Christa Wolf über Heinrich Böll: "Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest"

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Christa Wolf bei ihrer Festrede auf der Matinee zum 80. Geburtstag Heinrich Bölls. 7. Dezember 1997, Berlin.
Bild: Karsten Knigge.

 

2. Dezember 2011
Christa Wolf

Eine mutige Stimme, die furchtlos Tabus verletzt – wo hören wir sie heute noch? Die Schriftstellerin Christa Wolf über Heinrich Böll.

Heinrich Böll hatte keine Scheu vor altmodischen Wörtern. Er hätte wohl Wörter wie »redlich«, »rechtschaffen«, »unbestechlich“ nicht zurückgewiesen, die mir in den Sinn kamen, nachdem ich seine letzten Arbeiten in dem Band »Die Fähigkeit zu trauern« gelesen hatte. Er, der achtungsvoll von seinem Vater, dem Tischler, sprach, würde es nicht als Geringschätzung auffassen, mit Eigenschaftswörtern belegt zu werden, die in alten Zeiten zur Kennzeichnung ehrbarer deutscher Handwerker dienten; auch ein Wort wie »anständig“ würde er, glaube ich, nicht als Beleidigung empfinden, obwohl oder gerade weil es inzwischen aus dem sogenannten »öffentlichen Diskurs« verschwunden ist, eliminiert, ausgemerzt wurde, durch ein sehr wirksames Mittel: Man machte es lächerlich.

Heinrich Böll hatte etwas übrig für fallengelassene Worte, für Abfall überhaupt, für die abfällig Behandelten, für fallengelassene Menschen. Für gefallene Soldaten, denen er, weil er es schlimmer weiß, das euphemistische Beiwort »gefallen« allerdings entzieht (»fallen, Erika, das ist schreien und fluchen, manchmal auch beten«), auch für gefallene Mädchen hatte er etwas übrig. Sie alle lebten und leben, wie er schrieb: »Vom Rand der Gesellschaft her« – wohin nach schwer durchschaubaren Gesetzen der Abfall abgedrängt, abgeschoben, entsorgt wird: Was für Assoziationen solche Wörter heute hervortreiben! Wo der Abfall aber auch genau geprüft und, wenn noch brauchbar, nicht weggeworfen, sondern aufgehoben, benutzt, weiter- und wiederverwertet wird. Die Generation, der Heinrich Böll angehörte, war erfahren in Abfallverwertung; auch wir, meine Altersgenossen, sind es noch: trockenes Brot können wir nicht wegwerfen.

Hat eigentlich irgendein anderer Schriftsteller mit dem Wort »Brot« so viel anfangen können wie Böll? Aus seinen frühen Erzählungen schlägt es einem entgegen: Brot!, der Heißhunger, der die Menschen im Nachkriegsköln zur Brotbeschaffung treibt, um jeden Preis, die Art und Weise, dieses Brot dann zu essen, es zu brechen, als eine beinahe heilige Handlung, als Sakrament. Und, in seltenen, genau beschriebenen Fällen, es zu teilen. Brot als Maßstab für Moral, der war hart und untrüglich, und ob es der allerschlechteste war – ich bezweifle es. Als Maß für Anstand – von diesem Wort ging ich ja aus.

Dann fing ein anderes Maß an zu gelten, setzte sich immer mehr durch, Böll hat es mit seismographischer Empfindlichkeit registriert: »Hast du was, dann bist du was«, 1961, nachdem er dieses Schlagwort in einer populären Fernsehsendung zum erstenmal gehört hatte, verfolgte er es mit detektivischem Spürsinn in Zeitungen, Zeitschriften hinein, in öffentliche Verlautbarungen aller Art, hat es nackt angetroffen und in seinen vielfältigen Verkleidungen entlarvt, und schließlich ist es ihm, zu seiner Bestürzung, selbst in der Heiligen Messe begegnet, im Fastenbrief des Kölner Erzbischofs, der die Gläubigen doch tatsächlich auffordert, »durch Erwerb von Anteileigentum, … durch Beteiligung am Investmenttrust und ähnliches Eigentum zu erwerben«. Eine solche »breite Eigentumsstreuung«, zitiert Heinrich Böll einigermaßen fassungslos den »Oberhirten, der wohl wissen muß, was er tut«, »würde … die Arbeiterschaft und überhaupt die minderbemittelten Volkskreise gesellschaftlich heben und in das Volksganze eingliedern«. Wie? Man müsse also Arbeiter und überhaupt Minderbemittelte ins Volksganze eingliedern über Besitz? fragt Böll sarkastisch. Armut gelte also nichts mehr, der Arme sei ausgegliedert? Solle man also dem Franz von Assisi, der »mit der Armut vermählt war«, vielleicht ein »posthum entdecktes Aktienpaket in den Nachlaß schmuggeln«?

