Bosnien-Herzegowina vor der Wahl: Es muss anders werden

Interview

Die freie Journalistin Marie Gogoll spricht mit dem Politikwissenschaftler Vedran Džihić darüber, was den demokratischen Prozess im Land voranbringen könnte: nicht die Reduktion auf die drei ethnischen Parteien im Land, die politische Arena muss breiter betrachtet werden. Bürgerzentrierte Initiativen thematisieren die relevanten Sachfragen und argumentieren jenseits der ethnischen Frage.

Kundgebung Sararevo, vor dem Büro des Hohen Repräsentaten für Bosnien und Herzegowina:  „Wir wollen europäische Standards, und keine Diskriminierung.“
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Kundgebung Sararevo, vor dem Büro des Hohen Repräsentaten für Bosnien und Herzegowina: „Wir wollen europäische Standards, und keine Diskriminierung.“

Am 2. Oktober 2022 finden Wahlen in Bosnien-Herzegowina statt. Welche Themen sind bei diesen Wahlen besonders wichtig?

Grundsätzlich ist der politische Wettbewerb in Bosnien-Herzegowina stark geprägt von Fragen der ethnischen Zugehörigkeit. Das liegt auch am Charakter des bosnischen politischen Systems. Der Friedensvertrag von Dayton mit der neuen Verfassung des Landes schreibt die starke Rolle der drei konstitutiven Völker im politischen System des Landes fest. Es gibt aber auch über-ethnische Parteien, die ihre Politik nach thematischen Schwerpunkten und nicht entlang von vermeintlichen ethnischen Interessen ausrichten.

Welche Themen bestimmen die Politik dieser Parteien?

Sie behandeln zum Beispiel die wirtschaftliche Situation im Land, den Umgang mit den steigenden Preisen. Ein weiteres Thema ist, dass viele junge Menschen Bosnien-Herzegowina verlassen. Es geht außerdem um Umweltschutz und das Problem der hohen Luftverschmutzung in Bosnien-Herzegowina. Einige Parteien beschäftigen sich inhaltlich außerdem mit der starren Verwaltung im Land und der Korruption.

Es geht um wirtschaftliche Interessen und Bereicherung

An wen richtet sich der Vorwurf der Korruption?

Die Parteien, die Ethnopolitik betreiben, sind korrupte Netzwerke: Innerhalb der Parteien werden Einflussposten vergeben, es geht dabei um handfeste wirtschaftliche Interessen und Bereicherung. Gibt es Kritik an diesen Zuständen, verweist die jeweilige Partei darauf, dass diese Vorwürfe nur wegen ethnischer Abneigung gegen die eigene Partei erhoben würden. Sie spielen also, wie so oft, die ‚ethnische Karte‘.

Was bedeutet das?

Diese Parteien, also die HDZ, die SDA und die SNSD, die aktuell auch an der Macht sind, argumentieren ethnisch, auch, wenn es gerade um ganz andere politische Sachfragen geht. Ein plakatives Beispiel: Irgendwo soll eine Straße gebaut werden. An der Entscheidung darüber sind mehrere ethnische Vertreter oder Vertreterinnen beteiligt und eine dieser Parteien ist gegen die Straße. Statt sachlich zu argumentieren, wird diese ethnisch ausgelegte Partei irgendein ethnisches Interesse vorschieben, demnach die Straße irgendwie gegen ihre ethnischen Interessen laufen würde. Die konstruierte und überzeichnete Bedrohung der eigenen Ethnie durch die anderen ist fest in das politische System im Land eingeschrieben und erstickt damit quasi jeden freien politischen Diskurs.

Eine Sezessionsdrohung ist für Dodik ein politisches Spielchen

Milorad Dodik von der SNSD ist Vertreter der bosnischen Serbinnen und Serben im Staatspräsidium. Auch er steht für so eine Form der Politik. Letzten Winter hat er sogar angekündigt, die Republika Srpska werde sich vom Gesamtstaat abspalten. Wie gefährlich ist so eine Drohung für die Existenz Bosnien-Herzegowinas?

Dodik würde das nicht wirklich umsetzen. Eine Sezession anzukündigen ist für ihn ein politisches Spielchen, mit dem er seine Wählerschaft mobilisiert. Es ist auch nicht seine erste Drohung in diese Richtung. Schon seit über zehn Jahren droht er mit Abspaltung, wenn Wahlen bevorstehen oder es in Sachfragen für ihn schwierig wird. Letzten Dezember stand er zum Beispiel stark in der Kritik für seine Corona-Politik und wegen zahlreicher Skandale. Die Sezessionsdrohung war sicherlich auch eine Reaktion darauf. Es gibt in der Republika Srpska keine große Sympathie für den Gesamtstaat, aber die Bevölkerung stellt auch keine einheitliche Front dar. Auch viele Oppositionsparteien sind gegen eine Sezession. Realpolitisch betrachtet, wäre eine Abspaltung der Republika Srpska überhaupt keine Option.

