Analyse der Wahlen in Bosnien-Herzegowina 2010

Nach der Wahl. Foto: Länderbüro Bosnien und Herzegowina. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

12. Oktober 2010
Von Adnan Rondic
Am 3. Oktober haben 56,28 Prozent der wahlberechtigten Bürger/innen in Bosnien-Herzegowina gewählt. Wie schon bei den meisten Wahlen zuvor, wurden auch diese Wahlen als „schicksalsträchtig“, als „die wichtigsten in der Geschichte des bosnischen Mehrparteiensystems“, als „von entscheidender Bedeutung für eine europäische Zukunft Bosnien-Herzegowinas“  bezeichnet.


Der Wahlkampf

Bevor wir uns jedoch der Analyse des Wahlvorgangs und der Wahlergebnisse widmen, sollen vorher einige grundlegende Merkmale des diesjährigen Wahlkampfes hervorgehoben werden. Im Gegensatz zu den Parlamentswahlen 2006 war die nationalistische Rhetorik etwas gemäßigter, vor allem aber blieb diesmal das Prinzip „Reaktionen auf Aktionen“ aus. Die wiederholte Leugnung des Genozids in Srebrenica, das Wiederholen der Thesen über eine Abspaltung der Republika Srpska, die Frage nach der Notwendigkeit der Schaffung einer dritten Entität, die nicht abgestimmte Rede des Vorsitzenden des Staatspräsidiums von BuH Haris Silajdžić vor der UN-Generalversammlung waren alle solche „Aktionen“ der jeweils „einen Seite“, die zu scharfen Reaktionen der jeweils „anderen Seite“ hätten führen können.

Doch ließ gerade das Ausbleiben solcher Reaktionen den Eindruck entstehen, dass es sich um Wahlkampagnen in zwei benachbarten Ländern handele, und nicht um eine einheitliche Kampagne in einem Gesamtstaat. Es ist offensichtlich, dass in der Föderation zwischen der Partei der Demokratischen Aktion (SDA), der Partei für Bosnien-Herzegowina (SBiH), dem Bündnis für eine bessere Zukunft (SBB BiH) und der Sozialdemokratischen Partei (SDP) der bisher schärfste und unvorhersehbarste Kampf um die bosniakischen Stimmen und die Stimmen derer, die sich als Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas sehen, geführt wurde. Ähnlich verhielt es sich auch mit der Kampagne um die kroatischen Stimmen, besonders im Wettbewerb um das Staatspräsidium von BuH. Auf der anderen Seite – in der Republika Srpska – hatte Milorad Dodik offensichtlich Recht mit seiner Einschätzung, dass seine Partei Unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) nicht in der Lage sein werde, souverän und ohne größeren Kampf alle Machtpositionen in der Regierung zu sichern, was auch einen echten Wahlkampf zur Folge hatte. Die diesjährige Kampagne war in großem Stil personalisiert. Dies wurde besonders deutlich Kandidaten für das dreiköpfige Staatspräsidium, war aber auch bei Kandidaten für andere Regierungsebenen zu erkennen, die oft individuelle Kampagnen führten und dabei des Öfteren in Konflikt mit Konkurrenten aus den eigenen Parteien gerieten.


Die Wahlergebnisse

Die Wahlbeteiligung war die höchste der letzten zehn Jahren. Dies ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass 80.000 junge Erstwähler von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben.Die Sozialdemokratische Partei BuH (SDP BiH) erhielt die meisten Stimmen, fast doppelt so viele wie in 2006. Sie ist die stärkste Partei im Parlament Bosnien und Herzegowinas, wo sie aller Voraussicht nach 9 Mandate erhält, im Föderalen Parlament wird sie mit 27 Sitzen die meisten Abgeordneten haben, und sie wird auch in vier Kantonen der Föderation die stärkste Partei sein. Ihr Präsidentschaftskandidat Željko Komšić wurde mit 316.000 Stimmen bestätigt. Er erhielt doppelt so viele Stimmen wie seine Konkurrenten, die Kandidatin der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) Borjana Krišto und der Kandidat der Koalition HDZ 1990-Kroatische Rechtspartei BuH (HSP), Martin Raguž, zusammen. Damit erhielt er 200.000 Stimmen mehr als bei seiner ersten Wahl ins Staatspräsidium vor vier Jahren.

