Was heißt nachhaltiges Wachstum?

Dem Fortschritt eine Richtung geben #3. Bericht zum Seminar am 24.Februar 2011. Die "Grenzen des Wachstums" sind spätestens seit der Veröffentlichung der gleichnamigen Studie des "Club of Rome" im Jahr 1972 zu einem geläufigen Begriff geworden. Im dem dritten Seminar aus der Veranstaltungsreihe "Dem Fortschritt eine Richtung geben" wurde mit Vertretern aus der Politik und Experten darüber diskutiert, was nachhaltiges Wachstum bedeuten könnte. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Wirtschaft & Finanzen.

 

Die "Grenzen des Wachstums" sind spätestens seit der Veröffentlichung der gleichnamigen Studie des "Club of Rome" im Jahr 1972 zu einem geläufigen Begriff geworden. Die Vorstellung, dass der Zunahme der Weltbevölkerung, der globalen Umweltverschmutzung und dem ungebremsten Verbrauch endlicher Ressourcen absolute Grenzen gesetzt sind, hat in den letzten Jahren immer neue Anhänger gefunden. In der Vergangenheit beschränkte sich die Wachstumskritik allerdings weitgehend auf grüne Organisationen, akademische Kreise und den ökologisch sensibilisierten Teil der Bevölkerung. Haben sichtbare Klimaveränderungen und globale Finanzkrisen neue Zweifel am bisherigen Wachstumsmodell gesät? Dies wäre zumindest eine mögliche Erklärung für die Bereitschaft von CDU/CSU und FDP, der Initiative der SPD und der Grünen im Bundestag zu folgen und die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" einzusetzen, in der Vertreter aller Fraktionen unter Beteiligung externer Sachverständiger über "Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" diskutieren.

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Das neue parlamentarische Interesse am Thema Wachstumsgrenzen wurde in der dritten Ausgabe der Seminarreihe "Dem Fortschritt eine Richtung geben" aufgegriffen, zu der die "Grüne Akademie" der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Think-Tank "Das Progressive Zentrum" am 24. Februar 2011 geladen hatte. In Anlehnung an die Besetzung der Enquete-Kommission waren die beiden Podien des Nachmittags mit jeweils einem Vertreter aus Wissenschaft, SPD und Grünen besetzt. In offener Debatte mit geladenen Seminarteilnehmern sollten programmatische Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen beiden Fraktionen ausgelotet werden. Das Fazit: Um eine gemeinsame umwelt- und wirtschaftspolitische Strategie für die Bundestagswahl 2013 formulieren zu können, werden wohl noch weitere Treffen nötig sein.

Nullwachstum oder "grünes" Wachstum?

Die bekannten Gründe für die Zweifel am aktuellen globalen Wachstumsmodell wurden durch Prof. Miranda Schreurs, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, bekräftigt. Die Expertin für Umweltpolitik erläuterte anhand prägnanter Beispiele, dass die ökologische Belastung in mehreren Bereichen auf qualitative Umschlagpunkte ("tipping points") zusteuere, deren Folgen bisher nicht abzuschätzen seien. So sei z.B. der drohende Kollaps der Fischbestände nicht nur ein verheerender Biodiversitätsverlust, er werde auch unabsehbare Rückwirkungen auf die globale Ernährungssituation haben. Ähnlich komplexe Zusammenhänge müssten bei der weiteren Abholzung der Regenwälder und der weltweiten Ausbreitung landwirtschaftlicher  Monokulturen beachtet werden. Viele seltene Rohstoffe würden heute verbraucht, ohne dass genaue Zahlen über die Effektivität der Nutzung und das Ausmaß von Verschwendung vorliegen. Nicht selten vergrößerten umweltpolitische Entlastungversuche in der Praxis den ökologischen "Fußabdruck" der Menschheit noch.

