Auf dem Weg zu 20 Jahren „bolivarianischer Revolution“

"Sieg für Chávez", "Chávez hat gewonnen" titelten die venezolanischen Zeitungen am 8. Oktober 2012. Foto: Globovisión. Quelle: Flickr. Lizenz: CC BY-NC-SA  

15. Oktober 2012
Von Klaus Ehringfeld

Am Ende fiel der Sieg doch deutlich aus. Hugo Chávez triumphierte bei der Präsidentenwahl vom 7. Oktober mit 54 Prozent über seinen bürgerlichen Herausforderer Henrique Capriles. Mehr als sieben Millionen Venezolaner stimmten für den linksnationalistischen Präsidenten. Zwar blieb er damit klar unter den zehn Millionen Stimmen, die er im Wahlkampf immer wieder gefordert und versprochen hatte. Aber zu einem unangefochtenen Sieg reichten seine Stimmen dennoch. Für Capriles und sein von 20 Parteien getragenes Oppositionsbündnis MUD entschieden sich rund 5,5 Millionen Menschen.

In seiner Deutlichkeit ist das Ergebnis überraschend. Wer in den Wochen vor der Wahl in Venezuela unterwegs war, der spürte das, was Wahlforscher Wechselstimmung nennen. Menschen, die früher ein-, zwei-, oder gar drei Mal für Chávez gestimmt hatten, haben sich dieses Mal enttäuscht abgewandt. Sie beklagen ausufernde Kriminalität, Stromausfälle, hohe Inflation und die Hasstiraden des Präsidenten gegen seine Gegner.

Chávez' Sozialprogramme mobilisieren

Aber offensichtlich ist es Chávez gelungen, seine Anhänger fast geschlossen zu mobilisieren. Er hat sie erfolgreich davon überzeugt, dass nur mit ihm die so genannten Missionen, milliardenschwere Sozialprogramme finanziert aus den Erdöl-Einkünften, eine Zukunft haben. Acht Millionen Venezolaner erhalten über die Missionen in der einen oder anderen Form staatliche Unterstützungsleistungen. Chávez sorgt so für alleinerziehende Mütter, Analphabeten, stellt medizinische Versorgung, finanziert Aus- und Weiterbildung, gibt Stipendien und Obdach. 34 Missionen hat die Regierung bisher aufgelegt. 300 Milliarden Dollar hat der Linksnationalist seit 1999 in diese Programme gepumpt.

Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Nach UN-Angaben sank in den 14 Jahren Chávez-Regierung die Arbeitslosigkeit von 13 auf acht Prozent und die Armut von 50 auf 32 Prozent. Venezuela ist das Land mit der kleinsten Schere zwischen Arm und Reich in Lateinamerika.

Die Wahlbeteiligung war mit 80 Prozent ungewöhnlich hoch, zumal in einem Land, in dem keine Wahlpflicht besteht. Der massive Gang an die Wahlurnen ist Ausdruck eines hoch politisierten und polarisierten Landes. Für die meisten Venezolaner war die Abstimmung eine Schicksalsfrage.

In der Wahrnehmung der Wähler ging es um zwei gegensätzliche Modelle. Auf der einen Seite das eines sozialistischen Lands, in dem der Staat alle Bereiche der Gesellschaft und Wirtschaft dominiert und die Armen und sozial Schwachen mit assistenzialistischen Programmen unterstützt. Nach außen ist dieses Venezuela streng anti-imperialistisch, aber großzügig in politischer und wirtschaftlicher Hilfe gegenüber befreundeten Staaten, die mit venezolanischem Öl zu Vorzugskonditionen versorgt werden. Demgegenüber steht der Entwurf der Opposition eines Venezuelas mit (sozialer) Marktwirtschaft und der Stärkung privater Initiative. Nach außen befürwortet es eine USA-freundliche Politik und die Kappung aller Unterstützung anderer Staaten mit venezolanischem Öl.

Der 58-jährige Chávez hat es verstanden, die Wahl zwischen diesen beiden Entwürfen auf die Entscheidung zwischen Gut und Böse zuzuspitzen. Der Kampf der Armen und sozial Benachteiligten gegen die Reichen, die Eliten und diejenigen, die vor seiner Machtübernahme 1998 das Land fast fünfzig Jahre regierten und die Ölreserven für eine dünne Oberschicht ausbeuteten.

Mit diesem klassenkämpferischen Diskurs hat Chávez bereits vor 14 Jahren die erste Wahl gewonnen. Und er instrumentalisiert ihn noch heute erfolgreich. Allerdings fördert er damit eher die Spaltung des Landes als die Einigung. Für die Historikerin Margarita López Maya genießt der venezolanische Präsident noch immer eine fast unerschütterliche Popularität unter den „aller Ärmsten und Ausgeschlossenen“. Dank seines „Diskurses der Inklusion und den Hilfs- und Unterstützungsleistungen“ gelinge es ihm, diesen Menschen die Hoffnung zu vermitteln, dass es für sie eine bessere Zukunft gibt, betont López.

Am Wahlabend nach Bekanntwerden der ersten Ergebnisse hatte man dennoch das Gefühl, als habe sich Chávez selbst über den deutlichen Zuspruch der Wähler gewundert. Gott möge ihm „Gesundheit und Leben“ geben, sagte der im Juni 2011 an Krebs erkrankte Präsident auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Miraflores vor seinen Anhängern. 14 Jahre an der Macht hat Chávez hinter sich. Sechs hat er nochmals vor sich, sollte er gesund bleiben. Dann würde der Linksnationalist 20 Jahre regieren. Eine Generation Venezolaner kennt dann nur ihn als Präsidenten.

