Iran und Israel: Um die Entspannung zu denken, muss man die Spannung verstehen wollen

Naher Osten mit den Konfliktparteien Israel und Iran. Karte: gemeinfrei

20. März 2012
Joscha Schmierer

Im Moment scheint sich alle Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf den Bürgerkrieg in Syrien zu richten. Im Konflikt um die iranische Atompolitik dagegen kommt es zu einem neuen Versuch, in Verhandlungen eine Lösung zu finden. Es ist kaum vorstellbar, dass sie dauerhaft sein könnte. Zu groß ist das Misstrauen. Und die Protagonisten der Auseinandersetzung glauben auch, immer bessere Gründe zu finden, das Misstrauen wachsen zu lassen.

Strebte der Iran tatsächlich eine atomare Bewaffnung an und erreichte er dieses Ziel, erhielte das Non-Proliferations-Regime, wie es im Atomwaffensperrvertrag festgeschrieben ist, einen weiteren Schlag. Die ersten Schläge hat es durch Staaten erhalten, die dem Vertrag gleich gar nicht beitraten, also durch Pakistan und Indien, aber auch durch Israel. Der Iran dagegen hat den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben und ratifiziert. Deshalb ist sein Atomprogramm umstritten. Über Israels Atombewaffnung redet dagegen niemand.

 Jedes Atomprogramm ist ambivalent

Zwischen einer friedlichen Nutzung der Atomenergie und einem vermutlichen Atomrüstungsprogramm gibt es keine chinesische Mauer. Sobald die Fähigkeit ausgebildet ist, eigene Brennstäbe herzustellen oder Brennstäbe wiederaufzubereiten, ist die Tür zur Herstellung von Atomwaffen weit offen. Daher die hohe Bedeutung der Inspektionsrechte für die Internationale Atomenergieagentur (IAEA). Sobald ein Atomprogramm die Anreicherung von Uran einschließt, ist ein Dauerkonflikt angelegt zwischen dem betreffenden Staat und dem Sicherheitsrat als letzter Instanz bei der Umsetzung des Atomwaffensperrvertrages. Keiner seiner Artikel schließt ein Anreicherungsprogramm prinzipiell aus. Wann also wird aus einem Programm der friedlichen Nutzung der Atomenergie ein Atomwaffenprogramm? Der Iran besteht auf seinem Recht, Uran anzureichern, und behauptet gleichzeitig, keine Atombewaffnung anzustreben, ja bezeichnet sie als unislamisch. Aber wer will ihm glauben?

In einer solchen Situation hängt die Beurteilung eines Atomprogramms ganz von der Einschätzung des Staates ab, der es betreibt. Und von der Vollständigkeit der Kontrolle durch die IAEA (International Atomic Energy Agency)

Wird ein Staat für einen „Schurkenstaat“ gehalten, gerät er unter einen Inspektionsdruck, der ihm entwürdigend vorkommen wird. Er muss bei sich selbst einräumen, dass andere ihn aus gutem Grund für einen Schurkenstaat halten. Und indem er den Kontrollansprüchen genügt, wird er das Gefühl haben, sich der Wahrnehmung der anderen zu beugen. Er wird also störrisch bleiben und gerade dadurch das Misstrauen in sein Atomprogramm verstärken. Umgekehrt werden die Kräfte, die ihn als Schurkenstaat verstehen, allenfalls dann einlenken, wenn sie sicher sind, dass er nachweislich auf jedes Programm der Urananreicherung prinzipiell verzichtet. Aber kann man es genau wissen? Einem Schurkenstaat gibt man keine Ruhe, weil er einem keine Ruhe lässt.

Die Ambivalenz jedes Atomprogramms und die Stigmatisierung von Staaten als Schurken lassen nur zwei Lösungen zu: Entweder wird auch ein als friedlich deklariertes Atomprogramm unterbunden oder der Schurkenstaat wird durch einen Regimewechsel gefügig gemacht. Für beide Lösungen wird der Iran nicht zu gewinnen sein.

Warum nimmt er aber all die immer schmerzlicher werdenden Sanktionen in Kauf? Will er unbedingt Atomwaffenmacht werden oder will er sich nicht als Schurkenstaat behandeln lassen? Solange er sich als Schurkenstaat behandelt fühlt, wird er sein Urananreicherungsprogramm im Ungefähren halten wollen und die Kontrolleure zu kontrollieren versuchen.

Überbleibsel der Achse des Bösen

Iran ist das Überbleibsel der „Achse des Bösen“, die die Bush-Administration ausgemacht hatte. Der Irakkrieg wurde als amerikanische Selbstverteidigung gegen vermutete Massenvernichtungswaffen des Irak gerechtfertigt. Es war ein Fehlschlag. Nordkorea machte gar kein Hehl aus seiner Fähigkeit, sich atomar zu bewaffnen. Es hat wohl die Bombe. Seither verhandelt es mal und mal wieder nicht. Aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu China sind der Wahrnehmung eines schrankenlos beanspruchten Selbstverteidigungsrechts der USA enge Grenzen gezogen. Eine Bombardierung Nordkoreas stand zumindest öffentlich nie zur Debatte. Es wurde und wird ein diplomatisches Eindämmungsprogramm gefahren, bei dem die USA, China und Russland mehr oder weniger vertrauensvoll kooperieren.

