Der europäische Wohlfahrtsstaat oder die Wohlfahrtsstaaten der Europäischen Union?

Gegen Sozialabbau in der EU, DGB-Maidemonstration Berlin, 1. Mai 2012. Bild:UweHiksch Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0 Original: flickr.com

25. Juni 2012
Uwe Puetter
Sichert die Europäische Union (EU) die Zukunft des Wohlfahrtsstaats in Zeiten der Globalisierung? Wenn sie es derzeit nicht oder nicht ausreichend tut, ist sie generell in der Lage und vor allem in einer besseren Position als die Mitgliedsstaaten, sich dieser Herausforderung zu stellen? Verschärft die Krise den Druck zu handeln und könnte sie sogar letztlich zu einer verstärkten sozialpolitischen Integration – einem europäischen Wohlfahrtsstaat führen?

Verknüpfung zwischen sozialpolitischer und währungspolitischer Integration

Genau die gleichen Fragen hätten Mitte der 1980er und 1990er Jahre gestellt werden können und sie wurden in der Tat gestellt. Das Bemerkenswerte ist, die Antworten fallen heute nicht viel anders aus als damals. Damals wie heute ist die Frage der sozialpolitischen Integration direkt mit der Frage nach der Zukunft des Projekts der europäischen Währungsintegration verknüpft. Damals wie heute kam die Frage nach einer stärkeren Rolle der EU im Bereich der Sozialpolitik als Reaktion auf wachsende Befürchtungen auf, dass der Wegfall der klassischen monetären und fiskalpolitischen Instrumente nationaler Politik im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu einer Schwächung der jeweiligen sozialstaatlichen Instrumentarien auf nationaler Ebene führen würde.

In der Tat bedeuteten die 1980er Jahre mit der fortschreitenden Implementierung des Binnenmarktprogramms und der Vorbereitung der Entscheidung, die WWU zu begründen, eine erhebliche Verschärfung des Wettbewerbsdrucks insbesondere für mehrere südeuropäische Staaten. Die EU reagierte Anfang der 1990er Jahre indem sie die Entscheidung, den Weg zur WWU mit dem Vertrag von Maastricht zu ebenen, mit der deutlichen Ausweitung interregionaler Transferzahlungen – dem sogenannten zweiten Delors-Paket – und der Erweiterung ihrer gesetzgeberischen Kompetenzen im sozialpolitischen Bereich. Letzteres schloß die Möglichkeit von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in neuen Bereichen ein und wurde durch die Unterzeichung des an den Vertrag von Maastricht angefügten Sozialprotokolls besiegelt.

Die Nord-Süd-Dimension

Die Nord-Süd-Dimension dieser Entscheidungen war nicht zu übersehen. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zeigte die Konsolidierungswelle im Vorfeld der Einführung des Euro den engen Zusammenhang zwischen fiskalpolitischer Koordinierung und der Frage nach dem Spielraum einzelner Länder, ihr sozialpolitisches Instrumentarium zu gestalten, auf. Unter anderem zeigte das Beispiel Italien wie tiefgreifend die Reformpolitik war. Zur gleichen Zeit führte die anhaltend schwierige Lage auf dem europäischen Arbeitsmarkt dazu, dass die EU verstärkte Handlungsfähigkeit in diesem Bereich zu demonstrieren suchte. Diesmal stand nicht die Aufstockung von Finanzinstrumenten und die Ausweitung der gesetzgeberischen Kompetenzen im Vordergrund, sondern die Etablierung eines Systems der verstärkten Koordinierung nationalstaatlicher Politiken im Bereich Soziales und Beschäftigung.

Die Ost-West-Dimension

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Frage nach der Rolle der EU in Bezug auf die Zukunft des Wohlfahrtsstaates jedoch nicht nur eine Nord-Süd, sondern auch eine Ost-West-Dimension bekommen. Die zentrale Bedeutung der Euro-Krise für die europäische Agenda bringt gegenwärtig das Risiko mit sich, dass die zukünftigen Folgen der EU-Ostweiterungen von 2004 und 2007 für die soziale Dimension der europäischen Integration unterschätzt werden. Im Vergleich zum zweiten Delors-Paket in den 1990er Jahren war diese historische Erweiterung der Union für den EU-Haushalt ‚billig‘. Tatsächlich hat sich mit den Erweiterungen die sozialpolitische Divergenz in der Union aber massiv erhöht. Zu glauben, dass dies mittel- und langfristig ohne Folgen für den Zusammenhalt der Union bleiben wird, wäre naiv. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch in den meisten der neuen Mitgliedsstaaten erheblich Spuren hinterlassen.

Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen und verstärkte Koordinierung

Beide Modelle zur Belebung der sozialen Dimension der EU – Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen und verstärkte Koordinierung – sind bislang gescheitert. Ab Ende der ersten Hälfte der 1990er Jahre ist die Ausweitung der europäischen Sozialgesetzgebung gemessen am substantiellen Gehalt der Maßnahmen de facto zum Stilstand gekommen. Die neue Koordinierungsagenda brachte viele interessante Ansatzpunkte, sie scheiterte aber an der mangelnden politischen Begleitung auf höchster Regierungsebene. Das Beispiel der fiskalpolitischen Koordinierung zeigt, wie wichtig die direkte Involvierung der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat in Bezug auf die Kernbereiche nationaler Wirtschafts- und damit auch Wohlfahrtsstaatspolitik ist. Die Kommission und das Europäische Parlament können sich dieser Logik nicht wiedersetzen. Vor allem das Europäische Parlament kann sich jedoch verstärkt darauf beziehen. Abgesehen davon sind auf europäischer genauso wie auf nationaler Ebene Fragen der Zukunft des Wohlfahrtsstaates vor allem Fragen der jeweiligen politischen Mehrheiten.

Ohne soziale Agenda in die Krise

Die EU ist in die gegenwärtige Krise ohne soziale Agenda gegangen. Im Gegenteil – die Dramatik der Frage der finanzpolitischen Koordinierung hat die sozialpolitische Koordinierungsagenda völlig aus dem Fokus geraten lassen. Dabei wird die Ausklammerung der sozialen Dimension aus der Diskussion um finanzielle Konsolidierung immer schwieriger werden. Mitgliedsstaaten, die sich in extremer Schieflage befinden werden die langfristige Stabilität ihrer sozialen Sicherungssysteme nicht garantieren können. Altersarmut und erhebliche soziale Verwerfung werden die Folge sein. Die Fähigkeit der EU als Ganzes wie ursprünglich geplant Fortschritte in diesen Bereichen zu machen, ist massiv eingeschränkt. Die Kompatibilität der sozialen Sicherungssysteme innerhalb der EU wird künftig noch schwerer zu gewährleisten sein. Der verstärkte innereuropäische Wettbewerbsdruck lässt Fortschritte im Bereich der sozialen Standards durch gesetzgeberische Maßnahmen noch unwahrscheinlicher werden als es bisher der Fall war.

Gemeinsame europäische Lösungsstrategien auf höchster Ebene

Die Sozialpolitik braucht Aufmerksamkeit auf höchster politischer Ebene. Dabei sollte die sogenannte Gemeinschaftsmethode nicht gegen die Bedeutung der intergouvernementalen Koordinierung ausgespielt werden und umgekehrt. Die Rolle der Mitgliedsstaaten als Wohlfahrtsstaaten ist dafür viel zu wichtig. Den europäischen Wohlfahrtsstaat gibt es nicht, so schlüssig das Argument, dass es ihn bräuchte auch erscheinen mag. Sicher ist, dass gemeinsame europäische Lösungsstrategien der einzige Weg sind, wohlfahrtsstaatliche Instrumente zu stärken und nachhaltig zu entwickeln. Dies wird nicht durch einen technokratischen Prozess erreicht werden, sondern bedeutet ein stark politisiertes Verfahren, dessen Ausgang unklar ist. Dabei ist jedoch klar, dass ohne neue interregionale Finanzierungsinstrumente die soziale Agenda der Union keine Belebung erfahren wird. Solche Instrumente sind nur ein Teilaspekt europäischer Wohlfahrtspolitik aber die Krise macht diesen Bestandteil wichtiger denn je. Die Diskussion darüber verlangt insbesondere von Ländern wie Deutschland ein Umdenken.


 

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Uwe Puetter ist Professor an der Central European University in Budapest und Direktor des dortigen Center for European Union Research.

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