NGOs in Russland

Diese Analyse erschien zunächst in Russlandanalysen Nr. 59/05 vom 11. März 2005.

12. März 2005
Von Jens Siegert
Von Jens Siegert, Moskau

Zusammenfassung

In Russland existiert eine Zivilgesellschaft, wenn auch – verglichen mit anderen Ländern – auf niedrigem Niveau. Ihre Träger, die Nichtregierungsorganisationen, sind finanziell weitgehend von ausländischer Unterstützung abhängig. Indes versucht die russische Führung fortgesetzt, zivilgesellschaftliche Aktivitäten zu regulieren. Ohne Frage sind die Handlungsspielräume für NGOs in den vergangenen Jahren kleiner geworden. Direkte Repression hat es bisher nur in Einzelfällen gegeben und kann in den meisten Fällen auf konkrete Interessen einzelner Akteure zurückgeführt werden. Weit empfindlicher und direkter reagiert der Kreml, wenn sich einzelne NGOs auf tabuisierte Politikfelder begeben. Es gibt also bisher keine systematische Behinderung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, wohl aber bemüht sich der Staat, rechtliche und politische Instrumentarien zu schaffen, um die Tätigkeit von NGOs jenseits direkter Repression kontrollieren und lenken zu können.

NGOs in der gelenkten Demokratie

Die russische Zivilgesellschaft – das hat Elke Fein in den Russlandanalysen Nr. 35 zutreffend festgestellt – existiert und entwickelt sich, wenn auch auf im internationalen Vergleich niedrigen Niveau. Ihre Träger, die Nichtregierungsorganisationen oder „NGOs“, sind weitgehend von finanzieller Unterstützung aus dem Ausland abhängig. Von staatlicher Seite wird ständig versucht, ihre Tätigkeit zu regulieren, zu lenken und, in Einzelfällen, auch gezielt zu stören. Im Folgenden soll versucht werden, das durchaus ambivalente Verhältnis Staat-NGO in einen mittelfristigen Entwicklungszusammenhang zu stellen, und den Fragen nachzugehen wie NGOs sich in das Putinsche System der „Gelenkten Demokratie“ einfügen, und inwiefern die Behinderungen von NGOs systemischen oder gar systematischen Charakter haben.

Von Beginn der Präsidentschaft Putin an waren die Beziehungen zwischen den Nichtregierungsorganisationen, die nicht als Vertreter korporativer Interessen (so wie z.B. Gewerkschaften oder Invalidenverbände) auftraten und sich meist relativ leicht in das System der Gelenkten Demokratie einfügen ließen, gespannt.

Schon allein wegen des Tschetschenienkriegs standen Menschenrechtsgruppen wie Memorial, die Moskauer Helsinki Gruppe oder die Soldatenmütter dem neuen Präsidenten von Beginn an skeptisch bis kritisch gegenüber und hatten umgekehrt auch wenig Zuneigung aus dem Kreml zu erwarten. Die von Beginn des Krieges an restriktive, bis an den Rand der Zensur gehende Medienpolitik des Kremls und das Vorgehen gegen den Fernsehsender NTW erklären die Besorgnis von NGOs wie der Stiftung zur Verteidigung von Glasnost, die im Bereich Meinungsfreiheit/freie Medien engagiert sind. Umweltschutzgruppen wiederum kritisieren die industriefreundliche Politik Putins und den fortgesetzten Abbau ökologischer Schutzrechte.

Allerdings finden sie sich im Gegensatz zur Jelzin-Zeit in der Putin-Ära in regionalen und überregionalen NGO-Koalitionen zusammen. Die größtenteils aus Vertretern großer moskaubasierter NGOs bestehende „Narodnaja Assambleja“ (etwa: „Volksversammlung“), in der Memorial, der Moskauer Helsinki Gruppe, der Stiftung zur Verteidigung von Glasnost oder der Sozialökologischen Union vertreten sind, ist der bekannteste dieser Zusammenschlüsse, vor allem, weil er stellvertretend für viele in den vergangenen vier Jahren eine bevorzugte Verhandlungspartnerin der Präsidentenadministration war.