Warum eigentlich nicht. Heute, sechsunddreißig Jahre später, wird kaum noch jemand die Empörung dieses Autors verstehen, der sich sowieso dadurch unbeliebt machte, daß er immer alles wörtlich nehmen mußte. Heute haben auch die Leute in den neuen Bundesländern die Worte »Anteilseigner“ und »Investmenttrust« zumindest schon gehört, ich kann mir satirische Anmerkungen des Zeitkritikers Böll dazu vorstellen. 1961 schrieb er bitter: »Überlassen wir die heute lebenden Habenichtse, die keine Aussicht haben, kanonisiert zu werden, getrost den Kommunisten« – die hat er aber, da, wo sie an der Macht waren (ob sie sich da noch zu Recht »Kommunisten« nannten, sei hier ausgeklammert), durchaus nicht als angemessene Begleiter für in Armut geratene Schichten der Bevölkerung gesehen: Er hat auch sie mit seinem kritischen Urteil nicht verschont. In seinem frühen Aufsatz über Karl Marx schreibt er: »Wie in der westlichen Welt … Verbrauch das neue Opium ist (des Opiums scheint man irgendwie zu bedürfen, um das, was Marx anstrebte, Bewußtsein, zu verhüten), so ist in der östlichen Welt der ›Marxismus‹ selbst zum Opium geworden.« Immer wieder allerdings wendet er sich gegen den »platten Antikommunismus“, der es erreicht hat, daß bis in unsere Zeit hinein das Wort »Kommunist« bei vielen Westdeutschen Horrorvisionen auslöst. Leidenschaftlich polemisiert er in den achtziger Jahren, während der Raketendebatte, als endlich in West und Ost Friedensbewegungen entstanden, gegen den »mörderischen Slogan«: Lieber tot als rot.

Ja, schwer widerstehe ich der Versuchung, diesen Vortrag als eine Collage von Böll-Zitaten anzulegen, die, chronologisch gelesen, lückenlos belegen würden, welche Widersprüche in seiner Gesellschaft einen linken Demokraten wie Heinrich Böll auf den Plan rufen und ihn Jahr für Jahr polemisieren lassen – gegen die Etablierung der altneuen Machtverhältnisse, gegen restaurative Tendenzen, die Aushöhlung des Freiheitsbegriffs. Eine mutige Stimme, die furchtlos Tabus verletzt – wo hören wir sie heute noch?

Auf meinem Schreibtisch liegt der Zeitungsstapel mit den mehr oder weniger hämischen Kommentaren, den mehr oder weniger selbstgefälligen Vorbehalten und Angriffen auf die Rede, die Günter Grass jüngst in der Paulskirche hielt, und, ich traue meinen Augen nicht: Bei Böll finde ich einen Leserbrief an den »Spiegel«, im Mai 1984 publiziert, in dem er Grass gegen die Verunglimpfung durch einen »Spiegel«-Redakteur verteidigt: »Nur weiter so: Schießt sie alle ab, einzeln oder reihenweise, diese publicitysüchtigen Intellektuellen, die sich da noch – keine Anführungszeichen bitte! engagieren: für Nicaragua, gegen die Wende, für Polen, die Dissidenten in allen Weltgegenden, gegen den neuerlichen Wendestaatsstreich, der da heißt: Amnestiegesetz. Nur weiter so: alle abschießen, dann haben die Wendegeschütze endlich freies Schußfeld … «

Wie schade, daß niemand in den letzten Wochen auf die Idee gekommen ist, diesen Text als neuen Beitrag in die Debatte zu werfen – bis in die Wortwahl hinein hätte er ja hochaktuell gewirkt. Nur daß 1984 von einer anderen »Wende« die Rede ist als von der letzten, 1989 – wir im Osten, in unsere eigenen Probleme verwickelt, haben nicht genug begriffen, ein wie tiefer Einschnitt die politische Wende Anfang der achtziger Jahre für viele Intellektuelle in der Bundesrepublik war. Die Versteinerungen, in denen die östlichen Systeme steckten, schienen unauflösbar. Wir haben uns wohl gegenseitig kaum in die Situation der je anderen versetzen können. Die Folgen dieser Unkenntnis und Fremdheit wirken lange nach. Während ich mich durch Heinrich Bölls Schriften an der westdeutschen Zeit, an der Geschichte meiner Kolleginnen und Kollegen in Westdeutschland entlanglese, spüre ich, wie von dieser Entfremdung wieder etwas wegschmilzt.

Selbstverständlich kann und will ich mich nicht nachträglich an Heinrich Bölls Kritik, an sein Leiden an seiner politischen Wirklichkeit anhängen, und wie unangebracht jeder Hauch von Selbstgerechtigkeit wäre, ist mir wohl bewußt. Aber ich kann einfach nicht die Augen davor verschließen, wieviel von dem, was er vor langer Zeit kritisch, zornig, beschwörend geschrieben hat, heute noch oder heute wieder gültig ist wie am ersten Tag. Ich würde es kaum glauben, wenn ich es nicht schwarz auf weiß vor mir hätte, daß er im Mai 1985 – es war einer seiner letzten Texte – in einer »Ungehaltenen Rede vor dem Deutschen Bundestag« folgende Sätze schrieb: »Vergessen Sie die Arbeitslosen nicht, und überdenken Sie einmal die Möglichkeit, daß 35 Stunden Arbeit pro Woche zuviel sind. Es wird keine andere Lösung dieses Problems geben, wenn Sie nicht einen Weg der Arbeitsverteilung finden. Arbeit verteilen, zuteilen, so, wie in Notzeiten Brot zugeteilt wird… . Bedenken Sie das, wo doch immer deutlicher wird, daß Aufschwung nicht Senkung der Arbeitslosigkeit bedeutet.« Das verkünden jetzt, wie eine brandneue Erkenntnis, die Prognosen für das nächste Jahr.

