Gelenkte Pressefreiheit in Russland

Wie frei ist das Fernsehen in Russland? TV-Studio Ostankino.
Bild: Alexander Minza. Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA 2.0. Original: Flickr.

2. Dezember 2010
Von Jens Siegert, Büro Moskau
Von Jens Siegert, Büro Moskau

Trotz aller schrecklicher und entmutigender Nachrichten aus Russland (nur eine kleine, durchaus repräsentative, wenn natürlich bei weitem nicht vollständige Auswahl aus den vergangenen Wochen: Journalist in Moskau ins Koma geschlagen; eine ganze Familie von Banditen mit Deckung der örtlichen Behörden im russischen Süden ermordet; täglich Tote bei Kämpfen im Nordkaukasus im sogenannten „Antiterrorkampf", ohne dass zu sagen wäre, wer dort „Guten" und wer die „Bösen" sind), trotz all dieser schrecklichen Nachrichten also, gibt es doch immer wieder kleine bis kleinste Hoffnungsschimmer. Einige dieser Hoffnungsschimmer kommen seit dem Frühjahr aus dem wichtigsten, ja immer noch entscheidenden Massenmedium (obwohl das Internet aufholt), dem Fernsehen. Es scheint dort mehr erlaubt zu sein als früher.

Doch drei große (und noch ein paar mehr kleine) Tabus wurden bisher nicht angerührt: Keine Kritik an Putin, keine Kritik an Medwedjew und kein Wort über angebliche oder tatsächliche Konkurrenz zwischen den beiden. Der letzte bedeutende Politiker, der über einen solchen Tabubruch befallen ist, war der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow, der nach (wohl orchestrierten) Angriffen gegen ihn in den landesweiten Fernsehkanälen über seinen Moskauer Fernsehkanal (der zudem in vielen anderen Regionen zu sehen ist) verbreiten ließ, Putin stütze ihn gegen Medwedjew. Das büßt er nun im österreichischen Exil (auch wenn es noch nicht so genannt wird).

Dass es nicht mehr Fernsehtabubrecher gibt, liegt aber auch daran, dass es nicht so viele Menschen in Russland gibt, die dazu überhaupt in der Lage sind. Immerhin gebot er über einen „eigenen" Sender. Das kann sonst kaum jemand. Zwei landesweit bekannte Fernsehjournalisten, Leonid Parfjonow und Wladimir Posner, haben es jüngst trotzdem versucht. Beide zudem im ersten Fernsehkanal, dem immer noch wichtigsten und einzigen wirklich überall empfangbaren (auch wenn der zweite, „Rossija" geheißen, nur wenig nachsteht). Über den Sender sind beide Versuche nicht gelangt, wohl aber ins Internet. Bemerkenswert ist aber schon, dass Parfjonow und Posner, beide zwar als liberal aber vorsichtig und letztlich loyal bekannt, es versucht haben. Sie sollen hier als kleines Beispiel der gelenkten Pressefreiheit dienen.

Leonid Parfjonow

Parfjonow hat vom Ersten Kanal, in dem er nicht moderieren darf, einen Preis bekommen, den Wladislaw-Listjew-Preis. Wladislaw Listjew war einer der bekanntesten Perestroika-Journalisten, der erste Generaldirektor des Erster-Kanal-Vorgängersenders ORT und er wurde 1995 ermordet. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt. Parfjonow hat also vorige Woche vom Ersten Kanal den Preis für seine hervorragende journalistische Arbeit bekommen (die er, wie gesagt, im Ersten Kanal nicht zeigen darf). Als Preisträger hielt er während der Preisverleihungszeremonie eine Dankesrede. Im Saal war die Creme der Creme des russischen Fernsehjournalismus, Konstantin Ernst eingeschlossen. Das ist der heutige Chef des Ersten Kanals, also derjenigen, der letztendlich entscheidet, was gesendet wird. Das Thema der Dankesrede war Parfjonow freigestellt. Er entschied sich für den Zustand des Fernsehjournalismus in Russland. Hier ein Auszug:

„Mir wurde vorgeschlagen, so etwa sieben Minuten über ein Thema zu sprechen, dass mir heute besonders aktuell erscheint. Ich bin aufgeregt und werde nicht versuchen, frei zu sprechen. Erstmals im Studio werde ich vom Blatt ablesen.

