Zuerst verschwanden die Bäume

Makoko. Foto: Heinrich-Böll-Stiftung. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

29. November 2010
Von Steven Geyer
Hier draußen vor der Stadt schleicht er wie ein Phantom durch die Hütten. Hier, wo das schwarze Brackwasser nicht nur vor den Häusern steht, sondern auch zwischen ihnen, unter ihnen, in ihnen, hier sprechen sie noch zweifelnd und leise über ihn. Es ist nicht ganz klar, wer ihn gegen sie heraufbeschworen hat. Aber auch in Makoko, dem riesigen Slum aus windschiefen Pfahlbauten in der stinkenden Lagune vor Nigerias Millionenmetropole Lagos, haben sie vom Klimawandel gehört.

Dorfoberhaupt Emmanuel Shamade, ein stämmiger Mittfünfziger im weiten, bunten Hemd, sitzt auf der Bank im düsteren Obergeschoss seines Diensthauses, eines der wenigen mit zwei Etagen. Zwischen 100 000 und einer halben Million Menschen leben heute auf dem Wasser der Lagune, sagt er. Genauer weiß man das nicht, weil sich die Stadt Lagos nicht für sie interessiert. Sie sieht zu, wie in Makoko Hütte für Hütte auf Pfählen in die Lagune gebaut wird, wie das Wasser immer schwärzer wird und immer fauliger riecht. Wo es sich staut, schwimmen Müll und Fäkalien. Kinder, die trotzdem darin baden, haben danach oft Würmer unter der Haut.

„Doch wohin sollen wir sonst?“, fragt Chief Shamade. Wir, das sind Fischer, „wie die Väter unserer Väter“, die vor siebzig Jahren die ersten Pfähle in den Strand schlugen und Dielen darauf nagelten, weil der Platz an der Küste zu eng wurde. Seither wuchert Makoko in die Lagune am Atlantik, während das Meer immer mehr vom Strand wegspült. Auf der anderen Seite der Bucht wuchsen Wolkenkratzer, Banken, später Villen und Golfplätze. Lagos wurde zu einer der Wirtschaftshauptstädte Afrikas, verdiente am Handel und vor allem an der Öl-Förderung im Niger-Delta. Nigeria ist der achtgrößte Ölexporteur der Welt. Aber in Dörfern wie Makoko sind die Menschen arm geblieben. 80 Prozent der Nigerianer fehlt regelmäßiger Zugang zu Strom und Treibstoff.

Durch die Bretterwand in Emmanuel Shamades Hütte dringt der Geruch von Qualm und Moder. Er erzählt davon, wie er zum ersten Mal vom Klimawandel hörte. Mitarbeiter einer Hilfsorganisation vom Festland kamen, um ihn zu warnen: Ihr müsst eure Häuser höher bauen, denn das Meer wird ansteigen. Shamade winkte ab. Sie wollten den Menschen in Makoko nur Angst machen, um sie aus der Bucht zu vertreiben, dachte er. Inzwischen ist er sich da nicht mehr so sicher. Nach der jüngsten Regenzeit ging das Meer nicht mehr zurück wie früher. In der Schule wird seitdem im Obergeschoss unterrichtet. Unten blieb der Boden überflutet.

Vielleicht sah es einst malerisch aus, wie die Fischer am Morgen mit vollen Netzen heimkamen; wie die Frauen ihre Gondeln geschickt mit langen Holzstaken durch das tropische Venedig manövrierten. Heute ist im Lagunenwasser kein Leben mehr, die Fischer müssen immer weiter hinaus auf den Atlantik. Auch dort werden die Fische weniger, sagt der Chief. Er habe gehört, auch das liege am Klimawandel. Es soll mit dem Dreck zu tun haben, den die Autos in Europa und Amerika in die Luft blasen, sagt Shamade, und hebt die Brauen, als habe er dieses Phantom endlich zu fassen bekommen.

Vielleicht ist es ja tatsächlich so. Auch über das Schicksal der Hunderttausenden in Makoko wird verhandelt, wenn jetzt am Wochenende Politiker, Umweltschützer und Lobbyisten aus aller Welt nach Cancún in Mexiko reisen. Wieder berät die Welt auf einem Klimagipfel, wie es nach Auslaufen des Kyoto-Protokolls 2012 weitergehen kann. Darin hatten sich die Industrieländer verpflichtet, gegenüber 1990 durchschnittlich 5,2 Prozent weniger Treibhausgase pro Jahr auszustoßen. Es war ein kleiner Schritt, denn selbst wenn der Norden den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen sofort  einstellte, würde es rund hundert Jahre dauern, bis die Temperaturen auf der Welt nicht mehr steigen und Gletscher und Polkappen nicht mehr schmelzen.