Die Zahl der Arbeitslosen hat sich, seit Böll sich Sorgen über sie machte, mehr als verdoppelt. Von seiner Kühnheit angesteckt, wage ich den Vorschlag, aus Anlaß von Heinrich Bölls 8o. Geburtstag diese ungehaltene Rede im Deutschen Bundestag zu verlesen – vielleicht je einen längeren Abschnitt von je einem Vertreter jeder Fraktion und Gruppe – und danach eine Pause stillen Nachdenkens anzuberaumen: über Asylgesetzgebung, Solidarbeitrag, Lauschangriff, Steuergesetze. Und vor allem: über den Zusammenhang zwischen Massenarbeitslosigkeit und der Gefährdung der Grundlagen der Demokratie.

Heinrich Böll wurde von seinen Lesern in der DDR verehrt; seine Bücher, die zögernd und in ungenügenden Auflagen erschienen, und besonders die, welche nicht erschienen, wurden von Hand zu Hand weitergegeben. Aber es war ja nicht nur die literarische Wirkung, die übrigens auch in der Sowjetunion enorm war – es war die Wohltat, es mit einem integren Menschen zu tun zu haben. Für manche Autoren, für mich jedenfalls, war seine Art, über Anfechtungen und Anfeindungen hin sich selbst treu zu bleiben, auch eine Orientierungshilfe, er wurde mir zu einer provozierenden Instanz in Gewissensfragen. Einige Male habe ich über solche Fragen mit ihm sprechen können, einmal war Lew Kopelew dabei, ein gemeinsamer Freund. Um wenige Menschen habe ich so getrauert wie um Heinrich Böll, und als ich jetzt seine Bücher wieder las, ist das Verlustgefühl noch einmal sehr heftig geworden, stark die Anziehungskraft seiner geistigen Welt.

Aber es gab auch höchst ungeistige Wirkungen, durch seine suggestiven Schilderungen sinnlicher Genüsse. Er hat es ja öfter bedauert, wie wenig in der deutschen Literatur gegessen wird. Nun, als ich »Gruppenbild mit Dame« wieder las, mußte ich auf einmal frühstücken wie Leni: Zwei »knakkige“ Brötchen, heißen, starken Kaffee – obwohl ich sonst Tee bevorzuge – und dunkles Brot. Mußte mir, wie der junge Fähmel in »Billard um halbzehn«, Quark mit einem Fingerhut Paprika anrühren. Nur der Intensität von Bölls Raucherschilderungen, die einen Nichtraucher leicht verführen könnten, habe ich mich erfolgreich erwehrt.

Von Brot sprach ich schon. Den Mangel – an Brot, an Zigaretten, an Kaffee, Tee, an einem Dach über dem Kopf, an Wärme –, diesen Mangel der frühen Jahre hat Böll nie vergessen können, und er hat genau beobachtet, wie aus den unterschiedlichen Arten, mit diesem Mangel fertig zu werden, ihn womöglich in Überfluß zu verwandeln, nach dem Krieg die unterschiedlichen Lebensläufe seiner Landsleute sich entwickelten. Er hat diesen Mangel und seine nie verblassende Erinnerung daran zu seinem Reichtum als Erzähler gemacht: Eine Gesellschaft, die sich nicht erinnere, sei krank. Alles mögliche hat man ihm schon nach den ersten Prosaarbeiten vorgeworfen: Er schreibe »Trümmerliteratur«, »Waschküchenliteratur«, »Versehrtenliteratur«. Alles Wasser auf seine Mühlen. (»Wenn Sie je in der peinlichen Lage gewesen sind, etwas, was abfällig gemeint war, als Schmeichelei zu empfinden … «)