Ich war heute Morgen bei Oleg Kaschin im Krankenhaus. Er wurde wieder operiert, chirurgisch wurde im direkten und übertragenen Sinn das Gesicht des russischen Journalismus wieder hergestellt. Das brutale Zusammenschlagen des Korrespondenten der Tageszeitung „Kommersant" hat in der Gesellschaft eine viel breitere Resonanz hervorgerufen als andere Anschläge auf Leben und Gesundheit von russischen Journalisten. (...)

Bis zu dem Überfall auf ihn hat Oleg Kaschin für die landesweiten Fernsehkanäle nicht existiert und konnte er für sie nicht existieren. Er hat in der letzten Zeit über die radikale Opposition geschrieben, über Protestbewegungen und über jugendliche Anführer auf den Straßen. Diese Themen und Helden sind im Fernsehen undenkbar. Eine, wie es scheint, marginale Umgebung beginnt etwas an der gesellschaftlichen Situation zu ändern, formiert einen neuen Trend, aber unter den Fernsehjournalisten gibt es einfach keine Kollegen von Oleg Kaschin. Es gab einen, Andrej Loschak, und der ist ganz verschwunden. Ins Internet.

Nach den wirklichen und scheinbaren Sünden der 1990er Jahre wurde in den 2000ern auf zwei Weisen die landesweiten Fernsehkanäle „verstaatlicht": Erst wurden die Medienoligarchen vernichtet, dann Einigkeit im Kampf gegen den Terrorismus hergestellt. Journalistische Themen, und mit ihnen das ganze Leben, teilten sich in fürs Fernsehen geeignete und für Fernsehen nicht geeignete. Hinter jeder politische Bedeutung habenden Sendung werden Ziele und Aufgaben der Staatsmacht erraten, ihre Stimmung, Beziehung dazu, ihre Freunde und Nicht-Freunde. Institutionell ist das schon längst keine Information mehr, sondern staatliche PR und Anti-PR - wie die artistische Vorbereitung der Absetzung Luschkows im Äther - und, natürlich, Selbst-PR des Staates.

Für die Korrespondenten der landesweiten Fernsehkanäle sind hohe Politiker und Beamte keine Newsmaker, sondern die Chefs ihrer Chefs. Institutionell gesehen sind Korrespondenten auch keine Journalisten, sondern Beamte, die der Logik von Dienst und Subordination folgen. Mit dem Chef des eigenen Chefs ist es zum Beispiel unmöglich, ein Interview im wirklichen Sinn zu führen: Also das aufzudecken, was nicht aufgedeckt werden will. Das Gespräch von Andrej Kolesnikow mit Wladimir Putin im gelben Lada Kalina hat es erlaubt, das Selbstbewusstsein des Premierministers zu erspüren, seine Meinung zu (den Präsidentenwahlen, Anm. J.S.) 2012 und seine Uninformiertheit zu unangenehmen Themen. Aber man kann sich die von Kolesnikow an Putin gestellte Frage „Warum haben sie Chodorkowskij in die Ecke gedrängt?" aus dem Mund eines russischen Fernsehjournalisten nicht vorstellen, noch weniger, dass sie dann auch noch ausgestrahlt wird. Das ist erneut ein Beispiel aus dem Kommersant. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass die führende Tageszeitung des Landes (ein durchaus nicht ausdrücklich oppositionelles Blatt) und die landesweiten Fernsehkanäle nicht über das gleiche Russland berichten. (...)

Das Rating von Präsident und Premier liegt etwa bei 75 Prozent. Im landesweiten Fernsehen gibt es über sie nichts Kritisches, Skeptisches oder Ironisches zu hören, folglich wird die Meinung eines Viertels der Bevölkerung verschwiegen. Über die oberste Staatsmacht wird wie über einen lieben Verschiedenen berichtet: entweder nur Gutes oder gar nicht. Welchen Furor rief die wohl einzige Ausnahme hervor, als im Fernsehen der Dialog zwischen Wladimir Putin und Jurij Schewtschuk gezeigt wurde.