Falls man sich auf das Ziel vom Kopenhagener Gipfel doch noch einigt und die Erde sich in diesem Jahrhundert nur um zwei Grad Celsius erwärmt, steigt der Meeresspiegel wahrscheinlich um zwei, drei Meter, sagen Wissenschaftler. Das sei noch verkraftbar. Nur: Makoko würde dann weggespült. Hunderttausende müssten nach Lagos fliehen, das bis 2015 ohnehin zur drittgrößten Stadt der Welt anwachsen wird. Und an dessen Küsten längst schon der Atlantik frisst. Lagos liegt nur knapp über dem Meeresspiegel.

Doch Nigeria ist groß. Auf der zweieinhalbfachen Größe Deutschlands gibt es im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas mehr als 152 Millionen Menschen. Mit dem Auto fährt man von Lagos im Südwesten einen ganzen Tag bis in die Sahelzone, wo das Land an den Niger grenzt. Im Norden, aus der Umgebung der Stadt Yobe, stammt die Familie von Kire Audu. Er selbst lebt heute als Bauer weiter südlich, näher an der Hauptstadt Abuja, in der Savanne. Sein Hof ist leicht zu finden: Während die Umgebung staubig und baumlos ist, sind Audus Lehmhäuser von dunkelgrünen Pflanzen und hohen Bäumen umgeben. „Nein, das ist kein Zufall“, sagt er, „die Bäume habe ich gepflanzt, gepflegt und davor geschützt, dass sie als Feuerholz gefällt werden.“

Obwohl er nie im Norden gewesen sei, so hätten doch seine Großeltern die Macht jenes unheilvollen Phantoms mit eigenen Augen gesehen und davon berichtet: Wie die Regenzeit sich verkürzte. Wie die Ernten magerer wurden. Wie sich die Wüste nach jeder Dürre weiter nach Süden ausgedehnt hatte. Allein im Grenzland von Niger und Nigeria finden sich heute die Ruinen von rund 200 Dörfern im Wüstensand, berichten Umweltorganisationen. Auch Audus Großeltern hatten kaum noch Futter und Wasser für ihre Rinder. Also zogen sie nach Süden. Doch die Angst vor dem, was sie vertrieben hatte, saß ihnen für immer im Nacken. „Sie erzählten uns davon, wie zuerst die Bäume verschwanden, dann verschwand das Gras und dann die Erde“, sagt Audu. „Als das dann  im Dorf meiner Eltern begann, zog auch ich nach Süden. Hierher.“ Hier würde er nicht zulassen, dass jemand die Bäume vor seinem Hof fällt. Doch es sind bereits die letzten der Umgebung, von den Mangobäumen abgesehen, deren Früchte auf dem Markt verkauft werden. Ob er sich so gegen das stemmen kann, was da aus dem Norden auf ihn zuzukommen scheint? „Das liegt in Gottes Hand“, sagt Audu.

Nur zwei Autostunden entfernt liegt das Dörfchen Cifatake, und doch ist man dort weniger gelassen. Hier ist der Klimawandel kein Phantom mehr. Das versucht der Agrarexperte Mustapha Hauwa von der Hilfsorganisation Tubali den Bauern klarzumachen. „Ihr müsst von Mais auf Yamswurzeln umsteigen, für Mais wird das Wasser künftig nicht reichen“, sagt er. „Und lasst euch nicht von irgendwelchen Papieren beeindrucken, die euch die Holzhändler zeigen! Die dürfen hier nichts abholzen, das ist verboten!“

Die Bauern nicken. Unter ihnen ist auch Aliyu Mallam, 47, Mann von zwei Frauen und Vater von zwölf Kindern. Er sorgt sich um seine Hirse-Felder. „Wir brauchen mehr Dünger“, klagt er. „Der Kuhmist, der unseren Großvätern noch gereicht hat, genügt schon lange nicht mehr für eine gute Ernte.“ Auch das liegt am Klimawandel, sagt Hauwa. Seine Organisation weiß aus Wetterdaten, dass die Regenzeit in den vergangenen dreißig  Jahren nicht nur  kürzer, sondern auch immer heftiger ausfiel. Und der starke Regen wasche die Nährstoffe aus den Böden.

So wie die Äcker vertrocknen, geschieht das auch mit den Weiden. „Inzwischen rücken die Routen der Fulani-Viehhirten immer näher an unsere Felder“, sagt Bauer Mallam. Noch hat es keinen Ärger gegeben, aber südlich von hier liefern sich Viehhirten und Bauern blutige Kämpfe um Land und Wasser. Europäische Medien erklären die Konflikte dann meistens als Kämpfe zwischen Christen und Moslems, weil die Religion oft als Anlass herhalten muss. „In meinem Brunnen“, sagt Mallam  auf die Frage, ob er Angst vor solchen Zusammenstößen hat, „ist genug Wasser.“

„Noch!“, entgegnet der Entwicklungshelfer Hauwa. Der Bauer tätschelt ihm den Arm. Er solle bis zum Abend bleiben, dann könne er das Fußball-Spiel mit ihm ansehen.