Die meiste Unterstützung erhielt der Kroate Komšić aus den Reihen der bosniakischen Wähler und derjenigen, die sich als „Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas“ und damit nicht ethnisch definieren. Offensichtlich gingen auch Stimmen derer, die in der Vergangenheit ausschließlich für bosniakische Kandidat/innen gestimmt hatten, an Komšić, was ein Anzeichen für den bisher größten Ausbruch der Bosniaken aus ethnischen Kategorien als Begrenzung für politische Entscheidungen ist.

Auf der anderen Seite hat das bisherige bosniakische Mitglied des Staatspräsidiums Haris Silajdžić nur 100.000 Stimmen erreicht. Im Jahr 2006 hatten noch mehr als 350.000 Menschen in Bosnien-Herzegowina für ihn gestimmt. Offenbar wurde er von den Wähler/innen für eine Politik abgestraft, die rhetorisch viel versprochen hatte, aber wenig konkrete Ergebnisse lieferte. Die meisten seiner früheren Wähler/innen sind offensichtlich zu Fahrudin Radončić, einem kontroversen Geschäftsmann und Medienmogul (Bündnis für eine bessere Zukunft, SBB BuH) oder zu Željko Komšić gewechselt. Silajdžić´s Nachfolger im Staatspräsidium ist Bakir Izetbegović (Partei der Demokratischen Aktion, SDA), der eine fast identische Stimmzahl wie sein Parteichef Sulejman Tihić vor vier Jahren erhielt.

Silajdžić´s Partei für BuH (SBiH) erlebte bei diesen Wahlen ein Debakel. Die nur zwei Sitze im Parlament BuH sprechen dafür, dass es der Partei noch schlimmer ergangen ist als ihrem Vorsitzenden.
Die Partei der Demokratischen Aktion (SDA) hat zwar ihren Kandidaten für das Staatspräsidium BuH durchgesetzt, aber im Parlament BuH Einbußen erlitten: Statt neun werden sie jetzt wahrscheinlich sieben Mandate erhalten.

Auch auf den übrigen Regierungsebenen erzielte die Partei der Demokratischen Aktion (SDA) schlechtere Resultate als noch in 2006. So verliert die SDA, laut den bisher ausgezählten Stimmen erstmals seit 20 Jahren die Regierungsmehrheit in den Kantonen Tuzla und Zenica-Doboj, trotz des geringen Abstands zur SDP.
Bedenkt man die Tatsache, dass das Bündnis für eine bessere Zukunft von Fahrudin Radončić (SBB BiH) erst vor einigen Monaten gegründet wurde, kann man diese Partei als klaren Wahlsieger bezeichnen. Ihre sehr guten Wahlergebnisse werden von mehreren Kommentatoren damit in Verbindung gebracht, dass sich eine Tageszeitung und ein kleiner TV-Sender im Besitz ihres Parteivorsitzenden befinden.

Die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ BuH) hat in diesem Jahr ein etwas besseres Wahlergebnis erzielen können. Noch immer ist offen, ob sie im Parlament BuH drei oder vier Sitze erhält – 2006 waren es drei.

Obwohl „Unsere Partei“ (Naša Stranka) nach ihrer Gründung 2008 vielen als gute Alternative zu den ethnonationalistischen Parteien als auch zu den politischen Optionen im linken Parteispektrum erschien, waren ihre Wahlergebnisse dieses Jahr eher enttäuschend. Die Prozenthürde überschritt sie nur im Kanton Sarajevo, während sie, in Koalition mit der Neuen Sozialistischen Partei (NSP) von Zdravko Krsmanović, auf je einen Sitz im Föderalen Parlament und dem Parlament der Republika Srpska (NSRS) kommt.

In der Republika Srpska (RS) wurde Milorad Dodik erwartungsgemäß zum Präsidenten dieser Entität gewählt. Seine Partei Unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) wird im Parlament BuH voraussichtlich wie vor vier Jahren sieben Sitze erhalten. Ein etwas schlechteres Ergebnis hat sie allerdings im Parlament der Republika Srpska erzielt, ohne dadurch jedoch die Regierungsmehrheit für die Republika Srpska zu verlieren. Daran wird auch die garantierte Quote von mindestens vier Vertretern aus allen drei konstitutiven Völkern im Parlament der Republika Srpska nicht viel ändern.

