Deutschland: Für oder gegen Atomwaffen?

Für 2017 sind Verhandlungen zum internationalen Verbot von Atomwaffen geplant. Bisher versuchte die Bundesregierung diesen Prozess zu blockieren, obwohl Deutschland offiziell eine atomwaffenfreie Welt anstrebt. Mit diesen Widersprüchen ist bald Schluss: Deutschland muss Farbe bekennen.

"YOLO" geschrieben auf einer Atombombe
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Auch die norwegische Regierung verteidigt Atomwaffen trotz der ablehnenden Haltung der Bevölkerung. In einer sarkastischen Kampagne thematisiert die NGO "Norwegian People's Aid" diesen Wiederspruch: You Only Launch Once. #JAtomvåpen

Bei seinem historischen Besuch in Hiroshima forderte US-Präsident Obama in eindringlichen Worten eine moralische Revolution für nukleare Abrüstung. Doch zugleich boykottiert die US-Regierung die aktuelle Initiative zur Stigmatisierung von Atomwaffen, und plant über Eintausend Milliarden US-Dollar für die Erneuerung des US-Atomwaffenarsenals ein.

Deutschlands Weg des geringsten Widerstandes

Die deutsche Abrüstungspolitik ist ähnlich widersprüchlich: Offiziell fordern wir eine atomwaffenfreie Welt, tatsächlich lehnt Deutschland ein Verbot von Atomwaffen aber bisher ab. Sie sollen zwar verschwinden, aber ohne dazu die elementaren rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Zwar existiert in der Bundesrepublik ein breiter gesellschaftlicher Konsens gegen die letzten Massenvernichtungswaffen. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird das Thema jedoch kaum noch diskutiert, und somit geht auch Deutschland den Weg des geringsten Widerstandes: Atomwaffen in Frage zu stellen würde innerhalb der NATO einen diplomatischen Kraftakt voraussetzen. Das Auswärtige Amt ist schon froh, wenn man Russland und unsere osteuropäischen Partner dazu bringen kann, zumindest verbal abzurüsten und nicht ständig Atomwaffen ins Spiel zu bringen. Eine Vielzahl institutioneller Zwänge sorgt dafür, dass die NATO eine nukleare Allianz bleibt.

Es ist also schwer zu sagen, was unsere tatsächliche Position zu Atomwaffen ist. Doch was passiert, wenn wir dieser Politik kräftiger auf den Zahn fühlen. Um dies rauszufinden braucht es Druck von außen.

Ende der „konstruktiven Ambiguität“

Dazu kommt es nun: Die Zeit für diese „konstruktive Ambiguität“ läuft langsam, aber sicher aus. Die Mehrheit der Staaten will sich nicht länger auf Minimalkompromisse einlassen, und forciert nun den Beginn von konkreten Verhandlungen über ein internationales Verbot von Atomwaffen. Spätestens dann muss sich Deutschland entscheiden: Nehmen wir an den Verhandlungen teil, oder boykottieren wir sie?

Der exakte Termin steht zwar noch nicht fest, ist aber mittlerweile unausweichlich. Selbst Befürworter waren überrascht, mit welchem Nachdruck die überwältigende Mehrheit der UN-Staaten ihre Absicht ankündigte, Atomwaffen so schnell wie möglich völkerrechtlich zu ächten. Dies würde eine Zäsur in der Abrüstungsdebatte bedeuten: Die bisherige Sonderstellung von Atomwaffen wird endlich beendet, sie werden stattdessen in eine Reihe mit den anderen verbotenen Massenvernichtungswaffen gestellt.

Ein Verbot würde echten Fortschritt bringen, seit Jahrzehnten verkrustetes Denken neu herausfordern und verdeutlichen: Nukleare Abrüstung ist ein Prozess, keine schwarz-weiß Dichotomie. Zahlreiche Schritte müssen parallel verfolgt werden, um nukleare Gefahren zu reduzieren. Das fängt damit an, die Gefahrenquelle klar zu benennen und völkerrechtlich unmissverständlich zu ächten, zur Not auch ohne die Besitzerstaaten.