Das „Bürgerforum“ im Herbst 2001

Von Seiten des Kremls war der erste praktische Versuch, die NGOs zu formieren, die Initiierung einer großen Bürgerversammlung im Kreml („Grashdanskij Sjesd“), die anfangs unter Ausschluss von – aus Kremlsicht – „unkonstruktiven“ NGOs geplant war. Memorial zum Beispiel gehörte in diese Kategorie, die Moskau Helsinki Gruppe dagegen, deren Tätigkeit sich im Bereich Menschenrechte kaum von der Memorials unterscheidet, sollte einbezogen werden. Bei dieser Zuordnung dürften taktische Erwägungen eine größere Rolle gespielt haben als eine systematische Einordnung. Es ist hier nicht ausreichend Platz, noch einmal im Einzelnen nachzuvollziehen, warum dieser Formierungsversuch fehlschlug. Doch dürften letztendlich vor allem Interessengegensätzen in Präsidentenadministration und Regierung dazu geführt haben, dass auch vorher als „unkonstruktiv“ gescholtenen NGOs einbezogen wurden. Voraussetzung dafür war aber, dass sich die NGOs der „Narodnaja Assambleja“ nicht auseinanderdividieren ließen und auf der gemeinsamen Vertretung gemeinsamer Interessen dem Staat gegenüber bestanden.

Steuergesetze

Zur Konsolidierung der NGO-Koalition hatten seit Mitte 2000 insbesondere Verhandlungen mit der Regierung über die anstehende Steuerreform beigetragen. Sie berücksichtigte in der von der Regierung ins Parlament eingebrachten Form nicht die Interessen von NGOs. Die bis dahin herrschende Unterscheidung von „kommerziellen“ und „nicht-kommerziellen“ Organisationen bei der Besteuerung von Einnahmen wurde aufgehoben. Damit mussten künftig praktisch alle Einnahmen von NGOs, egal aus welcher Quelle und zu welchen Zwecken, versteuert werden. Die NGOs standen vor dem Problem, künftig Steuern auch auf Zuwendungen von ausländischen Geberorganisationen zahlen zu sollen. Das ist besonders problematisch, weil vor allem NGOs, deren Funktion die Kontrolle staatlichen Handelns einschließt und bei denen damit Konflikte mit staatlichen Stellen unausweichlich sind, bis heute weitgehend auf ausländische Finanzierung angewiesen sind. Eine vorsichtige Entwicklung hin zu inländischen Finanzierungsquellen am Ende der Präsidentschaft Jelzins und zu Beginn des neuen Jahrtausends ist spätestens mit der Verhaftung von Michail Chodorkowskij im Herbst 2003 und der Zerschlagung des Jukos-Konzerns zu einem jähen Ende gekommen. Die Verhandlungen zwischen Finanzministerium und der „Narodnaja Assambleja“ gehen zwar bis heute weiter, aber bisher ohne grundsätzlichen Kompromiss. Der neue Steuerkodex trat nichtsdestotrotz Anfang 2002 in Kraft. Zwar haben die NGOs eine ganze Reihe juristisch mehr oder weniger überzeugender Auswege aus diesem Dilemma gefunden, eine mögliche Steuerschuld hängt aber seither wie ein Damoklesschwert über vielen von ihnen. Das Vorgehen gegen Jukos und Chodorkowskij zeigt den NGOs zudem, wie der Staat die Steuerbehörden zu einem politischen Instrument macht, auch wenn bisher kein Verfahren gegen eine NGO bekannt ist, wenn man von den Untersuchungen gegen die Chodorkowskij-Stiftung „Offenes Russland“ und eine vorerst im üblichen Rahmen befindliche Steuerprüfung bei den Soldatenmüttern absieht.

