Das erschöpfte Selbst. Spätmodernes Leben zwischen Depression und Prozac

Nach Angaben der WHO ist die Depression, weltweit gesehen, die Volkskrankheit Nr. 1. Allein in Deutschland leiden bis zu vier Millionen Menschen an depressiven Störungen. Tragen die modernen Lebensverhältnisse zu dieser dramatischen Entwicklung bei? ➤ Aktuelle Beiträge der Grünen Akademie.

Nach Angaben der WHO ist die Depression, weltweit gesehen, die 'Volkskrankheit Nr. 1'. Allein in Deutschland leiden bis zu vier Millionen Menschen an depressiven Störungen. Meist entwicklen sich die Symptome schleichend: Die Betroffenen fühlen sich unglücklich, antriebsschwach, wertlos, bedroht und hilflos. Sie neigen zu Selbstvorwürfen und schlechtem Gewissen, zur Verzweiflung und nicht selten zum Suizid.

Nach Auffassung neuester soziologischer und sozialpsychologischer Untersuchungen tragen die modernen Lebensverhältnisse zur Ausbreitung der Krankheit bei. Demnach hat der viel beschworene moderne Individualisierungsprozess das depressive Leiden als neuartiges Massenleiden hervorgebracht. Das aus schützenden Sozialzusammenhängen herausgerissene Subjekt sieht sich permanent der frustrierenden Sorge ausgesetzt, ein »autonomes« Selbst ausbilden zu müssen und es dennoch nicht zu können.

Der vermeintliche Zuwachs an Lebensperspektiven artet zunehmend in Individualisierungsdruck und Überforderung aus. Zeitgleich wächst der gesellschaftliche Bedarf nach effizienter medikamentöser Behandlung. An die Stelle psychologischer Therapieprozesse mit ungewissem Ausgang tritt die pharmakologische Behandlung nach dem Motto: Wo »Es« war, soll »Prozac« werden.

Amerikanische Forscher haben in Abwässern bereits derart hohe Konzentrationen an Antidepressiva festgestellt, dass bei Fischen Entwicklungsschäden diagnostiziert wurden. Damit ist ein in seinem Ausmaß noch kaum abzusehender Zusammenhang von sozialen Pathologien, individuellen Persönlichkeitsstörungen und pharmakologischen Maßlosigkeiten zu befürchten, der einer genaueren Untersuchung bedarf.

  • Prof. Dr. Alain Ehrenberg (CESAMES, Paris)
    Vortrag (PDF, 56 KB)

  • Prof. Dr. Isabella Heuser (Charité - Universitätsmedizin Berlin und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie)
    Kommentar (PDF, 45 KB)

  • Dr. Arnd Pollmann (MenschenRechtsZentrum der Universität Postdam)
    Kommentar (PDF, 41 KB)