Der Durchbruch

Zehn Staaten, darunter auch größere Länder wie Argentinien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und die Philippinen, haben einen Verhandlungsbeginn für 2017 vorgeschlagen. Etliche weitere haben sich der Forderung mündlich angeschlossen. Alle Staaten Lateinamerikas sowie die Afrikanische Union forderten explizit eine Ächtung. Irland, Österreich, Mexiko und Neuseeland taten sich mit besonders eloquenten Argumenten hervor, ebenso aber kleinere Staaten wie Jamaica, Nicaragua und Palau. Insgesamt haben 127 Regierungen – zwei Drittel der Staatengemeinschaft – in einem Arbeitspapier gefordert, „dringend“ mit den Verhandlungen über ein völkerrechtliches Verbot zu beginnen. Die österreichischen Autoren des Papiers werden noch deutlicher und unterstreichen, dass die Mehrheit ein Verbot „so schnell wie möglich“ anstrebt. Brasilien, Jamaica und Neuseeland unterstrichen jeweils in ihren offiziellen Erklärungen, dass eine deutliche Mehrheit der Staaten „sofort“ mit den Verhandlungen beginnen will – unabhängig von den Atomwaffenstaaten. Natürlich können sich Verhandlungen in den UN durchaus noch hinziehen. Aber der Verbotsvertrag kommt, soviel steht fest.   

Seit 2013 setzen wir uns bei ICAN Deutschland (International Campaign to abolish Nuclear Weapons) mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung für diesen Vertrag ein. Damals hielten deutsche Diplomaten und Think Tanks den Vorschlag für völlig unrealistisch, Schritt für Schritt konnten wir aber jene Staaten überzeugen, die schon heute ohne Atomwaffen auskommen – und heute plant man schon für die Zeit nach dem Verbot. Dieser Fortschritt ist möglich geworden, da die Mehrheit der Staaten mittlerweile bereit ist, die nächsten Schritte in der nuklearen Abrüstung auch ohne die atomar bewaffneten Staaten und ihre Alliierten zu gehen (diese sehr schöne interaktive Karte hebt Atomwaffen-Fans und deren Statements hervor).

Wie Jamaica unlängst erklärte: Die nuklearen Abrüstung wird endlich demokratisiert. Die bislang schweigende Mehrheit übernimmt die Initiative und erkennt an: Man darf nicht auf die Raucher warten, wenn man ein Rauchverbot einführen will. Endlich werden die nuklear bewaffneten Staaten nicht länger um Erlaubnis gebeten, indem man ihnen ein Veto einräumt. Einige Staaten haben die Bio- und Chemiewaffenkonventionen von 1975 bzw. 1993 bis heute nicht anerkannt, dennoch konnten sie die Verhandlungen über ihre Ächtung nicht aufhalten. Dies bekräftigte auch der österreichische Botschafter vor den Vereinten Nationen in Genf, Thomas Hajnoczi : Historisch betrachtet wurden Waffensysteme stets verboten, bevor die mühsame Arbeit der Reduzierung und Abschaffung beginnen kann.

Die „OEWG“: Späte Demokratisierung der nuklearen Abrüstung

Bis zu dieser Erkenntnis war es ein steiniger Weg. Allein das Genfer Gesprächsforum einzusetzen, hat erbitterten Widerstand hervorgerufen. Man könnte meinen, dass eine „ergebnisoffene Arbeitsgruppe um Verhandlungen über nukleare Abrüstung voranzutreiben“ (Open-ended working group, OEWG) im Interesse aller Staaten sein sollte. Aber das Mandat, über „konkrete und effektive rechtliche Maßnahmen“ zur nuklearen Abrüstung zu verhandeln, ging den Atomwaffenstaaten und ihren Alliierten schon zu weit; und somit boykottierten alle nuklear bewaffneten Staaten das Treffen. Selbstverständlich verstärkte dies unter den atomwaffenfreien Staaten die Überzeugung, dass Fortschritt nur möglich ist, wenn wir bereit sind, ohne die nuklear bewaffneten Staaten vorauszugehen.