Staat gegen NGOs

Allerdings gingen in den vergangenen Jahren föderale oder regionale Behörden in einer Reihe von Fällen gegen missliebige NGOs vor. Gewiss sind alle Übergriffe auf NGOs ernst zu nehmen. Aber bis heute ist nicht zu erkennen, dass es sich dabei um ein systematisches, von Moskau aus angeordnetes oder gar gesteuertes Vorgehen handelt. Ich möchte drei Beispiele nennen: 1. die Durchsuchung des Büros und zeitweise Beschlagnahme fast aller Computer der Ökologischen Baikalwelle in Irkutsk durch den Inlandsgeheimdienst FSB Ende 2002, 2. die versuchte Schließung der Menschenrechtsorganisation Jushnaja Wolna durch die Gebietsverwaltung in Krasnodar 2002 und 2003 und 3. die beiden Überfalle auf den Vorsitzenden von Memorial St. Petersburg Wladimir Schnittke im Sommer 2003 und noch einmal im Herbst 2004.

Das Vorgehen des FSB gegen die Baikalwelle wurde, Ironie des Schicksals, mit großer Wahrscheinlichkeit von der regionalen Verwaltung des Jukos-Konzerns initiiert. Die Baikalwelle hatte eine Kampagne gegen eine von Jukos geplante Ölpipeline von Angarsk ins chinesische Dazin gestartet.

Im Gebiet Krasnodar ging der Gouverneur Tkatsch gegen eine ganze Reihe von NGOs vor. Gemeinsam war fast allen, dass sie sich gegen die Vertreibung der Anfang der 90er Jahre aus Georgien zugewanderten Turko-Mescheten durch die Gebietsverwaltung gewandt hatten. Im Fall der Jushnaja Wolna ist zudem nicht ausgeschlossen, dass es auch um die Kontrolle über das Gebäude ging, in dem die Organisation ihr Büro hatte.

Weniger klar sind die Hintergründe der Überfälle auf Wladimir Schnittke von Memorial St. Petersburg. Schnittke selbst vermutet, dass sie mit der entschiedenen Arbeit von Memorial gegen die starken neonazistischen Tendenzen in der Stadt zu tun haben. Auch hier ist zumindest ein Angehöriger der regionalen FSB-Verwaltung in die Angelegenheit verwickelt. Es ist aber nicht ungewöhnlich, dass sich kriminelle Strukturen, aber auch einzelne Unternehmen, FSB-Angehöriger bedienen, um ihre Ziele zu erreichen. Das muss nicht auf offizielles Handeln hinweisen.

Kaum Dialog nach dem Bürger-Forum

Der Burgfrieden zwischen Staat und NGO nach dem Bürgerforum im Herbst 2001 hielt nicht lange. Genauer gesagt: nicht auf allen Ebenen. Während es regional und sektoral durchaus gelang, mit den Behörden dauerhafte Arbeitsbeziehungen zu entwickeln (so zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Zivildienst, teilweise Flüchtlinge) bleiben die Beziehungen zwischen NGO und Kremlapparat vom politischen Tagesgeschehen, sowie von taktischen und strategischen Überlegungen des Kremls bestimmt. Seit 2002 versuchten hochgestellte Mitarbeiter der Präsidentenadministration, die sich darum bemühten, ein aus ihrer Sicht konsolidiertes Parteiensystem zu entwickeln, eine Reihe von NGOs dazu zu bewegen, eine politische Partei zu gründen. Nach deren Weigerung erlahmte das Interesse des Kremls zunächst.