Irak war ein blutiger und kostspieliger Schlag ins Leere mit eher desaströsen Folgen für das irakische Volk. Gegen Nordkorea wird kein Schlag geplant. Was macht den Konflikt mit dem Iran so eigenartig und gefährlich?

Im Zentrum des Konflikts stehen, Sicherheitsrat und UN hin oder her, Iran und Israel mit ihrer jeweiligen Geschichte und ihren spezifischen Traumata, die man mit Interessen nicht verwechseln sollte. Die Vernichtungsphantasien eines Ahmadinedschad gegen den Staat Israel kennt man. Viele, vor allem Israelis, nehmen sie wörtlich. Gleichzeitig kann der israelische Ministerpräsident Netanjahu den Mund gar nicht voll genug nehmen, um aller Welt und speziell dem Iran mitzuteilen, dass Israel jederzeit in der Lage sein werde, erfolgreich „präemptiv“ loszuschlagen, also schon dann, wenn es eine Selbstverteidigung auf Grund eigener Wahrnehmung und Einschätzung für notwendig hält, egal was das Völkerrecht oder der UN-Sicherheitsrat dazu sagt.

Beide Staaten pflegen ihre eigenen Traumata und machen sich über die Traumata des anderen keine Gedanken. Auch wenn die internationalen Partner und Beobachter der einen oder anderen Seite zuneigen, sollten sie versuchen, die Traumata beider Seiten zu verstehen.

Zweierlei Staatsräson

Israel zieht aus dem Holocaust den Schluss, dass seine Sicherheit grundsätzlich eine qualitative strategische Überlegenheit in der Region verlangt. Deshalb steht seine eigene Atomrüstung nicht zur Debatte. Ohne sich selbst zu den Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag zu verhalten, gibt sich Israel zugleich als Vorkämpfer der Nichtverbreitung von Atomwaffen. Unter Berufung auf Auschwitz erklärte Ministerpräsident Netanjahu vor der Politischen Konferenz des American Israel Public Affairs Commitee (AIPAC) einmal mehr: „Heute haben wir einen eigenen Staat. Und der Zweck des jüdischen Staates ist es, jüdisches Leben zu verteidigen und die jüdische Zukunft zu sichern. Nie wieder werden wir nicht Herr über unser Schicksal und unser Überleben sein. Nie wieder. Deshalb muss Israel immer über die Fähigkeit verfügen, sich selbst zu verteidigen, durch sich selbst, gegen jede Bedrohung.“ Das große Bündnis zwischen Israel und den USA sei hoch zu schätzen, „aber wenn es um Israels Überleben geht, müssen wir immer die Herren unseres Schicksal bleiben.“ Damit wird der strategischen Überlegenheit gegenüber den Nachbarn eine existenzielle Bedeutung verliehen, die sich letzten Endes mit der Erfahrung des Holocaust rechtfertigt, einer Erfahrung, für die keiner der Nachbarn verantwortlich ist.

Der Holocaust ist eine Erfahrung aus Europa, die Erfahrung der von Deutschland geleiteten und betriebenen Vernichtung der europäischen Juden. Die Selbstermächtigung zu einem Recht auf uneingeschränkte Verteidigung, in das niemand hineinzureden hat, zielt aber auf den Nahen Osten, gegenwärtig in erster Linie auf den Iran. Der hat mit dem Holocaust nichts zu tun. Im Gegenteil: er bot entkommenen europäischen Juden Asyl.

Der Iran wiederum zieht aus seinen regionalen Erfahrungen mit dem europäischen Imperialismus und Kolonialismus das Recht, alles zu unternehmen, um sich niemals mehr von oben herab behandeln und schikanieren zu lassen. Als Inbegriff dieser Demütigungen gelten spätestens seit dem Putsch gegen Mossadegh und der Unterstützung der Schahdiktatur die USA. Auch der Iran hat seine Achse des Bösen. An der Seite des großen Satans sieht er den kleinen, Israel als Verbündeten der USA. Auch wenn die iranische Führung behauptet, sie strebe keine Atombewaffnung an und, wie alle amerikanischen Geheimdienste erst jüngst erneut versichert haben, noch keine Entscheidung über den Bau einer Atombombe getroffen hat, ist sie keineswegs bereit, ihr Atomprogramm einer kontinuierlichen und umfassenden internationalen Kontrolle durch die IAEA zu unterstellen. Der prinzipielle Anspruch des Iran zielt auf uneingeschränkte Souveränität und Gleichheit in der Staatenwelt, die ihm lange genug vorenthalten wurden. Israel freilich steht in keiner Verantwortung für Opfergeschichte Irans, die es ja auch gibt.