All diese Sachverhalte seien im Prinzip seit langem bekannt, so Prof. Schreurs. In der Diskussion der Frage, wie die Menschheit ökologisch verantwortungsvoll gegensteuern könne, stünden sich heute generell zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite überwiege eine generelle Skepsis gegenüber einem unbegrenzten Wachstum. Tatsächlich haben bereits die Autoren der "Club of Rome"-Studie das Ziel eines wirtschaftlichen und ökologischen Gleichgewichtszustandes ausgerufen. Sie zweifelten daran, dass die negativen Folgen des wirtschaftlichen Fortschritts dauerhaft durch technologische Innovation neutralisiert werden können. Im zweiten Lager besteht dagegen die Überzeugung, dass ein Umlenken des kapitalistischen Innovationspotentials in nachhaltige Bahnen möglich ist. Durch Effizienzsteigerungen und eine konsequente Umstellung auf den Verbrauch regenerativer Ressourcen könne demnach auch weiterhin stetiges Wachstum generiert werden.

Die beiden "Glaubensrichtungen" trafen in Ansätzen auch im weiteren Verlauf des Seminars aufeinander. Überraschenderweise war es ein Vertreter der SPD-Bundestagsfraktion, der grundsätzliche Zweifel am Wachstum artikulierte. Der bisherige exponentielle Zuwachs werde schon aus rein mathematischen Gründen an Grenzen stoßen, da stetige Wachstumsraten immer größere Innovationschübe und einen zunehmenden absoluten Ressourcenverbrauch voraussetzen. Die Vorstellung einer völligen Umstellung der Wirtschaft auf den Verbrauch regenerativer Rohstoffe sei unrealistisch und übersehe, dass auch die Wertschöpfungsketten ökologisch innovativer Unternehmen von traditionellen Industriebereichen abhängen. So lasse sich ökologischer Fortschritt nicht selten nur auf dem Papier realisieren, indem z.B. die ökologischen Kosten der Stahlproduktion, die bei der Herstellung von Windrädern anfallen, unberücksichtigt bleiben. Auch die SPD habe diese Zusammenhänge nicht immer ausreichend berücksichtig, beispielsweise als sie sich trotz ausdrücklicher Bedenken von Umweltexperten für die Förderung von Biokraftstoffen eingesetzt habe.

Die in der Diskussion angesprochene Differenzierung zwischen einem materiellen quantitativem und einem qualitativem Wachstum, das immaterielle Güter und Dienstleistungen berücksichtigt, lehnte der SPD-Abgeordnete ab. Neben grundsätzlichen Berechnungsproblemen seien beide Varianten in der Praxis kaum sinnvoll zu trennen. Auch die immer wieder geforderten Effizienzsteigerungen beim Rohstoffverbrauch seien nur bis zu einem bestimmten Grad wirksam und würden das grundsätzliche Problem nicht lösen. Deshalb müsse zumindest in den entwickelten Ländern die Frage erlaubt sein, ob sich unnötige "Wachstumszwänge" identifizieren und abstellen ließen. Nur so ließen sich unsere Finanz- und Sozialsysteme auch mit niedrigen Wachstumsraten dauerhaft aufrechterhalten.

Diese in den Raum geworfene grundlegende Wachstumskritik stieß erwartungsgemäß nicht nur auf Zustimmung. Ein Seminargast erinnerte daran, dass die letzte Phase eines faktischen Nullwachstums in Deutschland bekämpft worden sei, indem die Agenda 2010 beschlossen und ein breiter Niedriglohnsektor eingeführt wurde. Ein Vertreter der Böll-Stiftung verteidigte den "grünen Kapitalismus" gegen vage Gegenkonzepte, die kapitalistisches Wachstum grundsätzlich in Frage stellen. Eine "steady state economy" (Gleichgewichtswirtschaft) sei nicht in der Lage, den heutigen Lebensstandard zu sichern und würde deshalb vor allem politische Instabilität zur Folge haben. Außerdem könne sich der Westen nicht einfach aus den internationalen Produktionszusammenhängen ausklinken. Die Nachfrage nach materiellem Wohlstand werde anhalten und durch die globale demographische Entwicklung weiter an Fahrt gewinnen.