„Tja, alle hier werfen abends den Generator an, um fernzusehen“, sagt Hauwa mit schuldbewusstem Grinsen. „So trägt auch Cifitake leider seinen Teil zum Klimawandel bei.“ Abends sind die Bauernhöfe gehüllt in den Qualm der Lagerfeuer und Benzinabgase. Hauwa hat noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

In Nigerias Hauptstadt  denkt man in anderen Dimensionen. Abuja wurde in den 70er-Jahren am Reißbrett erdacht und ins Zentrum des Landes gebaut. Heute leben 1,5 Millionen Menschen in der sauberen Stadt. Ebenso rasant stellt sich die Regierung den Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren Energie vor. „Wir wollen Nigeria bis 2030 auf eine CO2-freie Energieversorgung umstellen“, sagt Victor Fodeke, der Leiter der Klimaschutzabteilung im Umweltministerium. Durch Ausbau der Wind-, Sonnen-, Wasser- und auch Atomkraft werde man zugleich dafür sorgen, dass alle Nigerianer Zugang zu Energie bekommen.

Wenn Yahaya Ahmed derlei Versprechen hört, wird er wütend. Rein gar nichts tue die Regierung für den Energiewandel. Der Nigerianer hat fünfzehn Jahre in Deutschland gelebt, zuerst als Student, dann als Ingenieur und Wissenschaftsjournalist. Immer wieder hat er berichtet, dass gerade in der  regionalen Wirtschaftsmacht Nigeria die Menschen ohne Strom auskommen müssen, dass sie das Klima mit Generatoren und Lagerfeuern schädigen.

Irgendwann wollte er selbst eingreifen. Ende 2004 kaufte er von seinem eigenen Geld fünfzig Solarkocher für Nigeria: Parabolspiegel mit drei Meter Radius und einer Kochstelle in der Mitte. Er brachte die Geräte selbst in seine Heimat im Bundesstaat Kaduna, fuhr von Dorf zu Dorf, verschenkte die Solarkocher, bewarb das CO2-freie Kochen.

Er scheiterte an einem nicht unwesentlichen Detail. „Die Frauen kochen hier abends, dann scheint keine Sonne“, sagt er heute. „Vielen ist es auch peinlich, vor der Hütte zu kochen. Anderen fehlte am Essen der Rauchgeschmack des Feuers.“

Es ist nicht leicht, ein Klima-Retter zu sein. Aber Ahmed gibt nicht auf: Jetzt hat er einen energieeffizienten Feuerholz-Ofen aus wärmeisolierendem Metall aufgetan, dessen Einzelteile er aus Deutschland importiert. Die Frauen benötigen damit 80 Prozent weniger Holz zum Kochen. Vom ersparten Geld können sie bei Ahmed den Preis für den Herd abstottern. Seit 2008 hat er 3.400 der Öfen verkauft, inzwischen unterstützen die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung und das UN-Klimaschutzprogramm sein Projekt.

In zehn Jahren wird er für fast 300.000 Tonnen CO2-Einsparung in Nigeria gesorgt haben. „Das ist das einzige Klimaschutzprojekt in unserem Land, das funktioniert“, sagt Yahaya Ahmed. Die Regierung kündige immer viel für den Klimaschutz an, tatsächlich interessiere sie sich aber nur für ihre Rohölverkäufe nach Europa, Amerika, China. Der weltweite Energiehunger wächst und mit ihm der CO2-Ausstoß. „Am Ende weiß unsere Regierung, dass ihr die Ölförderung im Niger-Delta Milliarden einbringt. Warum sollte sie auf Solarkraft umsteigen?“

In Lagos lässt sich besichtigen, wie reich das Öl die  Spekulanten macht. „Hollywood“ nennen die Leute das Villenviertel am Atlantik, wo die oberen Zehntausend wohnen. Doch auch die sind nicht sicher vor dem Phantom, das sie mit der Ausbeutung des Bodens heraufbeschwören. Weil der Sand für den Beton ihrer Villen aus dem Meer gebaggert wird, wird der Ozean vor der Stadt tiefer, werden die Wellen mächtiger. Vor zehn Jahren war der Strand 200 Meter breit, heute schwappt das Wasser gegen die Grundstücksmauern. Die Immobilienpreise fallen, die Reichen ziehen weiter. Früher oder später scheint hier jeder auf der Flucht zu sein.

....
Der Text von Steven Geyer wurde zuerst in der Frankfurter Rundschau abgedruckt.

Mehr Informationen rund ums Klima


Galerie Nigeria