Wie Heinrich Böll den Vorwurf der »Gesinnungsästhetik« aufgenommen hätte, der in den Wendejahren – jetzt meine ich die nach 1989 – vom Feuilleton der großen Zeitungen auch gegen ihn erhoben wurde, kann ich nicht wissen, nur ahnen. »Gesinnung gibt es immer gratis«, hat er einmal, vor dreiunddreißig Jahren, einen Artikel überschrieben. Warum nur, mußte ich mich fragen, lesen diejenigen, die es opportun finden, in einem alten literarischen Feldzug ein neues Scharmützel anzuzetteln, nicht wenigstens nach, was vor ihnen dazu geschrieben wurde! Bölls Aufsatz – natürlich ein Plädoyer gegen »bloße Gesinnungsliteratur«, die ja niemals zur Debatte stand – bringt die Demagogie der meisten Verächter der »Gesinnungsästhetik« auf den Punkt: »… und überall gibt es die Zeigefingerschwenker, Leute, die empört, beunruhigt, verzweifelt die Hände ringen, wenn etwas, das ihrer Gesinnung nicht paßt, sich als formal glänzend und somit gefährlich erweist; die Form spannt den Geist des Menschen, der Inhalt das Herz und die Nerven.« Diese »Zeigefingerschwenker“ habe ich in der DDR gut gekannt, manchmal schwenkten sie auch ein Zensurdekret; ich denke, Schriftsteller haben sich immer und überall zu wehren gegen die Zumutungen der Zeitgeistästhetik; heute, wenn ich nicht irre, am ehesten gegen die Propagierung jenes fröhlichen Nihilismus, der in der Postpostmoderne an die Stelle von »Gesinnung« lanciert wird. Dieses »perfektadrette Nichts« – wie unermüdlich hat Böll es immer wieder benannt und verspottet, später: das »etablierte Nichts«, das die Gesellschaft von innen her aushöhlt, dessen Symptome Leerlauf, Stockung, Lähmung, mörderische Langeweile, Habgier, inhaltloses Machtstreben sind; Heinrich Böll beschreibt, wie es sie befällt, die Repräsentanten der Parteien, der Wirtschaft, der Kirchen; wie die Empfindsamen unter ihnen es beklagen, wie sie darunter leiden – ein Mechanismus, der sie allmählich, unaufhaltsam zermahlt, nur einige Unverdauliche ausspeit: an den Rand, in die Leistungsverweigerung, die Frauen in die Nervenklinik. Und manche Junge in den sinnlos zerstörerischen »bewaffneten Kampf«.

»Sympathisant« hat man Böll dafür beschimpft, daß er nicht nur die »Zeichen an der Wand« frühzeitig zu lesen verstand, sondern den Gründen nachging, die hinter den Erscheinungen stecken. Als einen dieser Gründe erkennt er die Ursachen, die in die Vergangenheit zurückreichen, jenes schwarze Loch des Verschweigens, Verdrängens, Vergessens. 196o schrieb Heinrich Böll, es zeige sich, »daß unsere Vergangenheit sich immer weiter von dem Punkt entfernt, wo sie hätte bewältigt werden können«. Die Figuren vieler seiner Bücher tragen das Gift dieser Vergangenheit, das nie wirklich ausgeschieden wurde, in ihre Umgebung, in ihre Familie, in die nächste Generation hinein. Es ist, glaube ich, an der Zeit, auch und gerade in der Literatur zu fragen, welche Formen und welche Folgen die je unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den beiden deutschen Staaten hatte und wie diese Folgen in das vereinigte Deutschland hineinwirken.

Oft habe ich jetzt, da der Zeitraum, in dem Heinrich Böll lebte, Geschichte ist, seinen Prognosen Respekt zollen müssen, seiner Hellsichtigkeit, die ihn selbstverständlich nicht vor dem grotesken – mir übrigens bekannten – Vorwurf schützt, er habe »mit der Entwicklung nicht Schritt gehalten“. Das hat er, beinahe hätte ich gesagt: freudig, zugegeben, hat freimütig eingestanden, daß seine Bücher, würde man sie im Ausland etwa den offiziellen und offiziösen Kommuniqués staatlicher Stellen entgegenhalten, ein anderes Land schildern als jene Verlautbarungen. »Es ist ja weder Zufall noch die böse Absicht zersetzender Intellektueller«, schreibt er, »… daß sich die Bundesrepublik in der erzählenden Literatur, in der Lyrik und in der Publizistik anders darstellt, als es den Presse- und Wirtschaftsattachés angenehm ist. Die Politiker sollten sich nicht grämen, sich schon gar nicht beklagen. Sie sollten sich fragen, warum es denn keinen einzigen Nachkriegsroman gibt, in dem sich die Bundesrepublik als blühendes, fröhliches Land dargestellt findet … Offenbar gibt es Hindernisse, die weit tiefer liegen, als oberflächliche politische Gekränktheit vermuten könnte. Ein trauriges Land, aber ohne Trauer: es hat seine Trauer delegiert, über die Grenze nach Osten geschoben … «

Der Osten, muß ich hinzufügen, hat diese Gabe nicht angenommen, hat sie mit allen Anzeichen der Empörung über die Grenze nach Westen zurückgeschoben, und er hat »seinen“ Autoren die gleiche berühmt-berüchtigte Frage gestellt: Wo bleibt das Positive? Heinrich Böll hat sich, sooft er konnte, in der DDR umgesehen, er hat ihre Probleme, glaube ich, gekannt, aber die Prozesse, die zu ihrem Zusammenbruch und zur Vereinigung führten, hat er nicht mehr erlebt. Seine nachdenkliche, behutsame, ja seine gerechte Stimme hat sehr gefehlt, und sie fehlt weiter – auch in dem mühsamen Verständigungsprozeß der Intellektuellen.