Denn anders als in herkömmlichen Abrüstungsforen gelten hier die Regeln der UN-Generalversammlung, der demokratischsten aller UN-Institutionen. Wenn eine Minderheit versucht, progressive Vorschläge wie bisher zu blockieren indem Konsens (d.h. ein Veto-Recht für alle) eingefordert wird, kann schlicht und ergreifend eine Abstimmung angesetzt werden, um mit einfacher Mehrheit zu entscheiden.

Trotz Obamas Enthusiasmus für nukleare Abrüstung und seiner Visite in Hiroshima: Es verwundert nicht, dass die anderen Staaten die Geduld verloren haben. Die Genfer Abrüstungskonferenz hat sich seit sagenhaften 18 Jahren nicht mehr auf ein Arbeitsprogramm einigen können, geschweige denn echte Verhandlungen geführt. Der Grund für den vollständigen Stillstand ist, dass Staaten ständig von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, während sich die Atomwaffenstaaten standhaft weigern, anderswo zu verhandeln. Auch der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) funktioniert nach dem Konsensprinzip. Da selbst die per Konsens gefassten Beschlüsse im Bereich der Abrüstung kaum umgesetzt werden, ist der NVV längst in die Kritik geraten. Kein Wunder: Wenn Frankreich und Großbritannien weiterhin öffentlich den angeblichen Nutzen von Atomwaffen preisen, wie können wir Iran und Nordkorea überzeugend weismachen, dass sie nicht das gleiche Anrecht auf „Abschreckung“ haben?

Bis zu 2 Milliarden Tote

Die Blockade der Abrüstung weiterhin achselzuckend hinzunehmen hieße, das nach wie vor von Atomwaffen ausgehende Risiko fundamental falsch einzuschätzen. Drei internationale Konferenzen über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen haben deutlich gemacht, wie unbegreiflich die Zerstörung wäre, und wie hoch das Risiko, dass einer der unzähligen Unfälle, Fehlkalkulationen oder nuklearer Terrorismus doch noch zur Katastrophe führt. Ein ums andere Mal wiederholt das Rote Kreuz, dass jede humanitäre Krisenreaktion sinnlos, keine Organisation einer Nuklear-Katastrophe gewachsen wäre.

Während die überwältigende Mehrheit der Staaten also ohne Atomwaffen auskommt, müssen sie dennoch mit ansehen, wie ihre eigenen Bevölkerungen dem unkalkulierbaren Risiko von nuklearen Detonationen ausgesetzt werden. Die Folgen von Atomwaffen wären über Staatsgrenzen hinaus spürbar, schon ein „begrenzter“ nuklearer Austausch (100 der weltweit 15.000 Sprengköpfe) würde für ein bis zwei Milliarden Menschen den Hungertod bringen. Atomwaffenfreie Staaten haben eine Verantwortung und eine Verpflichtung, alles zu tun um ihre Bevölkerungen vor diesen Risiken zu schützen.

Doch wie reagieren die nuklear bewaffneten Staaten auf die berechtigten Sorgen der Mehrheit? Sie boykottieren sämtliche Gespräche über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen. Kein Atomwaffenstaat erschien zur OEWG. Stattdessen verteidigen dort die „atomwaffenfreien“ Alliierten wie etwa Deutschland, Italien, Australien oder Kanada Nuklearwaffen  – und sorgen zugleich für wachsenden Unmut.

Widersprüchliche Haltung der NATO-Staaten

Zum Beispiel indem sie insistieren, man dürfe jene Staaten, die ergebnisoffene Arbeitsgruppe boykottieren, nicht „ausschließen“. Man dürfe nur solche Ansätze verfolgen, die von der Beteiligung der heute abwesenden Staaten abhängig sind. Hierzu werden „neue“ Vorschläge unterbreitet, die schon vor 20 Jahren gescheitert sind. Zwar haben sich alle Staaten bereits viele Male im Konsens auf diese Maßnahmen geeinigt. Dies ein weiteres Mal zu tun, erhöht aber mitnichten die Wahrscheinlichkeit, dass sie dieses Mal umgesetzt werden.

