Welternährung: Hunger bleibt auch mit Chemie

Infografik aus dem Konzernatlas 2017: Geschätzte Zahl der Hungernden nach Weltregionen
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Mehr als ein Viertel aller Hungernden leben in Afrika. Hier hat die Unterernährung in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Überall sonst sinkt sie

Die Industrie will die Welt ernähren. Aber nicht die Menge an Nahrungsmitteln entscheidet, sondern der Zugang zu ihnen. Schlüsselaufgabe ist die Armutsbekämpfung. Ein Kapitel aus dem Konzernatlas.

Industrielle, von Konzernen geprägte Ernährungssysteme haben dabei versagt, für alle Menschen eine sichere Versorgung zu gewährleisten. Das wird den Unternehmen auch weiterhin nicht gelingen. Denn die Natur und die Menschen, auf die eine industrielle Landwirtschaft angewiesen ist, werden häufig schwer geschädigt. Viele Konzerne, die Nahrungsmittel produzieren, behaupten, sie würden bereits durch die Produktion von mehr Lebensmitteln den „Hunger bekämpfen“. Das ist stark vereinfachend und irreführend.

Historisch gesehen hat die industrielle Landwirtschaft tatsächlich zu großen Steigerungen in der Produktion wichtiger Kulturpflanzen geführt. Zwischen 1961 und 2001 verdoppelte sich die regionale Produktion von Nahrungsmitteln pro Kopf in Südostasien und dem pazifischen Raum, in Südasien, Lateinamerika und der Karibik.

Hauptgrund war der Anbau von Hochertragssorten in hochgradig spezialisierten, bewässerten Monokulturen unter Einsatz großer Mengen an synthetischen Düngemitteln und Pestiziden. Diese Entwicklungen haben viele Bäuerinnen und Bauern aus der Armut geführt und ihre Ernährung verbessert. Pro Kopf und Tag stehen mehr Kalorien zur Verfügung als je zuvor. Doch dieser Erfolg verdeckt schwerwiegende Probleme.

Die Schlüsselfrage: Wie können die Lebensverhältnisse der Ärmsten verbessert werden?

Erstens: Der Hunger wurde nicht beseitigt. Es gibt immer noch fast 800 Millionen unterernährte Menschen auf der Welt. Das Problem hängt mit der ungleichen Verteilung von Nahrungsmitteln zusammen, die wiederum mit Armut und sozialer Ausgrenzung verknüpft ist. Industrielle Nahrungsmittelsysteme haben solche Ungleichheiten bislang eher verschärft als gelöst. Unabhängige, meist kleinbäuerliche Produzentinnen und Produzenten sowie in der Landwirtschaft abhängig Beschäftigte machen heute mehr als die Hälfte aller Hungernden aus. Eine Schlüsselfrage ist deshalb nicht, wie die Produktion zu steigern ist, sondern wie die Lebensverhältnisse der Ärmsten, auch durch die Landwirtschaft, verbessert werden können, sodass sie Zugang zu Einkommen und angemessener Ernährung haben.

In manchen Regionen sind die negativen Folgen der industrialisierten Landwirtschaft bereits an den Erntemengen abzulesen. Anderswo steigen die Erträge noch

Zweitens: Wegen der Fixierung auf Mengen ist wenig unternommen worden, um die Effizienz zu verbessern. Das Ergebnis ist eine enorme Verschwendung von Kalorien. Die globale essbare Ernte an Kulturpflanzen entspricht heute etwa 4.600 Kilokalorien (kcal) pro Person und Tag. Doch nur etwa 2.000 kcal pro Person stehen tatsächlich für den Konsum zur Verfügung. Nach der Ernte entsteht ein Nettoverlust von 600 kcal; darin sind auch verdorbene Vorräte und Lagerbestände erfasst. Durch Vertrieb und im Haushalt kommen weitere 800 kcal Verluste hinzu und durch die Umnutzung von Kulturpflanzen zu Tierfutter sogar 1.200 kcal.