Böll lesend, kommt es mir so vor, als hätten wir, Ost- und Westautoren, uns nach der Vereinigung wieder etwas zuschieben lassen, nämlich die säuberlich verfehlte Teilung in positiv West und negativ Ost, und als hätten wir, indem wir dieses Maß annahmen – ob zustimmend oder ablehnend –, die Chance verpaßt, uns gegenseitig mit den wichtigen Erfahrungen in dem je anderen deutschen Staat vertraut zu machen; darunter mit unseren Anstrengungen, die Gesellschaft zu humanisieren, mit der Enttäuschung über die Vergeblichkeit dieser Anstrengungen und den Gründen für diese Fehlschläge, mit unserer Einsicht in Versäumnisse, Irrtümer, Illusionen, unserer Trauer über den Verlust von Werten, materiellen und ideellen, über Irrtümer, Irrwege, schwer auflösbare Verhärtungen, die die Spaltung auch in uns selbst erzeugt hat. Und wenn wir nach dieser Selbstprüfung, anstatt den sogenannten einfachen Bürgern, unseren Lesern, ein Beispiel von Uneinsichtigkeit zu geben, dazu kämen, uns jener schmerzhaften Frage auszusetzen, die Heinrich Böll sich und den Seinen sehr früh gestellt hat: Was ist aus uns geworden? Was haben wir aus uns machen lassen?; wenn wir es fertigbrächten, Selbstmitleid und Zynismus, Rechtfertigungsdrang und Rechthaberei einfach fallenzulassen, wenn wir aufhören könnten, an den marginalen Streitbrocken herumzuzerren, die die Feuilletons uns mit Bedacht hinwerfen, so den Wettlauf um die fettesten Brocken anfeuernd, an dem wir uns doch nie beteiligen wollten – dann, ja, dann könnten wir vielleicht statt dessen unsere scheinbar vergeblichen Erfahrungen ernst und wichtig nehmen, den Mut finden, zu ihnen zu stehen. Und dann könnten wir womöglich unser wahres Interesse erkennen, die Solidarität mit den Verlierern jenes ungeheuren Umverteilungsprozesses nämlich, der in diesen Jahren unter dem Vorwand ökonomischer Zwänge unser Leben und unsere Werteskala von Grund auf in Frage stellt. Wenn uns das gelänge, hätten wir wohl etwas von dem Vermächtnis angenommen, das Böll uns hinterlassen hat.

Ein sehr langer Absatz im Konjunktiv. Möglichkeitsform, Wunschform, Zweifelsform. Unverantwortlich wäre es, den Indikativ auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.

Ich muß noch einmal zu den Anfängen zurück. 1945 mag der Mehrheit der Deutschen, wenn ich es recht überlege, an einer »Stunde Null« gelegen haben. In Westdeutschland, dann der Bundesrepublik, konnten die herrschenden Schichten diesem Bedürfnis eher nachgeben als in der DDR, wo der Bevölkerung in den ersten Jahren rigoroser die Rechnung präsentiert wurde für ihr Verhalten in den zwölf braunen Jahren, und zwar von Gegnern des Nationalsozialismus, die aus KZs und aus der Emigration zurückkehrten. Daß sie, soweit sie Funktionäre wurden, ihre Macht dann wiederum in einem diktatorischen System ausübten und mißbrauchten, muß man mir nicht erzählen. Damals, in den Nachkriegsjahren, waren sie – wie auch der Exilant Willy Brandt – als »vaterlandslose Gesellen« vielen Deutschen fremder und unheimlicher als ein Hans Globke.

Nach diesem historischen Exkurs, den ich hier nicht weiter ausführen kann, bin ich wieder bei den Romanen und Erzählungen von Heinrich Böll. Er hat seinen Figuren strikt die Selbsttäuschung einer »Stunde Null« verweigert. Bis in seinen letzten Roman der achtziger Jahre hinein, »Frauen vor Flußlandschaft«, sind die Protagonisten der älteren Generation geprägt von den Traumata der Kriegszeit, andere haben ihr Leben dem Zwang unterworfen, ihre Beteiligung an Vergehen oder Untaten zu vertuschen, wegzudrücken, sich selbst vergessen zu machen. Wenn irgendwo in der westdeutschen Literatur der Nachkriegszeit, dann finden sich bei Heinrich Böll alle Stadien dieses oft lautlosen, unsichtbaren Korrosionsprozesses aufgezeichnet, die Haarrisse in den Ehen, die Sprachunmächtigkeit zwischen Eltern und Kindern, zwischen Liebenden, zwischen Freunden, Kollegen – Risse, die sich im Laufe von Jahren, Jahrzehnten verbreitern, aufklaffen, zu Abgründen zwischen Menschen werden, zu Unglück und Zusammenbruch führen bei äußerlich steil aufsteigenden Karrieren.