Die ständig neue Verpackung der immer gleichen Vorschläge unterstreicht diese Absurdität weiter. Früher war es der sogenannte step-by-step process, der im Jahr 2000 als „13 Steps“ und zehn Jahre später nochmals im 64 Schritte umfassenden NVV-Aktionsplan verabschiedet wurde. Mangels Umsetzung wurden sie sodann zu den „building blocks“ umgetauft, und 2015 als „full-spectrum approach“ vermarktet. Im Februar 2016 nun beteuern jene Staaten, die sich für ihre Sicherheit auf Atomwaffen verlassen, dass sie sich etwas Neues überlegt haben: den „progressive approach“, der, Sie haben es erraten, exakt dieselben Schritte umfasst.

Aber lassen sich seit 20 Jahren blockierte Maßnahmen wie der nie in Kraft getretene Test-Stopp-Vertrag (CTBT) oder der nie verhandelte Vertrag über Spaltbares Material (FMCT) wirklich als „effektiv“ bezeichnen?  Können diese beiden Verträge, die ausschließlich der Nichtverbreitung dienen, wirklich als „Abrüstung“ gelten? Und können Verträge, die vor zwei Jahrzehnten verhandelt wurden, tatsächlich „neue“ rechtliche Normen darstellen?

Deutsche Diplomaten versichern, die Vorschläge seien ernst gemeint. Doch dabei wird es noch widersprüchlicher: Deutschland und die Niederlande fordern seit Jahren mehr Transparenz über die Lagerung und Einsatzpläne für Nuklearwaffen ein, haben aber gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung nicht einmal offiziell eingeräumt, dass Atomwaffen auf ihrem Territorium lagern und uns zum Angriffsziel machen – nicht wo, nicht wie viele. Dabei trainieren deutsche Piloten den Abwurf von Massenvernichtungswaffen mit eigens angepassten deutschen Kampfjets – der  abrüstungspolitischen Glaubwürdigkeit ist dies nicht sonderlich zuträglich.

Doch wer blockiert all diese richtigen und wichtigen Vorschläge wie CTBT und FMCT? Ganz genau, dieselben Atomwaffenstaaten, von deren Beteiligung wir nach Deutschlands Überzeugung auch alle weiteren Abrüstungsschritte abhängig machen sollen. Dieselben Staaten, die trotz Lippenbekenntnissen zur nuklearen Abrüstung dabei sind, Abermilliarden in die Modernisierung ihrer Arsenale zu stecken. Die USA planen in den nächsten drei Jahrzehnten über eine Billion US-Dollar für Waffen ein, die unter keinen Umständen eingesetzt werden dürfen. Die übrigen Atomwaffenstaaten ziehen mit. Frankreich behauptet auch nach der OEWG-Sitzung weiterhin, die Genfer Abrüstungskonferenz habe „bewiesen“, dass sie der effizienteste Weg zur nuklearen Abrüstung darstellt – ein Forum, das seit 1998 vollständig blockiert ist! Statt Abrüstung zuzusagen, wollen sie ein Glossar mit nuklearen Definitionen weiterentwickeln – dies ist kein Scherz! Die Atomwaffenstaaten leben in einem parallelen Universum.

Bis diese Staaten von ihren Atomwaffen abrücken, müssen wir noch einigen Druck aufbauen: Das Völkerrecht muss notfalls ohne sie angepasst werden, wenn wir sie von ihrer Realitätsverweigerung aufwecken wollen. Kein Handlungsdruck wird entstehen, solange wir ihnen weiterhin einen bequemen, mit Veto-Recht ausgestatteten Sessel am Verhandlungstisch zugestehen.

ICAN ermuntert die Staatengemeinschaft seit Jahren, mutig voranzuschreiten und die Spielregeln auch ohne die nuklear Bewaffneten zu verändern. Dass die Atomwaffenstaaten und die gesammelte Macht der US-amerikanischen Diplomatie in drei Jahren interner Beratungen kein einziges kohärentes Argument gegen einen Verbotsvertrag hervorbringen konnten, ist eines der stärksten Anzeichen dafür, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden.