Warum ist eine Abspaltung der Republika Srpska realpolitisch nicht denkbar?

Es wäre ein direkter territorialer Angriff auf die Souveränität Bosnien-Herzegowinas. Es würde zu Widerständen im Land führen und auch international gäbe es keine Unterstützung. Höchstens Russland und Weißrussland würden eine unabhängige Republika Srpska anerkennen. Aber nicht einmal Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić würde das unterstützen, denn Serbien ist wirtschaftlich zu stark vom Westen abhängig.

Das heißt, der Gesamtstaat steht durch die Sezessionsdrohung nicht in Frage?

Doch, der steht die gesamte Zeit über schon in Frage. Schon seit dem Dayton Abkommen, das das ethnisierte politische System festschreibt. Es gibt eine permanente Blockade politischer Prozesse und dadurch eine permanente Krisenstimmung. Auch, wenn es keine Abspaltung gibt - Wenn sich in einem Staat nichts mehr bewegt, sind der Staat und die Gesellschaft gefährdet. Die Verwaltung leidet, Prozesse werden angehalten und zurückgeworfen. Ein Staat kann so nicht funktionieren. Es muss also nicht unbedingt etwas explodieren, damit es gefährlich wird.

Die Verfassung sollte bürgerorientiert sein

Was müsste sich nach der Wahl also ändern, damit der Staat besser funktioniert?
 

Die Verfassung müsste geändert werden. Sie sollte bürgerorientiert sein. Durch die Art, wie die ethnische Frage aktuell in der Daytoner Verfassung festgeschrieben ist, können normale Staatsbürgerinnen und -bürger keine politischen Subjekte sein. Menschen- und Bürgerrechte werden durch die starken Gruppenrechte verdrängt. In mehreren Urteilen des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist auch schon festgehalten, dass die bosnische Verfassung diskriminiert und, dass das repariert werden soll.

Warum wurde die Verfassung noch nicht geändert?

Die ethnopolitischen Parteien haben einfach kein Interesse daran, diese Urteile umzusetzen. Das würde gegen den Kern ihrer Politik ankämpfen. Denn sie profitieren ja von dem ethnisierten politischen System.

Zuletzt gab es unter anderem von der kroatisch-nationalistischen HDZ Vorschläge zur Änderung des Wahlrechts. Würden die geforderten Reformen dafür sorgen, dass das Wahlrecht weniger diskriminierend ist?

Nein, der Vorschlag der HDZ widerspricht den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der Vorschlag zielt allein darauf ab, die Macht der HDZ zu stärken.

Christian Schmidt hat vermutlich viel Druck bekommen

Trotzdem hat Christian Schmidt, CSU Mitglied und aktuell Hoher Repräsentant in Bosnien-Herzegowina, die Wahlrechtsreform der HDZ zunächst unterstützt, auch wenn er sich letztendlich doch dagegen entschieden hat, die Reform umzusetzen. Warum hat er sich so positioniert, obwohl sein Auftrag doch eigentlich ist, für eine friedliche Entwicklung des Landes zu sorgen?

Die bosnische HDZ hat einen starken Einfluss auf internationale Vertreterinnen und Vertreter, weil sie die Schwesterpartei der kroatischen HDZ ist. Die Verbindungen zu dieser Schwesterpartei sind sehr stark. In Kroatien ist das die Partei, die die Regierung stellt. Deshalb hat sich Kroatien in der EU und bei einzelnen Mitgliedstaaten für die Wahlreform, die die bosnischen HDZ vorschlägt, stark gemacht. Als EU-Mitglied hat Kroatien Zugang zu vielen Institutionen und ist auch Teil der Europäischen Volkspartei. Genau wie die CDU / CSU, zu der ja auch Christian Schmidt gehört. Er hat vermutlich viel Druck von der HDZ bekommen.

Die Bürgerinitiativen thematisieren die relevanten Fragen – jenseits der ethnischen Frage

Diesen Druck haben wohl auch andere Vertreterinnen und Vertreter, zum Beispiel von der EU und den USA gespürt. Angelina Eichhorst vom Europäischen Auswärtigen Dienst und der US-Beauftragte Matthew Palmer begleiten einen Prozess zur Änderung des Wahlrechts. Auch sie haben den Vorschlägen der HDZ zur Wahlrechtsreform viel Raum gegeben. Eigentlich wollte sich die internationale Gemeinschaft aber dafür einsetzen, dass die Urteile des Straßburger Gerichtshofs umgesetzt werden und sich das Land demokratisch entwickelt.
Wie sollte sich die internationale Gemeinschaft also stattdessen verhalten, um eine progressive Entwicklung in Bosnien-Herzegowina zu unterstützen?

Die internationale Staatengemeinschaft sollte den Staat Bosnien-Herzegowina nicht weiter auf die drei ethnischen Parteien reduzieren und die politische Arena breiter betrachten. Es gibt ja neben den Parteien, die nationalistisch agieren, auch noch mehr Parteien in Bosnien-Herzegowina. Mit denen sollte die EU neue Allianzen bilden. Außerdem ist das politische Leben nicht nur auf Parteien reduziert. Es gibt eine immer stärker werdende Zivilgesellschaft, die sich politisch beteiligen will. Es gibt kleine Gemeinden und Bürgervereinigungen, die immer wieder gegen Missstände aufstehen. Die mobilisieren zum Beispiel zum Umweltschutz, zur Verteidigung des öffentlichen Raumes und gegen Korruption. Diese bürgerzentrierten Initiativen thematisieren wirklich die relevanten Sachfragen und argumentieren jenseits der ethnischen Frage. Diese Kräfte werden viel zu wenig seitens der EU und der internationalen Gemeinschaft gesehen, anerkannt und gefördert.

Wie könnte die EU diese demokratischen Kräfte denn mehr fördern?

Sie sollte die Meinung der Bürgerinnen und Bürger mehr berücksichtigen. Ein guter Ansatz war das Projekt der Bürgerräte, das auch von der EU finanziert wurde. In diesem Projekt wurden Anfang des Jahres Bürgerversammlungen abgehalten. Sie waren repräsentativ besetzt, haben also die demographische Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung widergespiegelt. Diese Versammlungen haben in Begleitung von Expertinnen und Experten Vorschläge dazu erarbeitet, wie sich das Land weiterentwickeln sollte. Das war ein wirklich gutes Projekt, aber die Vorschläge, die erarbeitet wurden, wurden bisher kaum berücksichtigt.

Der EU-Beitritt wäre eine Vision für die Zukunft

Welche Maßnahmen könnte die EU davon abgesehen außenpolitisch umsetzen?

Sie sollte sich stärker gegen die nationalistischen Kräfte in Bosnien-Herzegowina engagieren. Milorad Dodik hat letzte Woche, also kurz vor den Wahlen, Wladimir Putin getroffen. Bei so einem Verhalten könnte man stärker Sanktionen einsetzen. Bisher gibt es nur britische und amerikanische Sanktionen gegenüber der Republika Srpska. Von der EU gibt es keine, aber der Westen muss hier eine rote Linie ziehen. Auch, weil der russische Einfluss in der Republika Srpska sehr stark ist. Auch Desinformationskampagnen, die vom russischen Staat mitgetragen werden, können in der Republika Srpska eine starke Wirkung entfalten. All das sollte man in der europäischen Nachbarschaft eigentlich nicht zulassen.

Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union Mitte des Monats gesagt, dass die Menschen des westlichen Balkans zur europäischen Familie gehören. Diese Haltung scheint sich in Bezug auf Bosnien-Herzegowina nicht im Handeln der EU widerzuspiegeln. Wie kann sich das ändern?

Die EU muss entscheiden, wie es mit dem Erweiterungsprozess weitergeht. Bei den letzten Entscheidungen um Ukraine und Moldawien wurde Bosnien-Herzegowina kein Kandidatenstatus gegeben. Den sollte das Land aber bald bekommen. Dann sollte die EU gemeinsam mit progressiven Kräften im Land Reformen für einen Beitritt entwickeln. Bisher gibt es keine konkreten Schritte in Richtung EU-Beitritt. Das macht die Menschen müde. Die Integration in die EU ist eine Vision für die Zukunft Bosnien-Herzegowinas. Diese Vision ist wirklich wichtig für die Menschen in Bosnien-Herzegowina. Denn eine Gesellschaft ohne Vision für die Zukunft kann nicht richtig existieren, sondern nur dahin vegetieren.


Vedran Džihić ist Politikwissenschaftler am österreichischen Institut für internationale Politik (oiip) und lehrt an der Universität Wien. Er forscht unter anderem zu Demokratietheorie und Nationalismus. Dabei beschäftigt er sich vor allem mit Südosteuropa.

Autorin: Die Journalistin Marie Gogoll, studiert Journalistik in Dortmund, schreibt als Freie Journalistin u.a. für die taz.