Wird Venezuela autoritärer?

Chávez wird den erneuten Wählerauftrag dazu nutzen die „Vertiefung der Revolution“ mit hoher Geschwindigkeit voranzutreiben. Nur er und seine Ärzte wissen, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Er wird den Umbau zu einem sozialistischen Staat intensivieren, die Wirtschaft weiter verstaatlichen und sein personalisiertes Machtprojekt ausbauen. Er wird trotz des mehrheitlich chavistischen Parlaments weiter mit Dekreten regieren, die Gewaltenteilung – da wo sie noch existiert – weiter aufheben.

Es ist zu erwarten, dass in der nächsten Welle der Nationalisierung Banken, Nahrungsmittelindustrie und der Gesundheitssektor verstaatlicht werden. Nach außen wird er weiter sein Anti-US-Profil schärfen und Allianzen mit den Schurken dieser Welt eingehen, wie Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko. Einen ersten Hinweis darauf gab es wenige Tage nach der Wahl, als Chávez dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad demonstrativ seine Unterstützung aussprach.

Zudem ist zu befürchten, dass die demokratischen Freiräume kleiner werden, der Klientelismus größer und die Unterscheidung in „Chavistas“ und „Anti-Chavistas“ zunehmen wird. „Wir haben noch nie so viele politische Freunde in der Regierung gehabt, aber hatten noch nie so wenig Zugang zur Macht“, sagt der Vertreter einer bekannten Menschenrechtorganisation. Er berichtet davon, dass Arbeit von NROs und deren internationale Finanzierung zunehmend hinterfragt werde seitens der Regierung. Venezuela sei sehr weit weg von einer klassischen lateinamerikanischen Diktatur, aber die Chávez-Regierung trage zunehmend autoritäre Züge, betont der Menschenrechtsaktivist. „Es reduzieren sich die Freiräume für Andersdenkende und Abweichler im Chávez-Lager oder unter den Sympathisanten. Die Freiräume werden zunehmend erstickt“. Bisher sei der Präsident in jeder seiner drei Amtszeiten ein Stück autoritärer geworden. Es stehe zu befürchten, dass sich diese Tendenz auch in der nun folgenden vierten Amtszeit fortsetze.

Kriminalität, Inflation, Infrastruktur

Chávez versprach am Wahlabend, ein besserer Präsident zu werden und seine Regierung effizienter zu machen. Das wird auch dringend notwendig sein, denn vor allem seine Wähler leiden massiv unter der Kriminalität. 19.000 Morde in einem Jahr sind weltweit trauriger Rekord. Zum Vergleich: In Mexiko, das in einen Drogenkrieg verstrickt ist, sterben pro Jahr 10.000 Menschen einen gewaltsamen Tod. Chávez aber hat das Problem lange negiert, dann politisiert und dem Kapitalismus die Schuld an der hohen Kriminalität in die Schuhe geschoben. Lösungsansätze hat er bisher nicht vorgestellt.

Darüberhinaus wird der Präsident sich darum kümmern müssen, die Wirtschaft auf Kurs zu bringen. Trotz historisch hoher Öleinnahmen läuft vieles schief. Mit 27,9 Prozent Inflation hat Venezuela die höchste Teuerungsrate des Kontinents. Und sie frisst vor allem die niedrigen Einkommen seiner Anhänger. Der gespaltene Wechselkurs mit den absurden Auswirkungen sind weitere Themen, die auf seiner Agenda ganz oben stehen sollten. Chávez muss ferner den staatlichen Ölkonzern PDVSA wieder rentabel machen. Venezuela sitzt auf den größten Ölreserven der Welt, aber PDVSA, das den Reichtum fördert und Chávez die Einkünfte garantiert, wurde in den vergangenen Jahren konsequent abgewirtschaftet. Dringend müssen Raffinerien gebaut werden, damit Venezuela nicht noch mehr Sprit im Ausland einkaufen muss. Letztlich muss Chávez in Infrastruktur, bessere staatliche Dienstleistungen wie Wasser- und Stromversorgung und den Kampf gegen die Korruption in seiner Regierung investieren.

Chávez historisches Verdienst ist es, den Armen eine Stimme, Selbstbewusstsein und Unterstützung gegeben zu haben. Unter ihm kam das Thema der sozialen Ungleichheit in Venezuela und ganz Lateinamerika erst auf die Agenda. Aber sehr viel weiter ist er in den 14 Jahren nicht gekommen. Trotz Öl-Einnahmen von rund einer Billion Dollar ist es ihm nicht gelungen, ein Fundament für Fortschritt und Entwicklung zu legen. Der deutliche Wahlsieg ist eine Bestätigung seiner Politik, aber auch eine Herausforderung und ein Auftrag, es besser zu machen. Die vierte wird seine schwerste Amtszeit.


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Klaus Ehringfeld ist freier Journalist und lebt in Mexiko-Stadt. Er berichtet u.a. für das Handelsblatt, die Frankfurter Rundschau, die Berliner Zeitung und die Stuttgarter Zeitung Mexiko, Zentralamerika und die Karibik und engagiert sich bei weltreporter.net