So treffen mit Israel und Iran historisch begründete und aus unterschiedlichen Erfahrungen gleichermaßen begründbare Prinzipien einer jeweils spezifischen Staatsräson aufeinander: einerseits die Behauptung einer existentiell begründeten strategischen Überlegenheit, einer qualitativen Ungleichheit der Kräfte aus Prinzip, und die Entschlossenheit andererseits, nie mehr underdog zu sein in der Staatenwelt.

Die Nähe zwischen Feinden

Doch neben der unterschiedlichen Staatsräson, gibt es auch viele Gemeinsamkeiten zwischen Israel und Iran als Regionalstaaten. Die größte Gemeinsamkeit ist ihre jeweilige Singularität als jüdischer und schiitischer Staat in einer arabischen und sunnitischen Nachbarschaft. Ihr Umgang mit der gemeinsamen Gefahr einer Isolation schafft einen neuen Gegensatz. Für den Iran versprach seine besonders lautstarke Verbrüderung mit kompromisslosen Strömungen unter den Palästinensern immer die Aussicht, die ideologische Hegemonie über die arabische Straße zu gewinnen. Israel dagegen sieht die Chance, mit einem gegen den Iran gerichteten Kurs Verbündete unter den autoritären arabisch-sunnitischen Regimen vor allem der Golfregion zu gewinnen. Zugleich lenkt es, indem es alle Aufmerksamkeit auf den Konflikt mit dem Iran zu richten versucht, von seiner halsstarrigen Weigerung, den Palästinensern entgegen zu kommen, wirkungsvoll ab. Umgekehrt hat der Iran natürlich großes Interesse, die Spannung zwischen den Palästinensern und Israel zu schüren, um Israel daran zu hindern, alle Kräfte gegen den Iran zu wenden.

Gemeinsam haben Israel und Iran auch die stärker als in der übrigen Region entwickelten zivilgesellschaftliche Strukturen, die sich gegenwärtig verstärkt autoritärer und fundamentalistischer Strömungen und Bewegungen erwehren müssen. Im Iran haben diese Strömungen das Regime auf ihrer Seite, in Israel können sie mit Sympathie und Unterstützung von Teilen der Regierung rechnen. In beiden Staaten haben es die starken liberalen Strömungen gegenwärtig sehr schwer.

Geringe Kenntnis der Gegenseite

Gemeinsam ist beiden Staaten auch die geringe Kenntnis des jeweils anderen Landes. Umso leichter kann das andere Land durch interessierte Politiker verteufelt werden. Die Tiraden Ahmadinedschads fanden im Westen zu Recht ein empörtes Echo. Ein anderes empörendes Beispiel hat Ministerpräsident Netanjahu zum Schluss und Höhepunkt seiner Rede vor dem AIPAC-Kongress geliefert. Es ist fast niemand aufgefallen. Wohl wissend, dass Nachrichten von Angriffen auf Frauen, die den radikal-orthodoxen Gläubigen nicht ins Bild passen, natürlich auch in den USA die Runde machen, verwies Netanjahu auf seine Entschlossenheit, die Demokratie zu verteidigen und vor allem keinerlei Diskriminierung von Frauen zu dulden. Soweit so gut. Dann kam er auf das Purimfest. „Diese Woche werden wir lesen, wie eine Frau die jüdische Geschichte veränderte“, wie vor rund 2500 Jahren „ein persischer Antisemit versuchte, das jüdische Volk zu vernichten“ und wie „eine mutige Frau den Anschlag scheitern ließ – Esther.“

Welches Textbuch Netanjahu da vor Augen haben mag, die Bibel ist es nicht. Der Verweis auf einen „persischen Antisemiten“ ist nicht nur anachronistisch, sondern grob verfälschend. Er zielt darauf, einen Jahrtausende alten, immer schon auf Vernichtung zielenden persischen Antisemitismus zu suggerieren und damit zugleich ein von Ewigkeit her gerechtfertigtes Selbstverteidigungsrecht gegen den Iran zu statuieren. Tatsächlich ist die Geschichte von dem „persischen Antisemiten“ dreist erfunden. Im Buch Esther der Bibel oder in den „Jüdischen Altertümern“ des Josephus Flavius liest sich die Geschichte anders. Durch Einfluss Esthers auf den persischen König, ihren Gemahl, gelang es das Komplott eines nichtpersischen Höflings, der sich im persischen Vielvölkerreich an den Juden rächen wollte, zu vereiteln und einen Gegenschlag der Juden gegen ihre Feinde zu ermöglichen. Eine blutige Geschichte, deren Erfolg in der Bibel Gott höchst selbst zugeschrieben wird.

Netanjahu folgert: „In jeder Generation gibt es welche, die das jüdische Volk vernichten wollen. In dieser Generation sind wir damit gesegnet in einem Zeitalter zu leben, wo es einen jüdischen Staat gibt, der in der Lage ist, das jüdische Volk zu verteidigen.“ Dazu braucht es eigentlich keine geschichtspolitisch verfälschten anti-persischen Tiraden. Man suche und finde Obskurantismus nicht nur auf einer Seite. Oft ist Obskurantismus und grober Schwindel die letzte Gemeinsamkeit unter Feinden.

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.