Aus Erfahrung klug werden

Atomkraftwerk in Biblis
Bild: springfeld, Lizenz: Creative Commons BY-NC 2.0, Original: Flickr

18. März 2011
Ralf Fücks
Ralf Fücks

Als vor 25 Jahren erstmals ein Atommeiler in Tschernobyl explodierte, schien das Ende dieser Form der Stromproduktion gekommen. Tatsächlich kam der Neubau von Kernkraftwerken weitgehend zum Erliegen. In Schweden und Deutschland wurde der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Aber mit den Jahren verlor der Name Tschernobyl seine Bannkraft. Union und FDP setzten den von Rot-Grün erstrittenen Atomkonsens außer Kraft, von einer globalen „Renaissance der Atomenergie“ war die Rede. Das war gestern. Heute findet vor unseren Augen ein neues nukleares Drama statt. Die Besatzung des Kernkraftwerks Fukushima kämpft verzweifelt gegen die ganz große Katastrophe. Der Ballungsraum Tokio mit seinen 35 Millionen Einwohnern ist keine 300 Kilometer entfernt.

Wird nun „Fukushima“ zur neuen Chiffre für das Ende des Atomzeitalters? Für Deutschland trifft das wohl zu. International bleibt die Antwort offen. Aber diesmal wird es Energiekonzernen und Regierungen noch schwerer fallen, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Das gilt zumindest für den demokratischen Teil der Welt, wo der Einsatz von Risikotechnologien nicht einfach von oben verordnet werden kann. Tschernobyl konnte noch als das Versagen eines bankrotten kommunistischen Systems abgetan werden. Dagegen ereignet sich der aktuelle Atomunfall in einer hochindustriellen Zivilisation mit einer ausgeprägten Risikokultur. Ausgelöst wurde sie von einer Naturkatastrophe. Sie legte mit einem Schlag die Verwundbarkeit der technischen Zivilisation offen. Naturkatastrophe und industrielle Katastrophe gingen ineinander über. Man kann einige hunderttausend Menschen im direkten Umkreis der havarierten Atommeiler evakuieren, aber eine Megametropole wie Tokio kann nur hilflos zusehen, wie sich der Unfall entwickelt und wohin der Wind weht. Gütertransport, Flugverkehr, Strom- und Wasserversorgung sind massiv eingeschränkt, die Industrieproduktion bricht ein, die Börse rauscht in den Keller. Ein ganzes Land taumelt dem Notstand entgegen.

Ist es Hysterie und Nabelschau, wenn angesichts dieser Ereignisse in Deutschland der Ruf nach dem Ausstieg aus der Atomenergie unüberhörbar wird? Zweifellos sind Ängste im Spiel. Sie als irrationale Aufwallung abzutun, ist komplett daneben. Die Angst vor der atomaren Katastrophe hat einen rationalen Kern. Welchen Beweis braucht es noch, dass der Sicherheit von Atomkraftwerken nicht zu trauen ist? Was gestern noch ein zu vernachlässigendes Restrisiko war, kann schon heute verheerende Wirklichkeit werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Unwahrscheinliche geschieht. Je länger Anlagen am Netz bleiben, die heute nicht mehr genehmigungsfähig wären, desto höher das Risiko eines katastrophalen Unfalls.

Es ist folgerichtig, dass der Protest sich in erster Linie gegen die Uralt-Kraftwerke richtet. Auch die Atommeiler von Fukushima waren ursprünglich auf 30 Jahre ausgelegt. Ohne Laufzeitverlängerung wären sie heute längst vom Netz. Wir sollten dieses Spiel mit dem Feuer nicht wiederholen. Mag die Bundesregierung mit ihrem Blitz-Moratorium für die ältesten Atomkraftwerke nur ein wahltaktisches Manöver im Sinn haben - ein Zurück zum status quo ante gibt es nicht mehr. Auch weil es sich für die Betreiber nicht rechnet, die alten Mühlen auf den aktuellen Stand der Sicherheitstechnik zu bringen. Deshalb gehen in Deutschland nicht die Lichter aus. Im Gegenteil: der beschleunigte Ausstieg aus der Kernenergie bereitet den Boden für verstärkte Investitionen in regenerative Energien, denen ohnehin die Zukunft gehört.