Um Wohlstand zu erhalten und Armut zu verhindern bzw. zu beseitigen, führe also nichts an wirtschaftlichem Wachstum vorbei, so diese Position. Vorgeschlagen wurde das Konzept, eine ökologische Umlenkung von Wachstum in zwei Phasen herbeizuführen. In der ersten Phase werde es angesichts des drohenden Klimawandels vor allem darum gehen, mehr Zeit zu gewinnen. Deshalb müsse zu Beginn die Steigerung der Effizienz bestehender Wirtschaftskreisläufe im Zentrum der Bemühungen stehen. Zum ersten Mal in der industriellen Geschichte der Menschheit werde die Ressourcenproduktivität schneller wachsen müssen als die Arbeitsproduktivität. Die Regulierung der Wirtschaft durch einen aktiven Staat soll einen "ökologischen Korridor" schaffen, innerhalb dessen die kapitalistischen Innovationsprozesse und Marktmechanismen ihre positive Wirkung entfalten können. Vorschläge für eine derartige Regulierung gibt es bereits, ob es sich nun um den Ausbau des Emissionshandels, eine verstärkte Einpreisung ökologischer Kosten oder die gezielte finanzpolitische Belastung des Ressourcenverbrauchs handelt.

Die in dieser ersten Phase gewonnene Zeit soll schließlich dazu genutzt werden, die völlige Umstellung der Wirtschaft auf die Nutzung regenerativer Rohstoffe und eine hoffentlich realisierbare Regeneration der "verbrauchten" Welt einzuleiten. In dieser zweiten Phase der ökologischen Transformation würden nicht nur wegweisende Technologien, sondern auch ein neues Denken und neue Wertvorstellungen nötig werden, um z.B. innovative Wohn- und Mobilitätskonzepte umzusetzen.

Kein Wachstum ohne soziale Gerechtigkeit

In einem Punkt waren sich nahezu alle Seminarteilnehmer/innen einig: Materielles Wachstum darf nicht länger als Selbstzweck verstanden werden, sondern muss viel stärker im Kontext von Lebensqualität und sozialem Ausgleich bewertet werden. Bereits heute spürt ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung die Entkoppelung zwischen den Wohlstands- und Innovationsversprechen der Wirtschaft und ihrer tagtäglichen Lebensrealität.

Aus der zunehmenden Diskrepanz zwischen Wachstumsversprechen und gesellschaftlicher Realität kann der Schluss gezogen werden, dass die Lebenswelt künftig in das Zentrum wirtschaftlicher Innovationsmuster gestellt werden müsse. Eine Öffnung kreativer Entwicklungsprozesse z.B. nach dem Vorbild der Open Source-Bewegung oder der Programmierung von Apple-Applikationen  kann demnach das Potential und die Bedürfnisse größerer Teile der Bevölkerung einbeziehen und im Ergebnis wieder zu tatsächlichen Verbesserungen der Lebensqualität führen. Um Lebensqualität weiter von einem rein materiellen Wachstum zu lösen, dürfte  außerdem ein Wertewandel nötig sein. Die heute zu beobachtende stetige Beschleunigung aller Lebensbereiche bringt nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische und soziale Nachteile mit sich. Eine neue Einfachheit der Lebensweise, so diese These, sollte deshalb künftig als Gewinn und nicht etwa als Verzicht vermittelt werden.

