und Migration durch Arbeit, Handel und familiäre und soziale Bindungen jenseits nationaler Grenzen geprägt.

Vor allem die Migration nach Europa wurde zum Inbegriff des Erfolgs. Da die Einreise in die EU immer schwieriger wurde, ergriffen ab 2005 vor allem junge Männer ihre Chance, mit Pirogen, den senegalesischen Holzfischerbooten, die Kanarischen Inseln zu erreichen. Zuvor war der europäische Grenzschutz immer weiter ausgebaut und damit der Landweg von Westafrika über Marokko und die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla erheblich erschwert worden. So entstanden alternative Migrationswege über das Mittelmeer.

Migration als Protest gegen neokoloniale Ausbeutung

Bei der Migration aus dem Senegal, egal ob auf legalen oder illegalisierten Wegen, handelt es sich also auch aus der Geschichte des Landes heraus nicht um Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen oder anderen akuten Katastrophen. Betrachtet man die gesamte westafrikanische Region, ist Senegal seit der Unabhängigkeit ein politisch stabiles Land, das stolz auf seine demokratische Tradition ist.

Die demografische Entwicklung mit einer vorwiegend jungen Bevölkerung, fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven und zu wenigen Arbeitsplätzen birgt jedoch genug Spannungspotenzial – das sich immer wieder Ventile sucht wie 2006 in der riskanten Bootsmigration oder der Protestbewegung beim friedlichen Regierungswechsel 2012 gegen ein drittes Mandat des damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade. Vor diesem Hintergrund können Überfischung oder Landgrabbing das Fass zum Überlaufen bringen und zu Migration führen.

„Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ – dieser Slogan der Flüchtlingsorganisationen Karawane und The Voice in Deutschland und die Proteste der Geflüchteten zeigen deutlich, wovor die Menschen aus dem Senegal fliehen: fortbestehende Ausbeutung durch neokoloniale Strukturen wie Überfischung oder Ausrichtung der Landwirtschaft auf den Export statt auf Ernährungssouveränität im Land. Die Anthropologin Jayne O. Ifekwunigwe betont die Eigeninitiative der senegalesischen Migranten und sieht Migration als Protestform. Anstatt tatenlos im Senegal zu bleiben, wo sie keine Perspektive sehen, werden die Migranten aktiv und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand.

Ein Beitrag aus dem Böll.Thema 3/2014 "Niemand flieht ohne Grund".