Oft wird suggeriert, der Ausstieg aus der Atomenergie sei ein deutscher Sonderweg, dem keiner folgen will. Dabei stand die behauptete „Renaissance der Atomkraft“ schon vor Fukushima auf wackligen Füßen. Tatsächlich nimmt die Zahl der Atomkraftwerke weltweit stetig ab. In den nächsten 15-20 Jahren gehen mehr alte Anlagen vom Netz, als neue in Betrieb genommen werden. Kein Unternehmen wagt heute den Neubau eines Atomkraftwerks ohne staatliche Subventionen und Bürgschaften. Neue Anlagen werden vor allem dort gebaut, wo Staat und Energiewirtschaft eine unheilige Allianz bilden. Die Kosten explodieren. So hat sich der kalkulierte Baupreis des neuen Atomkraftwerks im finnischen Olkiluoto bereits von 3 Milliarden Euro auf rund 5, 4 Milliarden erhöht. Dazu kommen die ungelösten Probleme der Endlagerung, die enormen Stillegungskosten und die hohe Störanfälligkeit dieser Technologie. Werden jetzt im Gefolge der japanischen Unfallserie die Sicherheitsstandards erhöht, steigen die Kosten der Atomkraft weiter.

Mit der weiteren Verbreitung der Atomenergie wächst auch die Gefahr der nuklearen Proliferation. Zivile und militärische Atomtechnik sind siamesische Zwillinge. Es gibt keine zuverlässige Mauer zwischen beiden – siehe das iranische Atomprogramm. Es ist reine Illusion, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, während man zugleich Atomtechnologie in alle Welt exportiert. Auch der Klimawandel taugt nicht als Argument pro Atomkraft. Die Kernenergie hat mitnichten das Potenzial, einen entscheidenden Beitrag für den Klimaschutz zu leisten. Zurzeit tragen weltweit 436 Reaktoren etwa sechs Prozent zum Primärenergieverbrauch bei. Um einen relevanten Beitrag zur CO-2-Reduktion zu leisten, wäre ein Ausbau auf mindestens 1.000 bis 1.500 Reaktoren erforderlich. Man muss kein Angsthase sein, um das für ein Horrorszenario zu halten.

Entgegen dem Mantra der Bundesregierung taugt die Atomenergie auch nicht als Brücke ins Solarzeitalter. Schon heute deckt die Windenergie bei günstiger Wetterlage und geringer Nachfrage den gesamten deutschen Strombedarf. Weil die Leistung der großen Atom- und Kohlekraftwerke nicht rasch abgeregelt werden kann, wird der Überschussstrom zu negativen Preisen exportiert. Dieser Systemkonflikt wird mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien noch schärfer werden. Die Zukunft der Energieversorgung besteht aus einem weiträumigen Verbund von Windstrom, Wasserkraft, Solarenergie, Biomasse und dezentralen Gaskraftwerken. Parallel brauchen wir eine Effizienzrevolution, die den Energieverbrauch drastisch senkt. Wenn wir auf diesem Weg vorangehen, können wir zum globalen Kompetenzzentrum für die Energiewende werden.

Wer behauptet, die Atomfrage habe angesichts der japanischen Tragödie nichts im Wahlkampf verloren, verdreht den Sinn demokratischer Wahlen. Wann, wenn nicht jetzt soll über die künftige Energiepolitik der Bundesrepublik entschieden werden?

--

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung DIE WELT.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

Dossier

Mythos Atomkraft

 Nach dem Atomunfall in Japan ist die Atomdebatte wieder aufgeflammt. Das Dossier liefert atomkritisches Know-How zu den großen Streitfragen um die Atomenergie.

Dossier

Tschernobyl 25 – expeditionen

Am 26. April 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Nicht nur Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden verstrahlt. Die radioaktive Wolke überzog halb Europa. Die Katastrophe war aber nicht nur eine ökologische. Die Entwicklung der Kultur einer ganzen Region wurde unwiderruflich gestoppt. Die Ausstellung „Straße der Enthusiasten“, Lesungen, Diskussionen und ein internationales Symposium erinnern an den GAU und fragen, ob eine weltweite Renaissance der Atomkraft tatsächlich Realität wird.