Überlegungen zur Beteiligung der Bevölkerung an kreativen Innovationsprozessen, zur Einschränkung des Überkonsums und einer Entschleunigung des modernen Lebens präsentierte insbesondere Prof. Uwe Schneidewind vom Wuppertal-Institut. Seine Vorstellungen wurden in der Seminardiskussion schnell als "elitär" kritisiert. Einige Teilnehmer/innen erinnerten daran, dass die größten globalen Herausforderungen der Zukunft die Versorgung mit Basisgütern wie Nahrung und Wasser und damit vor allem die ärmeren Bevölkerungsgruppen betreffen werden. Viele sozial Benachteiligte hätten auch in Deutschland weder Zeit noch Geld, um sich an kreativer Innovation zu beteiligen. Ein SPD-Vertreter bestand darauf, dass die Definition von "gutem Leben" auch künftig nicht nur durch Autonomie und schöpferische Selbstverwirklichung, sondern durch Teilhabe an der Arbeitswelt und an gesellschaftlichen Konsummöglichkeiten geprägt sein werde. Damit war eine zentrale Kontroverse herausgearbeitet: Kann es gelingen, Wachstum künftig ausschließlich unter der Prämisse der Nachhaltigkeit zu definieren, wenn dabei zugleich berücksichtigt werden muss, dass „Wohlstand für alle“ und sozialer Ausgleich geschafft und erhalten bleiben müssen? Hier zeigte sich ein weites Feld für offenen Gesprächs- und Diskussionsbedarf, wie die Umsetzung von nachhaltigen Wachstumsszenarien realiter gestaltet werden kann.

Rot-grüne Kooperation ist nicht selbstverständlich

Neben der angeregten Diskussion über Wachstumsgrenzen ging es während des Seminars auch darum, die Möglichkeiten einer künftigen rot-grünen Kooperation zur politischen Durchsetzung der angestrebten ökologischen Transformation auszuloten. Dass eine solche Kooperation nötig ist, hat die bisherige Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestages offenbar eindrücklich bestätigt. Erste Eindrücke wurden allerdings als "leider ernüchternd" beschrieben. Die Mitglieder aller Fraktionen haben sich in ihren ersten gemeinsamen Erklärungen zwar auf einige positiv besetzte Kernbegriffe wie Nachhaltigkeit und Fortschritt einigen können. Spätestens bei der oft diametral entgegengesetzten Interpretation dieser Begriffe taten sich allerdings tiefe parteipolitische Gräben auf. Viele Mitglieder der anderen Parteien seien offenbar immer noch nicht von der Dringlichkeit der Sachlage überzeugt.

Aus sozialdemokratischer Sicht wurde diese Wahrnehmung bestätigt. Der Schock der Finanzkrise sei offensichtlich nicht groß genug gewesen, um das Staatsverständnis der Regierungsfraktionen zu erschüttern und sie von der Notwendigkeit einer effektiven Re-Regulierung der Wirtschaft zu überzeugen. Die Arbeit der Kommission sei trotzdem wichtig, da es sich schließlich nicht um eine "rot-grüne Speerspitze" handele, sondern um den Versuch, programmatische Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Fraktionen herauszuarbeiten. Und die gebe es nach wie vor auch zwischen Teilen der SPD und der Grünen, so z.B. in der Deutung von Industriegesellschaft, Konsum und Arbeitswelt.

Konkrete Aussagen zu künftigen politischen Allianzen blieben während des Seminars wohl auch aufgrund dieser bestehenden Differenzen Mangelware. Dafür wurden aber einige Gemeinsamkeiten in der strategischen Herangehensweise herausgearbeitet. So stimmten alle Teilnehmer darin überein, dass die Zeit der politischen Instrumentalisierung von  ökologischen Horror-Szenarien und Angstdebatten vorbei sei. Dies sei zum einen vernünftig, weil die sichtbaren Folgen der Umweltkrise in den nächsten 15 Jahren aller Voraussicht nach nicht genügend politische Sprengkraft entwickeln werden. Zum andern sollte es dem politischen Gegner nicht ermöglicht werden, die Befürworter eines ökologischen Wandels als "Dagegen-Partei" darzustellen. Vielmehr müsse die offensichtliche Ideenlosigkeit der Regierungsparteien, die in der Bevölkerung sehr wohl gespürt werde, offensiv herausgestellt und genutzt werden, um die eigenen Ideen als politische Alternative anzubieten. Für die Grünen liegt ein solches Konzept in Form des "Green New Deal" bereits auf dem Tisch.