Deutschlands schwierige Position

Deutschland verlässt sich in seiner Sicherheitsstrategie auf die „erweiterte Abschreckung“ der NATO. Die USA haben versprochen, ihre Atomwaffen zur Verteidigung der NATO, Japans, Südkoreas und Australiens einzusetzen. Das bringt diese Staaten in eine widersprüchliche Position: Einerseits behaupten sie, nukleare Abrüstung sei eine Priorität, und halten offiziell am Ziel einer atomwaffenfreien Welt fest. Andererseits können sie ihre „Schutzmächte“ nicht für ihre Massenvernichtungswaffen kritisieren, und verteidigen den Status quo nach Kräften.

Die beliebteste Strategie dazu ist, der Gegenseite überspitzte Behauptungen zu unterstellen, die sich dann leicht entkräften lassen. So werde ein Verbot keine Abrüstung „garantieren“ – das hatte auch niemand behauptet, allen ist klar, dass im hochpolitisierten Bereich des Völkerrechts kaum etwas „garantiert“ ist. In Genf kritisierte Deutschland darüber hinaus Versuche, das Verbot über das Völkergewohnheitsrecht „durch die Hintertür“ einzuführen – eine ziemlich abwegige Unterstellung, da Gewohnheitsrecht ohnehin nur entsteht, wenn kein einziger Staat sich öffentlich gegen eine entstehende Rechtsnorm wendet.

Weiter werde ein Verbotsvertrag einerseits keinerlei Effekt haben, aber anderseits das Nichtverbreitungsregime destabilisieren oder gar den Druck auf die Atomwaffenstaaten verringern. Polen und die USA behaupteten zuweilen, ein Verbot würde –unerklärlicherweise- die Gefahr einer nuklearen Detonation erhöhen. Dieser Vertrag wäre also gleichzeitig völlig wirkungslos UND brandgefährlich. Der offensichtliche Wiederspruch hält NATO-Staaten seit Jahren nicht davon ab, beide Argumente gleichzeitig zu benutzen.

Die angebliche Schwächung des Nichtverbreitungsvertrages bleibt das interessanteste Argument, da es allen Prinzipien der internationalen Politik zuwiderläuft: Da sich die Einhaltung des Völkerrechts nicht erzwingen lässt, wird seine Legitimität durch Dopplung und Wiederholung gestärkt. Die komplementären Verträge, Instrumente und Erklärungen stärken sich gegenseitig. Für die Nichtverbreitung wird dies auch befürwortet: Der NVV wurde durch den CTBT, die informellen Nuclear Security Summits, und in der Zukunft vielleicht durch den FMCT ergänzt. Ein Verbot, welches offensichtlich darauf abzielt, den Artikel 6 des NVV zu konkretisieren, und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung deutlicher als bisher zu kodifizieren, werde den NVV aber angeblich gefährden. Ironischerweise ist der wahre Grund für die aktuelle Schwächung des NVV ausgerechnet die Unfähigkeit der Atomwaffenstaaten, gemachte Abrüstungsversprechen in die Tat umzusetzen. Experten wie Harald Müller (HSFK) haben schon 2006 beschrieben, dass der NVV aus strukturellen Gründen insbesondere in seiner Abrüstungsdimension unzureichend ist.

Glücklicherweise hat NATO-Partner Kanada das auch von Deutschland angeführte Argument in einem Arbeitspapier ausführlicher erklärt. Die Sorge sei, dass Staaten, die das Verbot boykottieren, damit Zweifel an ihrer NVV-Vertragstreue ermöglichten und den NVV auf diese Weise schwächten. Diese Analyse ist, wie unsere Kollegen bei Wildfire schon zuvor beschrieben haben, korrekt. Wenn ein Staat nicht bereit ist, Atomwaffen unmissverständlich als illegal zu deklarieren, so ist diese Haltung nur schwer mit den Verpflichtungen nach Artikel 6 NVV vereinbar. Dieser Artikel verpflichtet alle Vertragsstaaten, nicht nur die Atomwaffenstaaten, nach Treu und Glauben (d.h. nicht nur pro forma) über effektive Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung zu verhandeln, inklusive durch rechtliche Instrumente.

Ein Boykott des Verbotsvertrages lässt sich somit nur schwer mit dem NVV vereinen. Dies liegt aber nicht am Verbotsvertrag – sondern an der fragwürdigen Haltung jener Staaten, denen ein Atomwaffenverbot zu konkret wäre. Diese Staaten haben schon heute eine schwierige Beziehung zu Artikel 6 NVV. Diese Widersprüche durch einen Verbotsvertrag offensichtlich zu machen schwächt den NVV nicht. Die Schwächung erwächst aus der Tatsache, dass diese Staaten ohnehin nicht vorhatten, abzurüsten.