Während ich Heinrich Bölls Erzählungen und Romane in chronologischer Reihenfolge wieder las, nicht wenige Titel darunter, die sprichwörtlich geworden sind – von »Der Engel schwieg« über »Wo warst du, Adam?«, »Haus ohne Hüter«, »Das Brot der frühen Jahre«, »Billard um halbzehn«, »Ansichten eines Clowns«, »Entfernung von der Truppe«, »Gruppenbild mit Dame«, »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«, um nur die bekanntesten zu nennen –, während dieser Lektüre zog vor meinem inneren Auge ein langer Zug von Figuren vorbei, Männer und Frauen, Junge und Alte, vom Minister bis zum plebejisch-anarchischen Leistungsverweigerer, darunter nicht wenige, die einander von Buch zu Buch eine Art Stafettenstab weiterzureichen versuchen. Junge Männer, die in den Krieg gehen und wissen, daß sie sterben werden, Heimkehrer, Überlebende in den Trümmerstädten, schweigsam, verschlossen, illusionslos, grüblerisch, viele von ihnen gläubig, alle nicht fähig, sich anzupassen. Fremd im Nachkriegsdeutschland, obwohl ich kaum zögern würde, sie »typisch deutsch« zu nennen – in der rheinländischen Variante. Ein Grundtypus, der später Fähmel heißen wird, Hans Schnier, Fritz Tolm oder Karl Kreyl – Außenseiter oder überfordert von der Last eines Aufstiegs, den sie so nicht gewollt haben: eine Stafette von Leuten, die nicht als erste durchs Ziel gehen wollen. Bei vielen Kritikern sind sie nicht gut angekommen, auch die Frauen nicht, deren Männer, Geliebte im Krieg »gefallen« sind, die ihre Kinder durchbringen mit Hilfe verschiedener »Onkels«, Frauen, die an der Seite ihrer aufsteigenden Männer verkümmern, oder zusammenbrechen, in Sanatorien enden; oder die starken sinnlichen Frauen, wie Leni Pfeiffer, geborene Gruyten, und Katharina Blum, die den Journalisten erschießt, der ihr die Ehre genommen hat. Was ist gegen sie einzuwenden?

Es gibt sie nicht, lese ich. So nicht. Böll sei, das gilt ja als Schimpfwort, ein »Moralist«. Horribile dictu: Ich glaube, er ist es tatsächlich. Er nimmt sich die Freiheit, seine Gestalten aus ihrem moralischen Kern heraus zu entwickeln und leben zu lassen, und stößt dabei auf den Widerspruch dieser Art von Lebendigkeit, nach der jeder sich sehnt, zu den gesellschaftlichen Normen und Klischees. Diesen Widerspruch spitzt er, wie sein Beruf es verlangt, gehörig zu, indem er seine Figuren in Umstände versetzt, die nicht jeden Tag vorkommen, die vielleicht überhaupt nicht vorkommen: damit sie so richtig zeigen können, wes Geistes Kind sie sind. Ja, Phantasie hat dieser Erzähler, ein Phantast – was das Wort »Moralist« im Deutschen mit unterstellt – ist er nicht. Ich habe sogar den Verdacht, daß eine Utopie hinter seinem Werk steht und daß sie es ist, die ihm diese Einheitlichkeit und Unverwechselbarkeit gibt – ein inneres Bild von Menschen in einer Gesellschaft, die sich nicht selbst zerstört. Eine Utopie, gewiß – aber ein Utopist ist Böll nicht.

Wenn schon eine Kategorie sein muß, will ich ihn einen handfesten Realisten nennen. Aber was ist für ihn »Realität«, »Wirklichkeit«? Er ist nicht müde geworden, darüber nachzudenken. »Offenbar stellen sich Leser, sogar Kritiker manchmal vor, ein Autor hätte Wirklichkeit wie in einer Regentonne vor dem Haus stehen und er brauche nur hinauszugehen, um daraus zu schöpfen«, meint er. Realien – ja, die braucht der Autor, manchmal auch penible Recherchen. Aus Bölls frühen Büchern kann man den Schwarzmarktpreis für Brot und für Zigaretten erfahren, in seinen späteren die Hotelpreise – unglaublich niedrig, übrigens! –, die ebenfalls unvorstellbar geringen Stundenlöhne, eines Klempners zum Beispiel. Einmal beschreibt er, welche Mühe es gekostet hat, für »Gruppenbild mit Dame« herauszufinden, was eine Hilfsarbeiterin in einer Friedhofsgärtnerei im Krieg verdient hat und wie hoch oder vielmehr wie schandbar niedrig die Rationen waren, die sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland an die Grenze des Verhungerns, oft in den Tod trieben. Auch hat er sich genau erkundigt, wie ein Grabkranz fachgerecht hergestellt wird. Dies alles sind, keine Frage, Realitäten, die man aus der Regentonne vor dem Haus schöpfen kann, wenn man für »Regentonne« Büchereien, Archive, alle möglichen Arten von Auskunftstellen, auch Zeugen und andere Informanten setzt. Realitäten sind auch: politische Systeme, Parteien, Kirchen, Häuser, Städte, Landschaften, die natürlich in den Büchern auch und gerade Heinrich Bölls »vorkommen«, die ihr Netzwerk bilden, ihre Anschaulichkeit ausmachen, Atmosphäre herstellen, Orte und Gelegenheiten, in denen die Figuren agieren, sich entfalten können. Stoff, Material – »Die Wirklichkeit« des Kunstwerks sind sie nicht.