Drei Ereignisse im Spätherbst 2003 führten dann zu einer Wiederbelebung der Anstrengungen – die Verhaftung Michail Chodorkowskijs, die „Rosenrevolution“ in Georgien und die Niederlage der liberalen Parteien bei den Dumawahlen im Dezember. Die Verhaftung Chodorkowskijs beendete die kurze Hoffnung auf langfristige und nachhaltige Finanzierungsmöglichkeiten für NGOs innerhalb Russlands. Bereits im Sommer 2003 – nach der Verhaftung des Jukos-Aktionärs Platon Lebedew, das das Vorgehen gegen den Konzern einleitete – hatten führende NGO-VertreterInnen gemeinsam mit den Vorsitzenden der drei wichtigsten Unternehmer- und Industrieverbände zudem einen offenen Brief an Präsident Putin geschrieben, in dem sie Gespräche zu einem „neuen Gesellschaftsvertrag“ anboten. Der offene Brief blieb ohne Antwort. Die Verhaftung von Michail Chodorkowskij im Herbst 2003, der am Vortag auf einer von Kreml und NGOs gemeinsam organisierten Nachfolgekonferenz des Bürgerforums von 2001 aufgetreten war, wurde von vielen NGOs in öffentlichen Erklärungen verurteilt. Damit begaben sie sich aus Kremlsicht auf verbotenes, im russischen Diskurs als „politisch“ bezeichnetes Terrain.

Der Umsturz in Georgien wurde in großen Teilen der russischen Machtelite als Niederlage gegenüber „dem Westen“ und als Misserfolg der russischen Politik aufgefasst. Zudem eine Niederlage, in der eher „weiche“, beim russischen Politikestablishment und seinen Polittechnologen bis dahin eher gering geachtete Kräfte eine große Rolle spielten. Insbesondere die von der Soros-Foundation unterstützte Studentenbewegung „Chmara“ wurde in der innerrussischen Diskussion als ein entscheidendes, „von außen gesteuertes“ Element der georgischen Revolution wahrgenommen. Nichtregierungsorganisationen verwandelten sich in dieser Perzeption von einer ab und an unangenehmen zu einer potentiell gefährlichen, vor allem aber Russland gegenüber „feindlich“ eingestellten Erscheinung.

Die Niederlage der liberalen Parteien Jabloko und SPS (Union der Rechten Kräfte) bei den Dumawahlen am 7. Dezember 2003 führte in der Präsidentenadministration zur Wiederbelebung der internen Diskussionen um eine „liberale“ oder „rechte“ Partei im konsolidierten Parteiensystem der Gelenkten Demokratie. Bei einem Treffen mit Mitgliedern der Kommission für Menschenrechte beim Präsidenten, der führende NGO-Vertreter angehörten, zeigte sich Präsident Putin drei Tage nach der Wahl über die Niederlage beider liberaler Parteien wenig erfreut.

Steuergesetze und Rat für Zivilgesellschaft

Aus all diesen Gründen stieg im Kremlapparat in der ersten Jahreshälfte 2004 das Interesse an den NGOs. Dies führte zu Aktivitäten in zwei Bereichen: Zum einen gab es bereits seit Beginn 2004 Gespräche zwischen Kremlverwaltung und führenden NGO-Vertretern über die Umwandlung der Kommission für Menschenrechte beim Präsidenten (Vorsitzende: Ella Pamfilowa) in einen Rat zur Förderung der Zivilgesellschaft. Den Verhandlungsführern aus der Präsidentenadministration war insbesondere die Einbindung einer Reihe von oppositionellen NGO-Führungspersonen wichtig. Die Gespräche stockten aus unbekannten Gründen kurz vor der Präsidentenwahl und wurden erst nach Beslan wieder aufgenommen. Die Kommission wurde im Herbst 2004 in den angestrebten Rat umgewandelt, dessen wichtigste Funktion aus Kremlsicht die eines Kommunikationskanals in den zivilgesellschaftlichen Sektor sein soll. Ein Funktion, über die Präsident Putin selbst mehrfach bei Treffen mit NGO-Vertretern gesprochen hatte.

