Schlussfolgerungen für die weltweite Sicherheit der Atomkraftwerke

 

14. März 2011
Mycle Schneider

Waren die Ereignisse in Japan voraussehbar?

Mycle Schneider: Erdbeben waren in Japan vorhersehbar. Die Grössenordnung offensichtlich nicht unbedingt. Doch hatte es eine sehr präzise Vorwarnung gegeben: vor 3,5 Jahren gab es ein Erdbeben durch das alle 7 AKWs von Kashiwasaki an der Westküste Japan's vom Netz gingen. Bis heute produzieren 3 dieser Reaktoren noch keinen Strom. Das reale Beben hatte die Auslegung um mehr als den Faktor 2 überstiegen.

In Japan wurde die nukleare Katastrophe durch eine Verkettung von zwei Naturkatastrophen ausgelöst, einem Erdbeben und einem Tsunami. Eine solche Verkettung ist in vielen Teilen der Welt nicht vorstellbar. Welche Schlußfolgerungen können aus diesen Ereignissen für die weltweite Sicherheit der Atomkraftwerke gezogen werden?

In vielen anderen Teilen der Welt hat man diese Verkettung bereits in der Vergangenheit erlebt. Seit dem 11. September 2001 weiss man, dass die Logik der Wahrscheinlichkeitsrechnung falsch ist. Seit dem 11. März 2011 weiss man, dass sie mathematisch falsch ist.

Die Atomkraft erlebt die letzten Jahre eine "verbale Renaissance": Zahlreiche Länder haben Neubauten angekündigt, Länder wie Schweden haben den Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen. Wie kommt es, dass die Atomkraft wieder salonfähig ist, obwohl der Supergau vor 25 Jahren in Tschernobyl und zahlreiche Störfälle deutlich gezeigt haben, dass diese Technologie nicht beherrschbar ist ?

Punkt eins: Moderne Propaganda mit viel Finanzaufwand (allein die letzte AREVA Kampagne soll 15 Mio € gekostet haben) funktioniert.
Punkt zwei: Tschernobyl ist vor einer Generation passiert. Die Journalistin eines grossen deutschen Fernsehsenders hat sich heute von mir Three-Mile-Island buchstabieren lassen, wo 1979 eine Kernschmelze stattfand. Und selbst Kashiwasaki, ein Atomkraftwerk mit 7 Reaktoren, das von einem massiven Erdbeben erschüttert wurde und wo bis heute 3 Reaktoren den Betrieb nicht wieder aufnehmen konnten, ist niemandem ein Begriff.
Punkt drei: Die nationalen Energiepolitiken haben versagt. Überall. Auch in Deutschland. Während auf dezentraler Ebene, in Städten und Gemeinden, Kreisen und Ländern, oft innovativ und exemplarisch Energiepolitik betrieben wird, hat sich die staatliche Politik auf den Technologieanschub begrenzt. Massenweise Windmühlen bauen und Dächer mit PV bepflanzen reicht nicht. Der gigantische, unbedachte Verbrauchsanstieg (+1000 kWh = +15 Prozent pro Kopf in Deutschland zwischen 1992 und 2008) hat den positiven Umwelteffekt aufgefressen.

Atomkraft wird von vielen als "Clean Technology" gepriesen, die neben den Erneuerbaren Energien notwendig ist, um den Klimawandel zu stoppen. Ist Atomkraft also das kleinere notwendige Übel, um Schlimmeres- den Klimawandel- zu verhindern?

Pest oder Cholera? Unsinn. Die Atomenergie trägt 13 Prozent des kommerziellen Stroms, etwa 5 Prozent der kommerziellen Primärenergie und vielleicht 2 Prozent der Endenergie in der Welt bei. Es ist eher umgekehrt: in Spanien werden Windmühlen vom Netz genommen, während Atommeiler weiterlaufen und in Deutschland gibt es nun negative Strompreise.

Könnte z.B. Japan auf Atomkraftwerke verzichten und nur auf Erneuerbare Energien und Energieeinsparung setzen?

Selbstverständlich. Als der Fukushima-Betreiber TEPCO 2004 nach einem monströsen Fälschungsskandal (vor allem Qualitätskontrollen wurden getürkt) gezwungen war zeitweilig alle seine damals 17 AKWs vom Netz zu nehmen, ging nirgendwo auch nur eine Glühbirne aus. Nur sollte Effizienz zuerst und dann Erneuerbare kommen. Solange die Japaner 4 Prozent des Haushaltsstroms für beheizte Klodeckel mit Warmwasserspülung und nochmal soviel für beheizte Teppiche verballern, wird es nicht funktionieren.

Das Interview führte Dorothee Landgrebe.

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Mycle Schneider war von 1983 bis 2003  geschäftsführender Leiter des Energie-Informationszentrums WISE-Paris. Seit 2007 ist er Mitglied des Internationen Forums für spaltbare Materialien (IPFM) an der Universität Princeton und der Expertengruppe zur Entdeckung heimlicher Produktion von Kernwaffenmaterialien (IGSE) an der Universität Hamburg. Er berät Regierungen und internationale Institutionen. 1997 erhielt er den Alternativen Nobelpreis. Der Privatdozent Lutz Mez ist Geschäfstführer der Forschungsstelle für Umweltpolitik (FFU) an der Freien Universität Berlin und lehrt Politikfeldanalyse und Energiepolitik. Gemeinsam mit Steve Thomas gaben Schneider und Mez  2009 den Sammelband International Perspectives on Energy Policy and the Role of Nuclear Power heraus.