Die immergrünen Methoden, die jedem bekannt sind, der noch das Zentrale Fernsehen der UdSSR erlebt hat, bei denen die Reportage durch Protokollaufnahmen von Treffen im Kreml ersetzt werden, durch einen unterstützenden Text unterlegt, und bei denen ein strenger Kanon herrscht: der Staatsführer empfängt einen Minister oder den Chef einer Region, er „mischt sich unters Volk", sitzt einem Summit mit ausländischen Kollegen vor. Das sind keine „Neuigkeiten", sondern „Altheiten", Wiederholungen dessen, was in solchen Fällen berichtet wird. (...)

Nachdem ich in „Ostankino" (zentrales russisches Sendezentrum in Moskau, Anm. J.S.) oder für „Ostankino" 24 Jahre gearbeitet habe, spreche ich darüber mit Bitterkeit. Ich habe nicht das Recht, irgendeinen meiner Kollegen zu beschuldigen. Ich bin selbst kein Kämpfer und erwarte auch von anderen keine Heldentaten. Aber man muss die Dinge doch wenigstens beim Namen nennen.

Es schmerzt mich in Bezug auf den Fernsehjournalismus doppelt trotz aller Errungenschaften bei großen Fernsehshows und der russischen Fernsehserienschule. Unser Fernsehen immer изощреннее будоражит, interessiert, unterhält und belustigt, aber man kann es wohl kaum ein gesellschaftlich-politisches Institut nennen. Ich bin überzeugt, dass das einer der Hauptgründe ist, warum die aktivsten Teile der Bevölkerung dramatisch weniger fern sehen, wenn wir Fernsehleute sagen: „Warum den Kasten einschalten, er wird nicht für mich gemacht."

Noch schrecklicher ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung keinen Journalismus braucht. Wenn die Leute sich aufregen: „Na und, er ist zusammengeschlagen worden, verstehst Du, andauernd wird jemand bei uns zusammen geschlagen und warum machen sie wegen so eines Reporters solch einen Lärm?" Millionen Menschen verstehen nicht, welche Berufsrisiken Journalisten für ihr Auditorium eingehen. Die Journalisten werden nicht dafür geschlagen, was sie schreiben, sagen oder aufgenommen haben, sondern dafür, dass das gelesen wird, gehört und gesehen. Ich danke ihnen."

Das war natürlich starker Tobak. Nicht sendbar. Der Kreml würde toben. Also wurde von der Preisverleihung ein zweieinhalbminütiger Einspieler gezeigt, dazu ein paar Reaktionen von Kolleg/innen und anderen Prominenten. Immerhin kann man sich die Dankesrede von Parfjonow im Internet anschauen und anhören. Die übliche Trennung: Im Fernsehen nichts, im Internet alles.

Wladimir Posner

Im Gegensatz zu Prafjonow ist Wladimir Posner jede Woche im Ersten Kanal mit einer Talkshow zu sehen. Zwar musste er vor einiger Zeit den Prime-Time-Sendeplatz am Sonntagabend um 18 Uhr abgeben und wird nun erst um 23 Uhr gesendet. Das war 2008 im November. Seither ist seine Sendung, die schlicht „Posner" heißt 68 Mal gelaufen. Immer hat er sie mit einem, meist sehr pointierten Schlusswort beendet. Bis auf den 21. November diesen Jahres. Die Sendung wurde gezeigt, das Schlusswort fehlte. Posner selbst ist überzeugt, dass nur Senderchef Ernst diese Entscheidung getroffen haben kann. Mit ihm über diesen Schnitt geredet hat niemand. Hier das Schlusswort im Wortlaut:

„Fast die Hauptmeldung der Woche war der Fall Wiktor But, ein russischer Staatsbürger, der unter dem Verdacht illegalen Waffenhandels zwei Jahre lang in einem thailändischen Gefängnis festgehalten und dann, am vorigen Dienstag, völlig unerwartet in die USA deportiert wurde. Das löste ungeheuren Lärm aus. Außenminister Lawrow erklärte, die USA würden But gegenüber mit doppelten Standards handeln. Schirinowskij und seine Parteigenossen forderten, die Beziehungen zu Thailand abzubrechen und die Beziehungen zu den USA einer Revision zu unterziehen. Das heißt, sie setzten sich für einen russischen Staatsbürger ein, wie nie zuvor. Das bringt mich auf einige Gedanken. Aber Gott mit ihnen, mit den Gedanken.