Anders stehen die Dinge jedoch bei der Wahl zum Mitglied des Staatspräsidiums BuH aus der Republika Srpska: Das Rennen zwischen dem Kandidaten der Partei Unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) Nebojša Radmanović und dem Kandidaten des Bündnisses „Gemeinsam für Srpska“ Mladen Ivanić wurde bis zum Schluss erbittert ausgetragen. Das Wahlergebnis mit einer Differenz von weniger als 3 Prozent der Wahlstimmen zugunsten von Radmanović wird nun von Mladen Ivanić angefochten, der von einer Affäre um 129.000 ungültige Stimmzettel spricht. Tatsächlich sticht die hohe Zahl von 9,44 Prozent ungültigen Stimmzetteln bei der Wahl zum serbischen Mitglied des Präsidiums BuH ins Auge, wobei 7,04 Prozent der Zettel überhaupt nicht ausgefüllt wurden. Auch das Bündnis für eine bessere Zukunft (SBB BiH) spricht von Stimmendiebstahl. Die Zentrale Wahlkommission verspricht eine detaillierte Untersuchung, behauptet jedoch, es handele sich um einen bewussten Wahlboykott wegen – wie es die Vorsitzende der Wahlkommission, Irena Hadžiabdić formulierte – gewisser diskriminierender Verordnungen im Wahlgesetz von BuH.


Die Regierungsbildung

Der aufregendste und schwierigste Teil der bosnisch-herzegowinischen Wahlgeschichte 2010 steht jedoch noch bevor: Die Regierungsbildung auf den verschiedenen Ebenen, wobei die Bildung der Regierung des Zentralstaates die größte Herausforderung wird. Möglicherweise steht Bosnien-Herzegowina vor einer „rot-grünen“ Koalition, also einer Koalition der Sozialdemokraten (SDP BuH) und der bosniakisch-muslimischen Partei der Demokratischen Aktion (SDA). Weniger wahrscheinlich erscheint eine Koalition zwischen den Sozialdemokraten (SDP BiH) und dem Bündnis für eine bessere Zukunft (SBB BiH) wegen des schlechten Verhältnisses der beiden Parteichefs.

Sollte es zu der erstgenannten Koalition kommen, lassen sieben Mandate der SDP und sieben oder acht Mandate der SDA nicht viel Spielraum für Milorad Dodiks Manöver. Aus seiner Partei lässt man verlauten, dass sie sich auf keine rein mathematischen Koalitionen einlassen und versuchen werde, mit der SDA oder der HDZ BuH eine Regierung zu bilden. Jedoch fallen derzeit keine Äußerungen aus der Dodik-Partei, die eine Koalition mit der SDP explizit ausschließen. Klare Prognosen sind also nicht möglich, zumal man in Bosnien-Herzegowina nie die Möglichkeit unerwarteter „großer Deals“ ausschließen sollte.

Erst noch verhandelt wird auch über die Besetzung der wichtigsten Staatsfunktionen, insbesondere um das Amt des Vorsitzenden des Ministerrates. Die Sozialdemokraten (SDP BuH) beanspruchen dieses Amt für ihren Parteichef Zlatko Lagumdžija, was ihnen von der kroatischen HDZ in kategorischer Form streitig gemacht wird.

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob sich die gegenwärtige Einschätzung bewahrheitet, dass diese Wahlen zu Veränderungen führen und das Land nach vorne bringen werden. Die Internationale Gemeinschaft sollte bereit sein, auf den Prozess der neuen Regierungsbildung, der möglicherweise erst Anfang des kommenden Jahres abgeschlossen sein könnte, durch Anwendung des Prinzips von „carrots and sticks“ einzuwirken. Wichtigste Aufgabe auf der Tagesordnung der neuen Regierung muss die Änderung der Dayton-Verfassung werden. Ohne sie wird es schwer, von einem europäischen Weg des Landes zu sprechen. Nach geltender Verfassung stehen auch den nun gewählten Akteuren alle Mechanismen der Obstruktion zur Verfügung, um diesen Weg zu verhindern.

Die Wahlen in Bosnien-Herzegowina haben den Wunsch einer großen Anzahl der Bürger/innen nach Veränderung deutlich gemacht. Doch nur, wenn die Designer des aktuellen Staatsmodells Bosnien-Herzegowinas die Verantwortung für ihre Kreation übernehmen und sich nachhaltig für die Änderung der Dayton-Verfassung engagieren, kann dieses Land aus dem Teufelskreis herausfinden.

Dossier

Europa und der Westliche Balkan

Wollte man im Juli 2010 ein allgemeines Charakteristikum für die Lage auf dem West-Balkan und seine Zukunftsaussichten formulieren, dann müsste man wohl von einer „alten Unübersichtlichkeit“ sprechen. Das Dossier bietet aktuelle Artikel zu Staatlichkeit, Demokratie, Bürgerrechten, Aufarbeitung und der Beziehung der Länder des westlichen Balkans zur EU.

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