Demokratiereformen: Handlungsmöglichkeiten auf Länderebene

Viele Anzeichen sprechen dafür, dass eine Vertiefung, Erweiterung, Ergänzung bzw. Stärkung des Nachkriegsmodells repräsentativer Demokratie durch erweiterte Formen demokratischer Beteiligung auf der Tagesordnung steht – in vielen OECD-Ländern wie auch in der Bundesrepublik. Auch wenn viele der demokratischen Herausforderung vor allem auf transnationaler und EU-Ebene bzw. auf Bundesebene anzugehen sind (Klima, Biodiversität, Regulierung der Finanzmärkte, Entschuldung einiger EU-Länder etc.), gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die demokratische Legitimation, Verantwortlichkeit und Leistungsfähigkeit  des Regierens auch im föderalen System zu stärken. Ländern und Kommunen kommt dabei gegenwärtig – angesichts der weitgehenden demokratiepolitischen Ignoranz der gegenwärtigen Bundesregierung - eine treibende Rolle zu.

Dies gilt bislang programmatisch vor allem für die Koalitionsregierungen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Andere Koalitionsregierungen mit grüner Beteiligung könnten hinzukommen. Aber es finden sich auch demokratiepolitisch interessante Ansätze für einzelne Handlungsfelder in anderen Bundesländern (z.B. die Regelungen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern oder die Erfahrungen mit der verpflichtenden Kinder- und Jugendbeteiligung in Schleswig-Holstein).

Im Herbst 2011 hatte die damalige Bundesratspräsidentin Hannelore Kraft nach Bonn eingeladen, um das Thema Demokratiereform im Bundesrat aufzugreifen. Es ist zu erwarten, dass Winfried Kretschmann in seiner Amtszeit diesen Ball im Bundesrat wieder ins Spiel bringt. Es geht dabei zum einen darum, den bundesdeutschen Föderalismus kompetitiv, d.h. als Gelegenheitsstruktur für einen Wettbewerb für mehr Demokratie zu nutzen und benchmarks in Sachen Beteiligungsdemokratie zu setzen. Mit diesem Anspruch ist explizit die Landesregierung in Baden-Württemberg angetreten . Zum anderen geht es für die Parteien in den Regierungskoalitionen sicherlich auch darum, beteiligungsorientierte Landespolitik als Thema der Parteienkonkurrenz zu etablieren.

Mit der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg bietet sich den Grünen erstmals seit ihrem Bestehen die Chance, über einzelne Handlungsfelder hinaus verantwortlich ein landespolitisches Beteiligungskonzept zu entwickeln und umzusetzen. Die für „Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ zuständige Staatsrätin hat zahlreiche Initiativen gestartet, um diese Gelegenheit demokratiepolitisch zu nutzen. Sicherlich bewegen sich einige Ansätze in den besonderen Traditionslinien des Südwestens. Gleichzeitig können sie Anregungen und Standards für eine demokratische Vertiefung der Landespolitik bieten, die es Wert sind, auch in anderen Bundesländern aufgegriffen zu werden. Gegenwärtig spricht einiges dafür, dass dies vor allem eine Option der Bündnisgrünen sein wird. Gute Bürgerbeteiligung könnte – wie die (vermutlich vorübergehenden) Wahlerfolge der „Piraten“ zeigten – zu einem wahlpolitisch relevanten Unterscheidungsmerkmal in der Parteienkonkurrenz werden. Gleichzeitig wertet eine Demokratieoffensive die Länderebene aus Sicht der Bevölkerung politisch auf.

Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen in unterschiedlicher Weise, welche Wege in Sachen Demokratiereform in den Ländern gegangen werden können. Mit der Benennung einer Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, dem Abschied von der „Basta-Politik“ in der grünroten Koalitionsvereinbarung und dem Anspruch, zum Musterland in Sachen Bürgerbeteiligung zu werden, hat die Regierung von Baden-Württemberg hohe Erwartungen geweckt und Maßstäbe vorgegeben. In der Praxis werden vielfältige demokratiepolitische Baustellen aufgemacht, pragmatische Wege gesucht und bewusst auf einen Masterplan verzichtet. Immerhin zeichnen sich in Baden-Württemberg allmählich Konturen einer möglichen Demokratiereform ab.

Mit der Einsetzung einer Enquete-Kommission „Bürgerbeteiligung“ im Landtag geht Rheinland-Pfalz einen anderen, systematisch grundierten Weg. Auch nach der Vorlage eines Zwischenberichts im Sommer 2012 lässt sich allerdings noch nicht ablesen, welche praktischen Schritte die Landesregierung gehen wird. Auf ihrer Habenseite steht immerhin eine in vieler Hinsicht vorbildliche Bürgerbeteiligung bei der Kommunal- und Verwaltungsreform. Gleichzeitig belasten Großprojekte (Nürburgring, Rheinbrücken etc.), die ohne Bürgerbeteiligung vorangetrieben wurden, die Glaubwürdigkeit der Landesregierung. Mit dem Wechsel an der Spitze der Landesregierung könnte ein beteiligungsorientierter Neustart verbunden sein. Dafür bietet die Regierungserklärung von Malu Dreyer einige Anhaltspunkte.

Beide Regierungen - und womöglich in Zukunft weitere wie die neuen Koalitionsregierungen in Kiel  und Hannover – bieten genügend Anlass und Stoff, um sich systematisch vergleichend mit den demokratiepolitischen Optionen auf Länderebene zu beschäftigen. Bislang fehlt es an solchen systematisch vergleichenden und strategisch zugespitzten Darstellungen der beteiligungspolitischen Entwicklungen auf Länderebene.

Nachfolgend kann diese Lücke nicht geschlossen werden. Stattdessen werden mögliche Vergleichsthemen vorgestellt und Eckpunkte für eine landespolitische Reformagenda skizziert. Der Schwerpunkt dieser Skizze liegt auf den bislang beteiligungspolitisch besonders aktiven Bundesländern (Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz). Gute Ansätze in anderen Bundesländern (vor allem in Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung) werden entlang zentraler politischer Themenfelder zusätzlich einbezogen. Im Anhang wird eine aktivierendes Instrument der Beteiligungspolitik näher vorgestellt (Demokratie-Audit) und eine Skizze der kommunalen Handlungsmöglichkeiten angeboten.

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
27. März 2013
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
26
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