»Ein Autor nimmt nicht Wirklichkeit«, sagt Böll. »Er hat sie, schafft sie, und die komplizierte Dämonie eines vergleichsweise realistischen Romans besteht darin, daß es ganz und gar unwichtig ist, was an Wirklichem in ihn hineingeraten, in ihm verarbeitet, zusammengesetzt, verwandelt sein mag.« Aber was ist dann wichtig in Bölls »Ästhetik des Humanen“, wenn »die bloße Inhaltsangabe ein Unrecht« ist? Welche Alchemie bewirkt denn die geheimnisvolle »Verwandlung“ des Stoffes, auf der er so beharrlich besteht?

Ich scheue davor zurück, das Wort zu verwenden, das mir auf der Zunge liegt, mache eine Pause, blättere noch einmal in Bölls Aufsätzen, Reden, Kritiken und stoße doch tatsächlich auf das Wort, das ich ohne diesen Beleg ungern gebraucht hätte: Reibung. »Die Dichter, auch wenn sie sich scheinbar in der Unverbindlichkeit ästhetischer Räume bewegen, kennen den Punkt, wo die größte Reibung zwischen dem einzelnen und der Geschichte stattfindet … « Hier auf Wolfgang Borchert gemünzt, doch aus eigener Erfahrung und Betroffenheit heraus formuliert. Heinrich Böll hat den »Punkt« gekannt. Er war, als Mann der Aufklärung, als Deutscher, als gläubiger Mensch, in diesem Jahrhundert in Konflikte gestellt, die man eine Dauerreibung wohl nennen kann; es ist ja kein Zufall, kein Versehen, kein Mißverständnis, daß er immer wieder zum Objekt von öffentlichen Angriffen bis hin zu Rufmordkampagnen wurde: Er hat sich das durch die Unverblümtheit seiner Äußerungen, durch seine scharfen Diagnosen jeweils redlich verdient. Dieser Reibung hätte er doch manchmal ausweichen können, verletzbar und verletzt, wie er oft war (»Wir dickfellig-dünnhäutigen Dulder«). Er tat es nicht, auch und gerade in seinen Erzählungen und Romanen nicht, die er nicht von seinen publizistischen Arbeiten getrennt sehen will, die immer radikaler, immer zorniger werden und dadurch anzeigen, bis auf welchen Grad die innere Reibung sich verstärkt. Die übrigens – man muß wohl auch dieses Selbstverständliche aussprechen – ohne eine starke Bindung nie so intensiv sein könnte. »Von einer von Vorurteilen bestimmten zu einer aufgeklärten Gesellschaft« – so hat Heinrich Böll es selbst ausgedrückt. Daran mitzuwirken, fühlte er sich in die Pflicht genommen.

Den inneren Kampf zwischen seiner Religiosität und der Institution Kirche trägt er mit einem tiefen Ernst aus, so daß dieser schmerzliche Ablösungsprozeß zum Paradigma werden kann für andere der zahlreichen Ablösungsprozesse von Institutionen in dieser Zeit. Die existentielle Frage – ein Wort, das ich beinahe nie sonst verwende –, welche Bindungen uns, den sogenannten modernen Menschen, denn noch bleiben, ob und wie wir uns denn einbinden könnten in eine Gemeinschaft, die nicht hauptsächlich auf Gelderwerb und technischen Fortschritt aus wäre – diese Frage steht hinter Bölls Büchern und formt – welche Inhalte sie immer darbieten mögen – ihre »Wirklichkeit«.

Heinrich Böll hat die Zumutung immer zurückgewiesen, »Gewissen der Nation« zu sein: Es ist dies ja nur die Kehrseite des Bedürfnisses, ihn von Fall zu Fall zum Sündenbock der Nation zu machen. Alles, was er geschrieben hat, kann man unter einen Satz seiner Frankfurter Poetikvorlesungen stellen: »Auf der Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land.« Ein Land sei bewohnt und bewohnbar, wenn man Heimweh nach ihm empfinden könne. Gerade heute las ich in der Zeitung, das Cottbuser Theater habe Fragebögen an seine Besucher verteilt, im Foyer ausgehängt. Zusammenfassend wird berichtet: »Viele Leute finden gut, was passiert, aber sie möchten nicht sein, wo sie sind.« Was bedeutet das. Geht es weiter, dieses »Nicht-wohnen- Können der Deutschen«, wie Böll es nennt, wie er es an Kleist, Stifter, den Romantikern beobachtet? Und was ist mit Hölderlin, Büchner, was mit den ausgetriebenen deutschen Dichtern dieses Jahrhunderts? Und was mit den Figuren in Bölls letztem, traurigstem und »untröstlichstem« Buch, die sich nicht mehr zu Hause fühlen, weg möchten, weg aus Bonn, auswandern aus Deutschland, aber nicht wissen, wohin. Und zur gleichen Zeit die unzähligen Gespräche in der DDR: Weg hier, aber wohin?