Diese Zahlen veröffentlichte das Stockholm International Water Institute 2008. Würden die Daten aktualisiert und würde die Agrokraftstoffproduktion eingerechnet, wären die Verluste noch deutlich höher. Wenn also die UN-Welternährungsorganisation FAO behauptet, dass 60 Prozent mehr Nahrungsmittel benötigt werden, um die Nachfrage im Jahre 2050 zu befriedigen, sollte besser überlegt werden, wie das Angebot gerechter verteilt werden könnte.

Der Teufelskreis von zunehmendem Pestizideinsatz und zunehmender Resistenz

Die Fähigkeit der Nahrungsmittelsysteme, die Welt zu ernähren, wird zudem dadurch behindert, dass die industrielle Landwirtschaft die Ökosysteme übernutzt. Die Agrarindustrie ist ein wichtiger Verursacher der Bodendegradation. Mehr als 20 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche gelten derzeit als geschädigt, wobei die Degradation mit der alarmierenden Geschwindigkeit von zwölf Millionen Hektar pro Jahr fortschreitet – das ist so viel wie etwa die gesamte Agrarfläche der Philippinen.

Zudem birgt der intensive Pestizideinsatz auf lange Sicht große Risiken für die Produktivität. Schädlinge und Schadpflanzen, Viren, Pilze und Bakterien passen sich schneller denn je den Stoffen bei der Schädlingsbekämpfung an. Dies hat häufig einen noch intensiveren Chemikalieneinsatz zur Folge. Der Teufelskreis von zunehmendem Pestizideinsatz und zunehmender Resistenz bedeutet erhöhte Kosten für Bäuerinnen und Bauern und eine weitere Schädigung der Umwelt.

Die industrielle Landwirtschaft kann die Welt nicht ernähren

Diese Auswirkungen belasten bereits die landwirtschaftliche Produktivität. Seit einigen Jahrzehnten stagnieren die Erträge der wichtigen Kulturpflanzen in industriellen Anbausystemen in mehreren Regionen der Welt. Untersucht wurde dies etwa bei Mais im US-Bundesstaat Kansas oder bei Reis auf der japanischen Nordinsel Hokkaidō. Der Vergleich einer Vielzahl von Studien – eine sogenannte Metaanalyse – zur Entwicklung von Erträgen in der ganzen Welt von 1961 bis 2008 stellte fest, dass in rund einem Drittel der Gebiete, in denen Mais, Reis, Weizen und Soja angebaut werden, die Erträge entweder nicht gestiegen, nach anfänglichen Steigerungen gleich geblieben oder gar gesunken sind.

Auch das Geschäftsmodell der Agrarchemieunternehmen und der industriellen Landwirtschaft spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Probleme entstehen, weil die Systeme einerseits auf der Spezialisierung, andererseits auf der Gleichförmigkeit der Produktion beruhen; daher auch die Abhängigkeit von chemischen „Inputs“. Jede Steigerung der Produktivität auf dieser Grundlage fordert früher oder später ihren Preis, vor Ort oder anderswo, direkt oder indirekt, von denjenigen, die die industrielle Landwirtschaft praktizieren, und von allen anderen, die unter ihren Folgen leiden.

Alles in allem geht es darum, wie hohe landwirtschaftliche Erträge erzielt werden und wer davon profitiert. Die industrielle Landwirtschaft kann weder die Umwelt noch die Lebensgrundlagen der Produzentinnen und Produzenten erhalten, und sie kann die Welt nicht ernähren. Der veränderte Reisanbau in vielen Teilen der Welt zeigt, dass die Agrarökologie eine Alternative bildet: diversifizierte landwirtschaftliche Systeme, die hohe Erträge produzieren, ohne die Umwelt zu schädigen, und im Einklang stehen mit den sozialen Systemen, in die sie eingebettet sind.

» Den gesamten Konzernatlas können Sie hier herunterladen.