Sodann wird die Ukraine ins Feld geführt, und die neuen Spannungen zwischen der NATO und Russland. Dass ein militärischer Konflikt in Europa wieder denkbar wird, sollte Versuche, Atomwaffen aus dem Säbelrasseln herauszuhalten, aber intensivieren, und nicht etwa bremsen. Wer Atomwaffen in diesem Kontext eine wichtige Rolle zuschreibt, oder der Ukraine gar vorhält, ihre Atomwaffen in den 90er Jahren aufgegeben zu haben, wirbt für Atomwaffen und deren weitere Verbreitung, und handelt somit verantwortungslos. Dies gilt nicht nur für Stammtischdiskussionen, sondern insbesondere für Diplomaten.

Diese Sorgen teilt man auch im Auswärtigen Amt. Die Verwirrung um Völkergewohnheitsrecht oder die Sorge um die Schwächung des NVV sind keineswegs das Produkt eines mangelhaften völkerrechtlichen Verständnisses. Es mangelt lediglich am politischen Willen, den eigenen Alliierten unbequeme Fragen zu ihren Atomwaffen zu stellen.

Sicherheit auf Kosten der anderen

Dem zu Grunde liegt ein fundamentaler Konflikt, der nicht immer offen ausgesprochen werden kann: Eine Minderheit von Staaten glaubt, für ihre eigene Sicherheit „nukleare Abschreckung“ zu benötigen. Dies bedeutet, dass sie andere Staaten 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr so glaubwürdig wie möglich mit dem Einsatz von Atomwaffen bedrohen müssen. Hieran halten sie fest, obwohl nukleare Abschreckung häufig genug gescheitert ist. Dennoch setzen sie alle weiteren Staaten einem permanenten Risiko aus, und werten Atomwaffen auf – als Statusobjekt, sowie als angebliche Sicherheitsgarantie.

Die bisher schweigende Mehrheit fordert nun, dass ihre Sicherheitsinteressen ebenfalls berücksichtigt werden – und zwar durch eine drastische Reduzierung und mittelfristig durch die Abschaffung der letzten verbliebenen Massenvernichtungswaffen. Die Atomwaffenstaaten kontern, man dürfe die „Sicherheitsdimension“ von Atomwaffen nicht ignorieren. Doch eben diese Sicherheitsdimension, die die katastrophalen humanitären Auswirkungen die Atomwaffen zu einem Instrument der Abschreckung machen sollen – sind aus der Perspektive von unbeteiligten Drittstaaten eine direkte Bedrohung, da die globalen Auswirkungen von nuklearen Detonationen nicht an Landesgrenzen Halt machen. Die Sicherheit aller Menschen, und nicht nur jene einiger privilegierter Staaten, bildet den Kern der Humanitären Initiative und des wiederaufgeflammten Kampfes für ein Verbot von Atomwaffen.

Die Argumente gegen ein Verbot sind letztlich deshalb so unhaltbar, weil sie den wahren Grund für die Ablehnung verbergen sollen. Denn der wahre Grund für die Ablehnung kommt einem Bruch der NVV-Verpflichtungen gleich: Die Atomwaffenstaaten und ihre Alliierten haben schlicht und ergreifend keinerlei Pläne dazu, abzurüsten.

Ein Atomwaffenverbot würde somit endlich Klarheit schaffen: Welche Staaten sind wirklich für eine atomwaffenfreie Welt, und welche behauptet dies nur, während sie ansonsten auf Zeit spielen?

Diesen Effekt bekommen manche Regierungen heute schon zu spüren. Auch niederländische und norwegische Parlamentarier haben Dank der Verhandlungen in der OEWG erfahren, dass ihre Regierungen versuchen, ein Verbot von Atomwaffen zu verhindern. Da diese Parlamentarier vom Gegenteil ausgingen, führte dies zu hitzigen Debatten und schließlich zu Resolutionen, die den Handlungsspielraum dieser Regierungen zumindest einschränken: Sobald Verhandlungen zum Verbotsvertrag beginnen, sind beide NATO-Partner dazu verpflichtet, daran teilzunehmen.