Wir sind in Berlin. Nie hätte Heinrich Böll es sich träumen lassen, daß wir uns seiner einmal in Ostberlin, in diesem Haus erinnern würden, welches einst Palais des Preußischen Finanzministeriums war, jetzt »Palais am Festungsgraben« heißt, sich vor sieben Jahren noch »Zentrales Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft« nannte, woran heute noch die Wolkenstores und der Samowar erinnern. Ich zweifle, daß diese folkloristischen Accessoires wesentlich dazu beitragen können, was an jener Freundschaft echt war, aufrechtzuerhalten und zu pflegen. Heinrich Böll hat ja, um Freundschaft mit Russen, Tschechen, Polen zu schließen, kein »zentrales Haus« gebraucht (obwohl sein Haus eine zentrale Anlaufstelle für bedrängte Freunde aus östlichen Ländern war) – er hat nur seine Aufgeschlossenheit für andere Lebensformen und Kulturen gebraucht, und allerdings seine schier unerschöpfliche, ihn manchmal vielleicht doch erschöpfende Hilfsbereitschaft.

Bleiben wir in Berlin. »Wo ist denn nun die Hauptstadt der Deutschen?« fragt Böll herausfordernd – lange, sehr lange ehe irgend jemand damit rechnen konnte, daß Berlin je wieder in diesen Rang aufrücken würde. »Ich kann nur feststellen, daß Berlin nicht mehr als fünfzehn Jahre lang die Hauptstadt eines demokratischen Deutschlands gewesen ist – eine Periode des Traums und des Taumels.« Raabe und Fontane, Döblin und Benjamin hätten Berlin nicht zu einer literarischen Realität machen können, die mit der von London und Paris, mit der Petersburgs oder Moskaus zu vergleichen wäre. Und in der Tat, dem geteilten Nachkriegsberlin fehlt ein Autor, wie er Köln in Heinrich Böll geschenkt wurde. Das »liege an der Politisierung der Stadt, des Wortes Berlin«; so Böll 1964. 1997 steigen »traumhafte«, »utopische«, »surrealistische“ Architekturinseln aus der eher nüchternen Berliner Stadtlandschaft auf. Ob sie das Heimatgefühl der Bewohner dieser Stadt stärken werden? Ob sie und riesige steinerne Denkmäler unsere Trauer, unseren Schmerz, unsere Scham über die Ermordung von über 55 000 jüdischen Bürgern dieser Stadt, ob sie unsere Fähigkeit, künftig vertrauensvoll miteinander zu leben, vertiefen werden? Ob sie den neuen Berlinern, die aus Bonn demnächst in die Stadt kommen, helfen werden, die – nach Böll – in den Rheinlanden nicht unbegründet verbreitete Ansicht von der »kalten Heimat Preußen« zu korrigieren? Ob sie Nachbarschaft stiften können – »Humanes, Soziales, Gebundenes« –, alles so wichtige Anliegen Heinrich Bölls?

Wollen wir es hoffen. Karoline von Günderrode, aus dem Rheinland gebürtig wie Heinrich Böll, hat gesagt: »Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.« Das ist nun bald zweihundert Jahre her. Der Atem der Hoffnung zieht, manchmal beinahe erstickt, durch die Jahrhunderte. Nicht eine bläßliche, schwächliche, tatenarme Hoffnung meine ich. Ich meine jene unersättliche, ununterdrückbare, brüllende Hoffnung, von der Böll schreibt: »Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier.« Sie habe ich in Heinrich Bölls Lebensfreude, die sein ganzes Werk trägt, in seinem Humor, seiner Menschenliebe und in seiner Unerbittlichkeit gespürt.

Wie ich diesen Text enden wollte, wußte ich von Anfang an: Mit einer Hölderlinzeile, die der Architekt Fähmel in dem mir liebsten Buch von Heinrich Böll, »Billard um halbzehn«, mehrmals zitiert: »Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest.« Wir, mein Mann und ich, suchten lange nach dieser Zeile, konnten sie nicht finden. Victor Böll half mit einem Hinweis auf die Hymne »Wie wenn am Feiertage«, doch fand sich das gesuchte Zitat in der Beißnerschen Ausgabe der Werke Hölderlins in sehr anderer Form. Nun, dachte ich, Böll wird es sich umgedichtet haben, und wollte es diskret auf sich beruhen lassen. Endlich griffen wir noch nach der Hellingrathschen Ausgabe von 1943. Da wurde klar: nach ihr hatte Heinrich Böll zitiert. »Und tieferschüttert, eines Gottes Leiden / Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest.« Das paßt, dachte ich.

Und doch hat Heinrich Böll dieses Zitat noch einmal verändert: 1984, als er es seiner Laudatio für Rupert Neudeck voranstellte. Da heißt es denn: »Mitleidend bleibt das menschliche Herz doch fest.«

Dabei wollen wir es bewenden lassen. 

Christa Wolf hielt diese Rede zum 80. Geburtstag von Heinrich Böll. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags.