Türkische Außenpolitik: Die Zeit ist reif für besonnene Töne

Recep Tayyip Erdoğan, türkischer Politiker. Bild: Serdar. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

Von Ulrike Dufner

15. Juni 2010
Ein kritischer Blick auf die türkische Außenpolitik von Ulrike Dufner
Mit Entsetzen reagierte die internationale Öffentlichkeit darauf, wie die israelische Regierung auf die Provokation des Hilfskonvois, organisiert von der Organisation IHH reagierte. Schon Tage zuvor war in türkischen Tageszeitungen zu lesen, dass IHH aufs Ganze gehen würde. Dies war auch Israel bekannt. Entsprechend gerechtfertigt ist es zu fragen, ob die israelische Regierung keinen anderen Weg hätte finden können, mit der Provokation umzugehen, als den beschrittenen, der neun Menschen das Leben kostete.

Die türkische Regierung und mehr oder weniger unisono die türkische Presse reagierten mit scharfer und heftiger Kritik auf das Vorgehen Israels. Man forderte, die Blockade über Gaza aufzuheben und eine internationale Untersuchung der Vorkommnisse auf dem Schiff von Marmara Net. Die Reaktionen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan kippten zunehmend in eine anti-israelische und bisweilen anti-semitische Haltung. So überschritt er die Grenze des Tolerablen, als er in einer Rede das Gebot „Du sollst nicht töten“ in türkischer, englischer und hebräischer Sprache zitierte.

IHH ist bekannt dafür, der internationalen „Milli Görüs“-Bewegung nahezustehen. Ein Blick auf die Liste der Journalisten aus der Türkei, die auf dem IHH-Schiff waren, spricht ebenso Bände. Mehrheitlich waren Journalisten der Tageszeitung Vakit anwesend, die nun nicht gerade für seriösen Journalismus sondern für ein Gemisch aus anti-westlicher, nationalistisch-islamistischer Propaganda und für den Inbegriff an Verschwörungstheorien jedweder Art bekannt ist.

So berechtigt die Empörung über das Vorgehen der israelischen Regierung und so verständlich das Entsetzen über den Tod von neuen Landsleuten ist, die durchweg einseitige Bewertung der gesamten Gemengelage in der Medienlandschaft der Türkei ist erschreckend. Grundsätzlich herrscht Einigkeit, dass die Menschen auf dem internationalen Hilfsschiff schutzlos dem israelischen Militär ausgesetzt waren; dass endlich die Blockade über Gaza aufgehoben werden muss und dass diese Aktion es vermocht habe, Israel aufgrund seiner Politik gegenüber Gaza vor den internationalen Pranger zu stellen. Was die internationale Staatengemeinschaft nicht vermochte, habe diese Aktion ermöglicht: Man habe Israel die Stirn geboten, Israel habe „sein wahres Gesicht“ zeigen müssen.

Nationaler Konsens in türkischer Außenpolitik

Nunmehr auftauchende Argumente, IHH stehe in Verbindung zu dem internationalen islamischen Terrorismus, werden als Teil einer Rechtfertigungsstrategie von Israel und seinen Verbündeten weggewischt. Schließlich waren auf dem Schiff nicht nur IHH-Anhänger sondern viele Unschuldige auch aus vielen anderen Ländern, die auf die Notlage der Menschen in Gaza hinweisen wollten.

Mit keinem Wort wurde auf die Verantwortungslosigkeit von IHH eingegangen, die keinen Zweifel daran ließ, es auf eine Konfrontation mit Israel – koste es was es wolle – angelegt zu haben. Es ist erlaubt zu behaupten, dass IHH zugunsten dieser Aktion die Sicherheit der Menschen auf dem Schiff riskiert hatte.

Ebenso hat die ansonsten auf religiöse Motive oder islamistische Strömungen so sensibel reagierende kemalistische Presse keinen Grund darin gesehen, die Organisation IHH kritischer unter die Lupe zu nehmen. Damit hätte man das so einfache schwarz-weiß Bild mit Grautönen versehen müssen und wäre von einfachen Schemata abgewichen. Auch hätte von diesen Kemalisten längst schon laute Kritik an der populistischen Argumentation Erdogans aufkommen müssen, wo doch zunehmend religiöse Elemente im außenpolitischen Diskurs benutzt werden. Oder wie soll man es verstehen, wenn Premierminister Erdogan „Du sollst nicht töten“ aus der Tora zitiert? Längst schon hätte der ins anti-semitische kippende Diskurs scharf kritisiert werden müssen. Stattdessen aber gibt es Zustimmung auf nahezu allen Seiten. Allenfalls wird davor gewarnt, man solle den Bogen nicht zu sehr überspannen.

Eines ist festzuhalten: in Bezug auf die türkische Außenpolitik gibt es einen breiten Konsens in der Gesellschaft der Türkei. In dieser Frage ist die Gesellschaft nicht in „Kemalisten“ und „AKP-Anhänger“ gespalten. Verbindendes Element ist hier ein Gemisch aus historisch überkommenem Denken vom Anti-Imperialismus und Ruf nach nationaler Unabhängigkeit der Linken bis hin zu einem „Third Worldism“ der religiös geprägten Kreise mit einschließt.

Türkei auf der Suche nach ihrem Platz in einer zukünftigen neuen Welt-Ordnung

Die harsche türkische Reaktion und auch der nahezu nationale Konsens dazu haben internationales Aufhorchen ausgelöst. Ministerpräsident Erdogan sprach von israelischem Terrorismus und bezweifelte öffentlich, ob Hamas eine Terrororganisation sei. Man fragt sich daher zunehmend berechtigt, wohin die türkische Außenpolitik driftet. Handelt es sich um eine, so vielfach befürchtete, Abwendung vom Westen hin zu einer neuen Orientierung in Richtung „Orient“? Gibt es tatsächlich den „Neo-Osmanismus“, wie von einigen Kritikern bereits seit längerem beschrieben? Oder handelt es sich um plumpen Stimmenfang im eigenen Land gepaart mit übersprießendem Machtstrotze?

Nun, dass die Haltung des türkischen Ministerpräsidenten nicht mehr viel mit der von Außenminister Davutoglu beschworenen „zero problems“ oder „strategic depth“ zu tun haben kann, dürfte auf der Hand liegen. Mit dem harschen Vorgehen gegen Israel dürfte die Türkei zunehmend auch ihre Karte als Vermittler zwischen den Konfliktparteien im Nahost-Konflikt verspielt haben. Denn, auch wenn Erdogan die Herzen auf den Strassen der arabischen Länder gewonnen haben dürfte und insgeheim zum neuen Held im Nahen Osten aufgestiegen sein dürfte. Die Regierungen im Nahen und Mittleren Osten dürften durchaus mit der Politik des türkischen Premierministers ihre Probleme haben. Sie mögen sich genötigt fühlen, nun nachzulegen und ebenso die Isolation von Gaza zu kritisieren. Aber die Verhältnisse im Nahen Osten sind durchaus diffiziler, als sie auf diese vereinfachte Politik zu reduzieren.

Auch wenn die zunehmend israelisch-türkische Konfrontation hierzulande durchaus Stirnrunzeln auslöst, so gehen doch viele Intellektuelle konform mit der türkischen Außenpolitik. Die neue außenpolitische Orientierung unter Außenminister Davutoglu wird unisono gerühmt: man orientiere sich an nationalen Interessen. Man betreibe eine Außenpolitik, die in jedem einzelnen Fall nationale wirtschaftliche, regional- und sicherheitspolitische Interessen in Rechnung ziehe.

In gewisser Weise wird von der Errichtung einer neuen internationalen Weltordnung gesprochen, in der die Türkei eine führende Rolle einnehmen werde. Auch Egemen Bagis, Minister für Europafragen, betont, dass die Zeit des Ost-West-Gegensatzes vorbei sei. Es gehe darum, wer auf internationaler Ebene dazu in der Lage sei, internationales Recht durchzusetzen.

Man reagiert fast schon allergisch auf die allseits gestellte Frage, ob sich die Türkei vom Westen abwende. Derartige Fragen entspringen dem alten Ost-West-Gegensatz, den es heute so nicht mehr gebe. Auf die Frage, ob die Türkei sich mit dem neuen Wirtschaftsrat zwischen Libanon, Syrien und Jordanien von der EU abwende und ob die vereinbarte Visumsfreiheit nicht in Widerspruch zum Schengenabkommen stehe, wird immer wieder darauf verwiesen: solange sich die EU nicht für die Türkei entscheidet, bedarf es keines „vorauseilenden Gehorsams“. Wenn es denn soweit sei, werde eine entsprechende Politik definiert.

Immer wieder wird deutlich gemacht: Nicht wir wollen nicht in die EU, die EU ist unentschieden, ob sie die Türkei aufnehmen will. Wir treiben die Reformen auf dem Weg in die EU weiter.

Unabhängig davon aber wird die Türkei weiter zu einem Machtfaktor in der Region und auf internationaler Ebene in der neuen Weltordnung aufsteigen.

Neue türkische Außenpolitik – viel Lärm um nichts?

Als Argument dafür, dass es nicht um eine Abwendung vom Westen und Hinwendung zum Orient geht, werden auch die vielfältigen außenpolitischen Initiativen der letzten Jahre angeführt. Diese Initiativen richteten sich ja schließlich genauso an Griechenland, Russland, den Südkaukasus und nicht nur gen Nahen und Mittleren Osten.

In der Tat, in den vergangenen eineinhalb Jahren erlebt die internationale und türkische Öffentlichkeit einen Marathon an außenpolitischen Initiativen und historischen „Ereignissen“. In atemberaubender Geschwindigkeit reitet die Türkei von einem vermeintlichen außenpolitischen Erfolg zum nächsten. Man kommt bei der Vielzahl der dabei geschlossenen Abkommen kaum noch hinterher: 25 Abkommen wurden jüngst mit Russland unterzeichnet, 22 mit Griechenland, 50 mit Syrien und zuguterletzt nun das Abkommen zwischen der Türkei, Jordanien, Syrien und dem Libanon über enge Kooperationen auf dem Gebiet Handel, Landwirtschaft, Gesundheit, Energie und Zoll.

Versucht man allerdings, ein wenig Licht in die Vielzahl dieser Abkommen zu bringen, scheitert man. Von den zwischen Russland und der Türkei vermeintlich unterschriebenen 25 Abkommen ist zumindest auf den offiziellen Seiten des Außenministeriums oder anderer Ministerien lediglich das Abkommen über gegenseitige Visumsfreiheit zu finden. Es deutet manches darauf hin, dass das Wort Abkommen etwas zu hoch gegriffen und möglicherweise eher das Wort Absichtserklärungen zutreffend ist.

Insgesamt scheint der Wunsch nach einer regionalen Macht in einen nahezu überstürzten Aktionismus umzuschlagen, wobei die Regierung selbst das Augenmaß und die Übersicht verliert und zunehmend zu chaotisieren scheint.

Auch bezüglich der Iran-Initiative Brasiliens und der Türkei argumentieren einige Autoren in eine ähnliche Richtung. Die Türkei sei sich mit der westlichen Staatengemeinschaft einig darin, dass der Iran nicht über Nuklearwaffen verfügen darf. Dies liege auch nicht im regionalen sicherheitspolitischen Interesse der Türkei. Allerdings sei die Türkei davon überzeugt, dass auch weiterhin der Verhandlungsweg vor Sanktionen oder gar militärischen Optionen zu suchen sei. Die Türkei habe mit dem Abkommen letztlich einen Vorschlag der IAEA aus dem Vorjahr aufgegriffen. Ob das Abstimmungsverhalten der Türkei im UN Sicherheitsrat wirklich im Sinne türkischer Interessen war, wird sehr wohl hinterfragt.

Darin zeige sich, ähnlich wie bei den populistischen Entgleisungen Erdogans in Sachen Mavi Marmara, dass das Paar Erdogan-Davutoglu vor lauter Eifer den Wald vor lauter Bäumen aus den Augen zu verlieren. Der Wald sei aber tatsächlich gute Beziehungen zu den Nachbarstaaten wie zu den westlichen Verbündeten.

Ob innenpolitisch motiviert oder aus strotzendem Machtgefühl, die Türkei kann es sich nicht leisten, seine Verbündeten weiter zu irritieren. Auch als Regionalmacht muss sie eine kühle und abgewogene Außenpolitik definieren, die für die Partner kalkulierbar bleibt. Nur langsam werden vereinzelte Stimmen laut, welche die türkische Regierung zur Zurückhaltung auffordern.

Dr. Ulrike Dufner ist Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.