Von der OEWG zum Atomwaffenverbot

Dies sind hochrelevante Weichenstellungen. Aus der Vogelperspektive könnte man gar die gesamte Genfer OEWG auf diese Dynamik reduzieren, in der alle sich fragen: Wie viele Staaten werden an den Verhandlungen teilnehmen, wenn diese 2017 beginnen? Seit 2012 haben sich immer mehr Staaten der Humanitären Initiative angeschlossen, die in der von 127 Staaten unterzeichneten Humanitären Selbstverpflichtung kulminierte. Seitdem ist eine „kritische Masse“ an Ländern bereit, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und auch ohne die Atomwaffenstaaten mit den Vertragsverhandlungen zu beginnen.

Eine kritische Masse genügt, um Verhandlungen zu beginnen – Ziel aber muss bleiben, dass so viele Staaten wie möglich teilnehmen, also auch die Unentschlossenen. Das Verbot wird umso effektiver, desto mehr Staaten teilnehmen, und ihren Banken somit z. B. verbieten, in das Atomwaffenbusiness zu investieren. Deswegen wurde die OEWG als für alle Staaten offenes, UN-mandatiertes Forum geschaffen. Wir von ICAN hatten aus reiner Ungeduld dafür geworben, Südafrika als Ex-Atomwaffenstaat möge unilateral eine Verhandlungskonferenz ausrufen, und sich aufbauend auf den Konferenzen über die Humanitären Auswirkungen auf breite Beteiligung verlassen.

Die OEWG wird sodann eine Zusammenfassung und Empfehlungen an die UN-Generalversammlung richten, und so den Weg für eine weitere UN-Resolution im Dezember ebnen, die eine Konferenz für die tatsächlichen Vertragsverhandlungen ansetzen dürfte. Unabhängig von all den prozeduralen Tricks, die für die August-Sitzung der OEWG erwartet werden, kann an der Mehrheit für ein solches Vorgehen kein Zweifel mehr bestehen.

Natürlich werden die NATO-Staaten weiterhin den Eindruck erwecken, dass sie schlicht und ergreifend nicht teilnehmen werden. Sobald die Mehrheit aber vorauseilt und mit Verhandlungen beginnt, werden wohl doch etliche NATO-Staaten mitmachen – allein schon um dort die Interessen ihrer nuklear bewaffneten Schutzmächte zu vertreten.

Die Front bröckelt also längst. Sechs EU-Staaten sind der Humanitären Initiative beigetreten, Island und Dänemark sympathisieren. Mit den Niederlanden und Norwegen haben sich zwei NATO-Regierungen verpflichtet, an Verhandlungen teilzunehmen. Die Australische Labour-Partei, die die Wahlen im Juli gewinnen könnte, fordert in ihrem Wahlprogramm klar ein Verbot. Anders formuliert: Alle westliche Staaten, die nicht Mitglied der NATO sind, stehen dem Verbot positiv gegenüber.

Deutschland könnte vom Verbotsvertrag profitieren

Die Realisierung, dass Deutschland als friedliebender, den Menschenrechten verschriebener Staat die Schlimmste aller Massenvernichtungswaffen verteidigt, ist harter Tobak. Nach einer repräsentativen Umfrage entlang neutral formulierter Fragen, die wir von ICAN gemeinsam mit der IPPNW Anfang 2016 bei Forsa in Auftrag habnn, sind überwältigende 93 Prozent der Bundesbürger/innen für ein Verbot von Atomwaffen. Die Bundesbürger/innen gehen davon aus, dass ihre Ablehnung von Atomwaffen Konsens sei – und ignorieren zugleich die Tatsache, dass Deutschland unter den Bremsern ist.