Ich weiß nicht, ob But nun schuldig ist oder nicht. Das entscheidet das Gericht - das amerikanische Gericht, das, wie ich annehme, nicht weniger objektiv ist als ein russisches. Mir gefällt nicht, wie sich die thailändische Regierung verhalten hat, und auch nicht das Verhalten des amerikanischen Staates. Aber bei all dieser Lärmerei hat mich ein seltsames Gefühl nicht verlassen, das ich, wie man neuerdings sagt, zu Gehör bringe.

Können sich andere menschlich, anständig Deinen Staatsbürgern gegenüber verhalten, wenn diese anderen sehen, dass Du selbst Deine Staatsbürger nicht menschlich behandelst? Worüber rede ich? Lassen Sie uns den Fall des ehemaligen JuKOS-Vizepräsidenten Wassilij Aleksanjan nehmen. Wie lange wurde er im Gefängnis festgehalten? Wie lange wurde er bedrängt, ungeachtet seiner schweren Krankheit (Alksanjan hat AIDS, Anm. J.S.) und dabei völlig die weltweite öffentliche Meinung missachtet? Noch ein Beispiel. Wie lange wurde die schwangere Swetlana Bachmina (Juristin von JuKOS, Anm. J.S.) im Gefängnis festgehalten, ihr ein Besuch ihrer kleinen Tochter nicht gestattet? Auch hier wurde die weltweite öffentliche Meinung missachtet, ja und die russische auch. Wie lange wurde Sergej Magnizkij in der Gefängniszelle festgehalten, ihm medizinische Hilfe verweigert, weshalb er im Gefängnis auch starb? Erneut wurde die öffentliche Meinung vollständig missachtet.

Also: Wenn die Welt sieht, wie Russland mit Menschen umgeht, deren Schuld nicht bewiesen ist, mit ihnen nicht nur nicht menschlich, sondern unmenschlich umgeht, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Welt nicht ganz korrekt - oder sogar völlig unkorrekt - mit russischen Staatsbürgern umgeht. Und eine Frage: Wenn wir selbst unmenschlich mit unseren Staatsbürgern umgehen, warum sind dann keine Stimmen von Seiten eben desselben Schirinowskij und solcher wie er zu hören?"

Wladimir Posner ist nicht naiv. Er wurde 1934 als Sohn eines russisch-jüdischen Emigranten und einer Französin geboren. Vor den Deutschen rettete sich die Familie in die USA. Diesen Zufluchtsort mussten sie in der McCarthy-Ära als Kommunisten verlassen. Nach Frankreich gab es keine Einreisegenehmigung, also gelangten sie über Ostberlin 1952 in die Sowjetunion. Posner wurde Journalist und später zu Perestroika-Zeiten populärster Fernsehmann der Sowjetunion. Heute steht er der Russischen Fernsehakademie vor, einer Art Gilde der russischen Fernsehjournalisten.

Der Mann weiß also was er tut, er weiß in der Regel, was man gerade noch darf und er darf angesichts seiner Geschichte, seiner Popularität und seiner Autorität immer ein wenig mehr als andere. Wenn Posner sich also im Schlusswort seiner Sendung für zwei ehemalige JuKOS-Mitarbeiter/innen einsetzt, dann liegt was in der Luft. Nur was? Begleitmusik für die Re-Europäisierung der russischen Politik? Oder tatsächliche und substantielle politische Veränderungen? Wahrscheinlich weiß das so wirklich genau niemand. Und es kann ja sein, dass das Zweite aus dem Ersten erwächst, auch gegen die Intentionen der Planer und Lenker dahinter. Muss aber leider nicht.

Dieser Beitrag erschien zunächst auf dem Russland-Blog von Jens Siegert.