Zum anderen erarbeitete das Finanzministerium eine Änderung der Steuergesetze, die zweckgebundene Zuwendungen betreffen (russisch: „granty“). Zukünftig sollen alle Geberorganisationen, also nicht nur ausländische wie bisher, verpflichtet werden, sich in einer einheitlichen, von der Regierung zu führenden Liste registrieren zu lassen. Nur für „granty“ von registrierten Organisationen sollen die Empfänger künftig keine Gewinnsteuern von 24 Prozent zahlen. Die steuerbefreiten Zwecke werden in dem Gesetzentwurf, hier einer seit 2001 erhobenen Forderung der NGO folgend, erweitert: Neben der Förderung von Kultur, Kunst, konkreter wissenschaftlicher Forschung, dem Schutz der Umwelt und Bildung sollen künftig auch soziale Hilfe und der Schutz der Menschenrechte förderwürdig sein. Als dritte wesentliche Änderung soll künftig jedes steuerbefreite Projekt von einer Regierungskommission begutachtet und genehmigt werden. Zudem kann diese Genehmigung nur erteilt werden, wenn sich eine regionale oder kommunale Behörde schriftlich verpflichtet, die zweckgemäße Verwendung des „grant“ zu garantieren. Diese beiden Vorschriften sind, so sie Gesetz werden, ein Instrument für unmittelbare politische Kontrolle und eine Einladung zur Korruption, wie das soziologische Forschungsinstitut INDEM im Herbst 2004 in einem Gutachten feststellte. Die beschriebenen Gesetzesänderungen wurden am 5. August 2004 von der Staatsduma in erster Lesung angenommen.

Als Resultat intensiver Verhandlungen leitete Ende des Sommers der Leiter der Präsidentenabteilung Dmitrij Medwedjew der Duma eine von Präsident Putin unterzeichnete Stellungnahme zu, in der der Duma empfohlen wird, den Absatz mit der Erweiterung der förderwürdigen Ziele auch in zweiter und dritter Lesung anzunehmen, die Absätze über die Liste von Geberorganisationen und die Genehmigungskommission dagegen zu streichen. Die zweite Lesung sollte Ende Oktober stattfinden. Doch wohl vor allem im Zusammenhang mit den Ereignissen um die Präsidentenwahlen in der Ukraine wurde die zweite Lesung mehrfach verschoben und hat bis zur Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht stattgefunden. Die „orangene Revolution“ in der Ukraine verstärkte Befürchtungen in der Präsidentenadministration, auch russische NGOs könnten zukünftig eine ähnlich entscheidende Rolle spielen, wie die Studentenorganisation „Pora“ in der Ukraine.

Beslan im September 2004

Die Tragödie von Beslan rief im Kreml große Ratlosigkeit hervor. Putins erste Ansprache am 4. September, dem Tag nach dem blutigen Ende der Geiselnahme, war in der Analyse wenig stringent und bot sehr widersprüchliche Erklärungen und Handlungsoptionen an. Der russische Präsident paraphrasierte mit seiner These, Russland habe Schwäche gezeigt „und die Schwachen schlägt man!“ (unbewusst?) Stalin, bemerkte aber auch: „Die Ereignisse in anderen Ländern zeigen: Auf die effektivste Gegenwehr stoßen die Terroristen gerade dort, wo sie es nicht nur mit der Macht des Staates, sondern gleichzeitig mit einer organisierten, solidarischen Zivilgesellschaft zu tun haben.“ Zehn Tage später konkretisierte Putin welche Maßnahmen er zum „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ zu ergreifen gedenke. Die wichtigste war die Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure und Republikspräsidenten. Mit der angestrebten Bildung einer „Gesellschaftskammer“ (Obschtschestwennaja Palata) nahm er die alte Idee einer korporativen Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen wieder auf.

Im Laufe des Herbstes wurde ein Gesetzentwurf für die Schaffung einer „Gesellschaftskammer beim Präsidenten der Russischen Föderation“ vorgelegt. Die Aufgabenbeschreibung dieses Organs ist widersprüchlich. So soll es auf der einen Seite den Präsidenten in allen die Zivilgesellschaft betreffenden Fragen beraten. Auf der anderen Seite soll die Kammer staatliches Handeln einer zivilen und gesellschaftlichen Kontrolle unterwerfen. Auch die Art der Auswahl der Mitglieder der Kammer stößt bei vielen NGOs auf Kritik. Es ist vorgesehen, dass das erste Drittel der insgesamt 126 Mitglieder vom Präsidenten selbst ernannt wird, die nächsten 42 Mitglieder werden von den Ersternannten kooptiert. Weitere 42 Personen werden in sieben in den so genannten Föderalbezirken einzuberufenden Konferenzen „gewählt“, ohne dass der Gesetzentwurf Hinweise gibt, wie diese Konferenzen zustande kommen und welche Wahlverfahren zur Anwendung kommen sollen. Damit sind möglichen Manipulationen Tür und Tor geöffnet.