Die Bundesregierung ist sich der Tatsache bewusst, dass ihre Position innenpolitisch brisant ist. Schon im Dezember 2015 zeigte sich, wie viel Aufmerksamkeit das Thema Atomwaffen auch heute noch generieren kann: Deutschland hatte einiges an Porzellan zerschlagen und gegen die von Österreich eingebrachte UN-Resolution gestimmt, die eine Schließung der Rechtslücke in Bezug auf Atomwaffen einfordert – ein starkes diplomatisches Statement. Eine Reihe Videos der Bundespressekonferenz, in der die Regierungssprecher von Tilo Jung mit unserer Pressemitteilung konfrontiert werden, haben weit über eine halbe Million Zuschauer erreicht.

Sollte Deutschland Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen nächstes Jahr tatsächlich boykottieren, dürfte der Druck auf die Bundesregierung ungleich höher werden. Allerdings könnte dies deutschen Diplomaten und ihrer Lesart der Humanitären Initiative ganz recht sein: Natürlich können sie sich nicht sehenden Auges in einen Konflikt mit den NATO-Atomwaffenstaaten manövrieren. Nüchtern betrachtet aber stimmen deutsche Diplomaten und Denkfabriken darin überein, dass die menschliche, nicht die nationalstaatliche Sicherheit im Mittelpunkt steht. Wir alle teilen die Sorgen um die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen, und die Bundesregierung versucht seit Jahren, die USA zum Abzug der Atomwaffen von deutschem Boden zu bewegen.

Ein Verbotsvertrag würde hierfür beispielsweise die perfekte Kulisse bereiten: Die NATO-Partner werden anerkennen müssen, dass einige NATO-Staaten dem Verbot beitreten wollen, hoffentlich auch Deutschland. Ein Verbot würde genügend Druck entfalten, um Widerstände innerhalb der NATO zu überwinden und eine maßgeschneiderte nukleare Abschreckung zu ermöglichen, die nicht alle NATO-Staaten einbindet. Die NATO war schon immer flexibel genug, um ein sogenanntes opt-out, d.h. Ausnahmen von den nuklearen Komponenten der Allianz zu ermöglichen: Frankreich war Jahrzehnte lang nicht Teil der nuklearen Komponente, während Dänemark, Island und Norwegen schon lange nicht mehr erlauben, dass nuklearfähige Schiffe ihre Häfen ansteuern.

Der NATO-Vertrag verliert über Atomwaffen kein Wort, und das politische, aber nicht rechtsverbindliche Strategische Konzept definiert die NATO zwar als „nukleare Allianz“, verpflichtet ihre Mitglieder aber gleichzeitig dazu, die „Bedingungen für eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen“. Letztlich ist der Verweis auf Bündnisverpflichtungen in der NATO ohnehin ein zweischneidiges Schwert: Einerseits erschwert die NATO die Schaffung neuen Völkerrechts, da alle Partner sich so schnell bewegen wie das langsamste Mitglied. Sobald Verträge wie das Landminen- (1997) und Streumunitionsverbot (2008) dennoch gegen alle anfänglichen Widerstände ratifiziert worden sind, entfalten sie ihre Wirkung auch auf die militärische Planung jener Mitgliedsstaaten, die sich den Verboten (noch) verweigern.

Natürlich können wir Atomwaffen nicht selbst abschaffen. Aber wir können unsere Überzeugung kodifizieren, dass die letzten Massenvernichtungswaffen schlicht inakzeptabel sind: Ebenjene „moralische Revolution“, die Obama in Hiroshima gefordert hat. Um dies zu erreichen ist es von fundamentaler Bedeutung, dass sich Deutschland der Bewegung für ein völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen anschließt. 2015 noch hat sich Deutschland bei der Einsetzung der OEWG enthalten. Der nächste Stimmungstest sind im Oktober und November die erwarteten Debatten über eine UN-Resolution, die eine Konferenz für Verbotsverhandlungen einsetzen sollte. Wird Deutschland diesmal mit „Ja“ stimmen?

Die Zeit für widersprüchliche Ausreden und Prokrastination läuft langsam aber sicher aus. Wir können die überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft ohnehin nicht mehr aufhalten. Spätestens wenn 2017 die Vertragsverhandlungen mit oder ohne uns beginnen, beantwortet sich die Frage nach Deutschlands Haltung von selbst.

Die Bundesregierung muss dann Farbe bekennen: Sollten Atomwaffen legal, oder illegal  sein?