Die Menschenrechtgesellschaft Memorial hat angesichts dieser Widersprüche Mitte Februar 2005 in einer öffentlichen Stellungnahme erklärt, sich keinesfalls an der Gesellschaftskammer zu beteiligen. Staat und Gesellschaft müssten in einem echten Dialog unabhängige Partner bleiben. „Alle Versuche, diesen Dialog in einem Organ zu konzentrieren, werden lediglich zu einer Imitation dieses Dialogs führen. In einer Kammer, die in das System der staatlichen Macht eingebaut ist, wird der Staat nur mit sich selbst reden.“ Die Diskussion, ob es nicht insbesondere für regionale NGOs geradezu notwendig sein kann, sich an der Gesellschaftskammer oder deren zu erwartender, teilweise bereits existierender kleiner, regionaler Schwestern zu beteiligen hält aber weiter an.

Repression gegen NGOs?

Ohne Frage sind die Handlungsspielräume für NGOs in Russland in den vergangenen Jahren kleiner geworden, eine Entwicklung, die sich 2004 eher noch verstärkt hat. Ihre bisherige Hauptfinanzierungsquelle, ausländische Geberorganisationen, sprudelt weit weniger üppig als noch zu Beginn des Jahrzehnts. Das hat einerseits mit der Umorientierung vor allem amerikanischer Stiftungen und Demokratieförderungseinrichtungen in den Nahen und Mittleren Osten und auch nach China zu tun, andererseits aber auch mit der gezielten Politik des Kremls, die den Zugang zu diesen Finanzierungsquellen erschwert. Dazu gehören das Steuerrecht ebenso wie die verstärkte Bildung von GONGOs („Governmental Non-Governmental Organisations“), die zu den bestehenden NGOs in Wettbewerb um Fördergelder treten. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass für die NGOs seit der Niederlage der liberalen Parteien bei der Dumawahl Ende 2003 die Beeinflussung der Gesetzgebung durch Lobbying und alternative Gesetzesinitiativen mittels befreundeter Abgeordneter und Fraktionen ungleich viel schwieriger, wenn auch nicht unmöglich geworden ist. Als politische Handlungsfelder bleiben ein sehr eingeschränkter Medienzugang, direkte Verhandlungen mit der Exekutive und der traditionelle Versuch über westliche Medien, Politiker und internationale Organisationen, in den Russland Mitglied ist, Einfluss auf die russische Innenpolitik zu nehmen.

Direkte Repressionen treten bisher nur vereinzelt auf und können in den meisten Fällen auf konkrete Interessen einzelner staatlicher (manchmal auch wirtschaftlicher) Akteure zurückgeführt werden. Weit empfindlicher und direkter reagiert der Kreml, wenn sich einzelne NGOs auf tabuisierte Politikfelder begeben. Dazu gehört insbesondere der Krieg in Tschetschenien. Die Überprüfungen der Soldatenmütter durch FSB und Steuerbehörden in den vergangenen Monaten hängen aller Wahrscheinlichkeit nach direkt mit deren Initiative zu Friedensverhandlungen im Tschetschenienkrieg mit Aslan Maschadow zusammen. Zusammengefasst: Es gibt keine systematische Behinderung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, wohl aber bemüht sich der Staat, rechtliche und politische Instrumentarien zu schaffen, um die Tätigkeit von NGOs jenseits direkter Repression kontrollieren und lenken zu können.

Redaktion: Hans-Henning Schröder

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